»Amerika«, sagt Schenja. Nein, er betet es. Die Andacht und die Wucht, mit der er das Wort auf den Küchentisch hebt, gilt einer rotgelben Soße, die zäh über einen tiefen Teller Pelmeni bröckelt. Die zarten Teigtaschen saufen ab in dem
giftfarbenen Morast. Amerika ebnet ihren feinen Geschmack großzügig ein.
Süßsauersalzig und ultrachilischarf. Elfenbein in Luxus-Jauche. Die Soße
ist eines der bestellten Mitbringsel aus Deutschland. Sie besiegt
vorläufig den Geschmack meiner Gastgeber. Die abgelegten Kleider meiner
erzfeinen Tante Margret bleiben hier noch sehr lange schick, gebe ich mir
zu. Immerhin völlig nagelneu sind die silbrigen Werbeuhren von
Mercedes-Benz. Sozusagen: Amerika. Dafür soll man sich nicht schämen.
Schenja ist 51 und kennt die Welt. Ende der siebziger Jahre war er als
sowjetischer Offizier in der DDR, er diente weiter in Sibirien, bis er in
Afghanistan kämpfen mußte. Amerika hat er seit etwa zehn Jahren nebenbei
aus dem Fernsehen begutachtet, gerade wieder sieht es so glänzend aus wie
die Schimmer-Schlampen vom Melrose Place. »Amerika« ist auch, wenn
Schenjas Auto mal allein durch den Zündschlüssel anspringt, sich die
Familie mit Frau und Tochter einen frischen Satz West-Zahnbürsten gönnt,
die Post noch im Briefkasten ist oder der Lichtschalter im Hausflur es auf
Anhieb tut. In der Ukraine ist immer seltener Amerika. Die reiche
Kornkammer der vermoderten Sowjetunion, das weite, fruchtbare Land vor dem
Garten Krim, schleppt sich in einem wunden Taumel hinter dem hastig
hinkenden Kapitalismus des Westens her. Zwischen der amerikanischen Serie
und der auf ukrainisch gezüchteten Version von »Wer wird Millionär?«
kündigen die Fernsehnachrichten für den kommenden Tag eine nationale
Feierlichkeit an. Es soll, es könnte, es wird vielleicht... sogar warmes
Wasser geben. Aus der Leitung, bis zum April! Dieser Verheißung widmen wir
Wodka. Am nächsten Morgen gurgeln auf dem Herd diverse Wassertöpfe für
Kaffee und ein laues Schöpfbad. Mit dem warmen Leitungswasser hat es nun
doch nicht geklappt, demnächst werden wir noch einmal darauf anstoßen
müssen. Jede Panne birgt die Chance auf eine neue Feier. Tanja, Schenjas
Frau, hat, wie er, keine Arbeit. Aber ein kalter Abwasch braucht eine
lange Weile, wie die Teigtütchen für den Kartoffelbrei. Kochen, Essen,
Trinken, Reden, Rauchen, Spülen und im TV Hollywood: Rum ist ein Tag. Mit
dem Nähen von Handschuhen verdienen sich die beiden ein Zubrot. Die 24
jährige Tochter, studierte Kommunikationstechnikerin, schuckelt Babys aus
besseren Kreisen und bringt davon das meiste Geld mit nach Hause. Noch
zehren sie alle von Schenjas Job im vergangenen Jahr als Bauarbeiter in
Deutschland. Die mitgebrachten Klamotten müssen mindestens die drei
nächsten Winter und etliche Modewellen aushalten. In Deutschland heißt das
wohlhabend. Retro und ist Trend. Der Fahrstuhl knurrt nach unten, ein
empfindlicher Hausbewohner hat auf einem Schild ermahnt, hier nicht zu
pinkeln. Wir halten uns daran. Auf dem Weg zu einem Markt in der
Stadtmitte zeigt Schenja mir einige frische Gebäude. Kirchen und Banken
sind wie Edelsteine in die schmutzig zerfaserte Fassung der Stadt
Iwano-Frankowsk getrieben. Um so mehr schillert der heruntergekommene
Rest.
