GOTT MACHT FEIERABEND

von Christian Funke

Amerika ist der Traum. Doch Amerika ist hier immer seltener. Die Ukraine mit ihrem wunderschönen Garten Krim schleppt sich in einem wunden Taumel hinter dem hastig eilenden Kapitalismus her. Über die Familienabenteuer eines Westlers in der Ukraine

»Amerika«, sagt Schenja. Nein, er betet es. Die Andacht und die Wucht, mit der er das Wort auf den Küchentisch hebt, gilt einer rotgelben Soße, die zäh über einen tiefen Teller Pelmeni bröckelt. Die zarten Teigtaschen saufen ab in dem giftfarbenen Morast. Amerika ebnet ihren feinen Geschmack großzügig ein. Süßsauersalzig und ultrachilischarf. Elfenbein in Luxus-Jauche. Die Soße ist eines der bestellten Mitbringsel aus Deutschland. Sie besiegt vorläufig den Geschmack meiner Gastgeber. Die abgelegten Kleider meiner erzfeinen Tante Margret bleiben hier noch sehr lange schick, gebe ich mir zu. Immerhin völlig nagelneu sind die silbrigen Werbeuhren von Mercedes-Benz. Sozusagen: Amerika. Dafür soll man sich nicht schämen. Schenja ist 51 und kennt die Welt. Ende der siebziger Jahre war er als sowjetischer Offizier in der DDR, er diente weiter in Sibirien, bis er in Afghanistan kämpfen mußte. Amerika hat er seit etwa zehn Jahren nebenbei aus dem Fernsehen begutachtet, gerade wieder sieht es so glänzend aus wie die Schimmer-Schlampen vom Melrose Place. »Amerika« ist auch, wenn Schenjas Auto mal allein durch den Zündschlüssel anspringt, sich die Familie mit Frau und Tochter einen frischen Satz West-Zahnbürsten gönnt, die Post noch im Briefkasten ist oder der Lichtschalter im Hausflur es auf Anhieb tut. In der Ukraine ist immer seltener Amerika. Die reiche Kornkammer der vermoderten Sowjetunion, das weite, fruchtbare Land vor dem Garten Krim, schleppt sich in einem wunden Taumel hinter dem hastig hinkenden Kapitalismus des Westens her. Zwischen der amerikanischen Serie und der auf ukrainisch gezüchteten Version von »Wer wird Millionär?« kündigen die Fernsehnachrichten für den kommenden Tag eine nationale Feierlichkeit an. Es soll, es könnte, es wird vielleicht... sogar warmes Wasser geben. Aus der Leitung, bis zum April! Dieser Verheißung widmen wir Wodka. Am nächsten Morgen gurgeln auf dem Herd diverse Wassertöpfe für Kaffee und ein laues Schöpfbad. Mit dem warmen Leitungswasser hat es nun doch nicht geklappt, demnächst werden wir noch einmal darauf anstoßen müssen. Jede Panne birgt die Chance auf eine neue Feier. Tanja, Schenjas Frau, hat, wie er, keine Arbeit. Aber ein kalter Abwasch braucht eine lange Weile, wie die Teigtütchen für den Kartoffelbrei. Kochen, Essen, Trinken, Reden, Rauchen, Spülen und im TV Hollywood: Rum ist ein Tag. Mit dem Nähen von Handschuhen verdienen sich die beiden ein Zubrot. Die 24 jährige Tochter, studierte Kommunikationstechnikerin, schuckelt Babys aus besseren Kreisen und bringt davon das meiste Geld mit nach Hause. Noch zehren sie alle von Schenjas Job im vergangenen Jahr als Bauarbeiter in Deutschland. Die mitgebrachten Klamotten müssen mindestens die drei nächsten Winter und etliche Modewellen aushalten. In Deutschland heißt das wohlhabend. Retro und ist Trend. Der Fahrstuhl knurrt nach unten, ein empfindlicher Hausbewohner hat auf einem Schild ermahnt, hier nicht zu pinkeln. Wir halten uns daran. Auf dem Weg zu einem Markt in der Stadtmitte zeigt Schenja mir einige frische Gebäude. Kirchen und Banken sind wie Edelsteine in die schmutzig zerfaserte Fassung der Stadt Iwano-Frankowsk getrieben. Um so mehr schillert der heruntergekommene Rest.

Vor einer Kirche, die ein nach Kanada ausgewanderter Landsmann spendiert hat, spekulieren mehrere jugendliche Bettler auf Christus. Noch ist der nur die tränende Musik einer Trauerzeremonie. Die meisten Leute verlassen das Haus und behalten ihr Erbarmen bei sich. Ein Priester hat ein paar Worte und Kopeken für die Jungs übrig. Gott macht Feierabend. Um ein Straßengeviert rumort der Markt. Rote Rüben, Fisch in sämtlichen Zuständen, Butter, Rahm, Säcke Zucker, Klumpen Mehl, jede Länge Reißverschlüsse, gleiche Mengen Wodka, Wein und Mineralwasser zu etwa demselben Preis, Girlanden von Shampoo-Pröbchen, alle Sorten Seife, bergeweise Sonnenblumenkerne (eine Art landesüblicher Kaugummi), Mars und Snickers, Schnick und Schnack. Selbst in wilden Gegenden wie den Karpaten trifft man zivilisierte Überraschungseier und original altdeutsche Kaffesahnetöpfchen mit Knicköffnung und Aussicht auf Schloß Neuschwanstein. Aus Einweckgläsern kann man sich angeblich französisches Parfüm ablitern lassen wie zehn Schritte weiter dicke Milch. Es gibt sogar eine Spezialstrecke für Heimwerker. Wie in einer Präsentschatulle liegen eine Fahrradgabel und zwei von Rost und Kalk verknorpelte Abflußrohre in einem Koffer. Sämtliche der hier angebotenen Kurbeln, Hähne, Gewinde, Drähte und Buchsen ließen sich möglicherweise zu einem monströsen Nichts zusammenfügen. Ein verstecktes Symbol des hiesigen Lebensgefüges? Allerhand ramponierter Krempel wird einfach gegeneinander getauscht und mit winzigem Preisunterschied in Umlauf gehalten. Die Bordsteinbörse. Selbst leere Flaschen absolvieren auf diese Weise einen ständigen Wertewechsel und sorgen für unablässige Geschäftigkeit. Schenjas zeitweilige Lebenserfahrung mit Deutschland hat ihm einen spitzen Blick für erhebliche Kleinigkeiten beschert. Er deutet auf einen Turm mit Kaffeegläsern, welcher vor einer Reklametafel für Nescafé Classic steht. Mit Neeckafe und Nusscaffe, beide immerhin Classic, kriegt man für anständig weniger Geld vielleicht eine Halluzination des Echten. Ähnlich muß es sich mit den Brillenetuis verhalten, die aberwitzige Schreibweisen von Christian Dior herzeigen. Auf den fremden Schein scheint es unheimlich anzukommen. Wir kaufen Zigaretten für eine Mark die Schachtel. »Slawutitsch Turbofilter«