Vor einer Kirche, die ein nach Kanada ausgewanderter Landsmann spendiert hat, spekulieren mehrere jugendliche Bettler auf Christus. Noch ist der nur die tränende Musik einer Trauerzeremonie. Die meisten Leute verlassen das Haus und behalten ihr Erbarmen bei sich. Ein Priester hat ein paar Worte und Kopeken für die Jungs übrig. Gott macht Feierabend. Um
ein Straßengeviert rumort der Markt. Rote Rüben, Fisch in sämtlichen
Zuständen, Butter, Rahm, Säcke Zucker, Klumpen Mehl, jede Länge
Reißverschlüsse, gleiche Mengen Wodka, Wein und Mineralwasser zu etwa
demselben Preis, Girlanden von Shampoo-Pröbchen, alle Sorten Seife,
bergeweise Sonnenblumenkerne (eine Art landesüblicher Kaugummi), Mars und
Snickers, Schnick und Schnack. Selbst in wilden Gegenden wie den Karpaten
trifft man zivilisierte Überraschungseier und original altdeutsche
Kaffesahnetöpfchen mit Knicköffnung und Aussicht auf Schloß
Neuschwanstein. Aus Einweckgläsern kann man sich angeblich französisches
Parfüm ablitern lassen wie zehn Schritte weiter dicke Milch. Es gibt sogar
eine Spezialstrecke für Heimwerker. Wie in einer Präsentschatulle liegen
eine Fahrradgabel und zwei von Rost und Kalk verknorpelte Abflußrohre in
einem Koffer. Sämtliche der hier angebotenen Kurbeln, Hähne, Gewinde,
Drähte und Buchsen ließen sich möglicherweise zu einem monströsen Nichts
zusammenfügen. Ein verstecktes Symbol des hiesigen Lebensgefüges?
Allerhand ramponierter Krempel wird einfach gegeneinander getauscht und
mit winzigem Preisunterschied in Umlauf gehalten. Die Bordsteinbörse.
Selbst leere Flaschen absolvieren auf diese Weise einen ständigen
Wertewechsel und sorgen für unablässige Geschäftigkeit. Schenjas
zeitweilige Lebenserfahrung mit Deutschland hat ihm einen spitzen Blick
für erhebliche Kleinigkeiten beschert. Er deutet auf einen Turm mit
Kaffeegläsern, welcher vor einer Reklametafel für Nescafé Classic steht.
Mit Neeckafe und Nusscaffe, beide immerhin Classic, kriegt man für
anständig weniger Geld vielleicht eine Halluzination des Echten. Ähnlich
muß es sich mit den Brillenetuis verhalten, die aberwitzige Schreibweisen
von Christian Dior herzeigen. Auf den fremden Schein scheint es unheimlich
anzukommen. Wir kaufen Zigaretten für eine Mark die Schachtel.
»Slawutitsch Turbofilter«. Schenja schwärmt, daß diese ukrainische Sorte
neuerdings bevorzugt von englischen Parlamentariern geraucht würde, was er
einer Zeitung glaubt. Der Turbofilter ist ein Loch. Ein Hauch von Amerika
aus der Ukraine für die andere Welt. Bubka springt längst nicht mehr hoch
genug, die Klitschko-Brüder taugen westwärts auch ganz gut als titanische
Russen, Tschernobyl wacht nur noch zu Jahrestagen aus seinem tückischen
Koma auf und flackert dann diabolisch durch die internationalen
Schlagzeilen. Wer will sonst etwas wissen von diesem gewaltigen Land?
Einigen Freunden schicke ich hübsche Ansichten. Den höchsten
Karpatengipfel gibt's unter Schnee und schillernde Abendsonne in Rubin an
Glitzerkuppeln. Das weltweit gängige Romantikmenü. Am Postgebäude ist über
fünfzig Meter die Selbstbehauptung der Ukraine auflackiert. Die Parole
bellt: »Ein Gott, eine Ukraine, ein Volk!« Da, Da, Da! Am Schalter
herrscht noch die Diktatur der staatlichen Behörde. Die Postbeamtin thront
wie eine mehrstöckige Kremtorte auf ihrem Schemel. Die unbrauchbar
vieldeutige Antwort auf unsere einfache Frage nach dem Porto tropft
unglaublich langsam aus ihr hervor. Die Frau liest nebenbei innig in einer
bunten Zeitschrift und weist uns unwirsch in die nächste Schlange. Warten
ist erste Bürgerpflicht, Teil der Folklore. Auf dem Heimweg sehen wir die
Sonne hinter Dunstschleiern abkratzen, die Kuppeln stehen so duster da wie
die meisten Straßenlaternen. Am nächsten Tag geht es nach Chmelnizki, gen
Osten. Die Stadt ist ein sogenanntes Gebietszentrum und benannt nach dem
berühmtesten Nationalhelden. Hier wohnen Tanjas Schwestern mit ihren
Familien und Schenjas Mutter.
Vor der Tour hocken wir uns im Wohnungsflur hin, klammern die Hände und beschwören eine gute Reise. Das Auto macht gleich nicht mit. Geschoben und dann doch gefahren. Unterwegs über Land fallen mir eine Unzahl halbrohe Häuser auf. Mitunter schmucke Hüllen mit Säulen, Türmchen, Erkern, wuchtigen Balkonen, sämtlich ohne
Fensterscheiben. Etliche sind schon wieder eingekracht. Menschen
nirgendwo. Schenja höhnt, daß viele Leute in den letzten Jahren eines
halbstaatlichen Kapitalismus auf Probe schnell viel Geld gemacht und
gleich wieder verloren haben. Die Goldrauschkadaver bleichen vor sich hin.
Wir rumpeln vorbei an idyllisch anmutenden Dörfern, umkurven Kühe, Gänse
und elend tiefe Schlaglöcher. Warmes Wasser ist auch in Chmelnizki noch
nicht angekommen, aber Abordnungen der ganzen großen Verwandtschaft sind
bei Nina, der ältesten Schwester, versammelt. Auch eine Nichte, Anja, von
der ich nur weiß, daß sie dringend eine bestimmte Sorte Jodtabletten
braucht. In unwirklich kurzer Zeit hext die Familienbrigade ein
raffiniertes Festmahl auf den Tisch. Gebackene, gedünstete, gekochte
Köstlichkeiten aus einfachsten Zutaten. Rote Bete, Kohl, Kartoffeln,
Speck, Knoblauch, Gurken, Rahm. Drei deutsche Fischbüchsen logieren auf
Ehrenplätzen. Eine detaillierte Speiseliste würde mir jetzt zu viele
Zeilen rauben und noch einmal den Verstand. Die stille Nina murmelt sanft
einen Segen herbei, Wodka treibt den Appetit, die Gespräche sammeln den
Tag ein. Dann ist vom Schwager die Rede, der vor einem halben Jahr auf
einer Baustelle in Portugal umkam, als ein Gerüst einstürzte. Dessen junge
Frau und zwei Kinder konnten ihn daheim nur beerdigen, weil ein Verwandter
gute Kontakte zu Regierungsleuten hatte, die irgendwie die Überführung des
Toten abrechnen konnten. Der Schwager hatte alle nötigen Erlaubnisse für
den Job, aber sein Chef hatte keinen seiner Arbeiter versichert. Die
Schmerzen werden kein Geld verdienen. Borschtsch und Wodka lieben sich.
Die Familie schluckt die Traurigkeit für Augenblicke. Anja steckt
verschämt die Jodtabletten weg. Die Wundertüten der vereinten
hilfsbereiten Tanten Deutschlands machen die Runde wieder munter. Margret,
Tina, Ruth und Gisela für Nina, Alla, Tanja, Ljuba, Anja, Lena, Olja...
Dutzende Kopftücher, Blusen, Handtäschchen, Strümpfe wechseln die Welten.
Für nicht Anwesende werden kleine Depots angelegt. Die Männer kriegen
Uhren, Mercedes-Mützen, Taschenrutscher und Zigarillos. Schenja findet
endgültig »Amerika«, Nina summt »Ka-a-ak charascho«, was mir lieber
klingt. Sie hängt mir ein Holzkreuzchen um, damit ich mir um alles weniger
Sorgen machen müsse. Ihr nehme ich das ab. Später tauchen zwei nächste
Nichten auf, 18 und 20 Jahre alt, die unter allen Umständen nach
Deutschland wollen. Noch nicht einmal in Kiew waren sie. Ich finde noch
ein paar Parfümpröbchen für sie und weiß nicht, wie ich ihnen sonst helfen
könnte. Ich schenke mich frei. Tags darauf macht mir der alte Nachbar aus
der Kellerwohnung einen seltsamen Antrag. Ob ich ihm vielleicht Adressen
sehr kranker Menschen in Deutschland beschaffen könne? Im Grunde brauche
er nur deren Fotos und kriege die Leute dann wieder gesund. Speziell zur
Krebsheilung hält er sich begnadet. Er weist sich mit einem in Folie
geschnürten Heiligenbildchen und dem Diplom »Volksheiler der Ukraine« aus.
Den zischenden Worten klackert sein Gebiß nach. Das Kellerfenster erlaubt
nur abgehackte Blicke auf die Füße der Passanten. Man kommt dabei auf
wunderliche Gedanken. Am nächsten Tag mache ich auf dem halben Weg nach
Kiew Station bei einer von Ninas Töchtern in der Kleinstadt Pollonie.
Lenas Mann verdient gut als Mediziner in einer Poliklinik, die Eltern
leben mit ihren zwei Jungs in einem ansehnlichen Mehrfamilienhaus. Hier
wohnt nur die Ärzteschaft. Auf einer großen Wiese mit Apfelbäumen braten
wir Schaschlyk. Nicht weit daneben dünstet in zwei riesigen Erdlöchern der
Hausmüll aus. Vor dem Haus gibt ein Ziehbrunnen Wasser, die Wohnungen
haben nur Abflüsse. In dieser Nacht wird mir ein Patenkind vorherbestimmt.
Die werdende Mutter kenne ich zwei Stunden. Wir singen dem Wodka
hinterher. Ich verschenke leere Plastiktüten. Prächtig ist das alte Kiew.
Die Stadt glitzert mir für ein paar Stunden die Bescheidenheiten der
letzten Tage weg. Eine Freundin badet mich heiß. Mein bestes Jackett zupfe
ich für den Empfang, tausche ungünstig letzte Dollar. Im ältesten Kloster
des Landes, dem Höhlenkloster, sind jahrhundertealte Gebeine von
Geistlichen in Felsnischen aufgebahrt. Die dürren Kerzen, die man uns am
Eingang verkauft hat, zwinkern den Mumien zu. Nach drei der Bündel habe
ich es eilig, aber man muß in dem Gang in der Reihe bleiben.
Draußen splittert einem die Sonne ins Auge. Vom Klosterberg steigen wir in die
Stadt hinunter. Kiews Hügel erheben jedes größere Haus zur Burg. Am Hang,
auf dem die Andrejewski-Kirche leuchtet, umwimmelt uns eine Atmosphäre wie am Montmarte. Stände mit Kitsch und Kunst. Eine hübsche, ruhige Nebenstraße bricht auf einer Seite plötzlich ab. Im letzten Haus vor einer brachen Fläche wohnt in oberster Etage die Präsidentengattin. In die Brandmauer ist ein Fenster gerissen, damit die erste Frau des Staates sich
im goldenen Dach der Kathedrale spiegeln kann. Angeblich ist die Brache
davor schon länger im Besitz der englischen Botschaft. Mit dem Bau einer
neuen Residenz werden die Briten abwarten müssen. Irina lädt mich ein in
eines der neuesten Restaurants von Kiew. Zarskoje Selo - Das Zarendorf:
Hier tafeln die neuen Reichen der Stadt, ausländische Geschäftsleute,
Prominente jeder Gattung und die gehobene Unterwelt. Vor dem Eingang
leisten ein Dutzend bewaffneter Burschen der Wachfirma Die Engel den
allerdicksten Autos Gesellschaft. An der Garderobe nimmt ein Russisch
ratender Afrikaner unsere Sachen entgegen. Das Personal schwärmt in
Trachten um die Tische, Wände und Decke sind überwuchert mit
Pferdegeschirren, Kaskaden von Töpfen, Fransentüchern und jeder Menge
anderer Volkstümlichkeit. Zarenhaft sind allein die Preise. Ein Teller
Borschtsch für dreißig Mark. Ninas Monatsrente. Wir sparen uns einen
Kaffee ab und entdecken auf der Karte den Jux des Tages: Salo in
Schokolade. Das ist wie gezuckertes Salz. Uns wird ulkig. Ungläubig fragen
wir nach, ob die tatsächlich den traditionellen Speck im Schokoladenmantel
auftischen. Der Kellner gibt uns ein mitleidiges Nicken. Schenja hätte
»Amerika« geschrien, geheult und gekotzt.
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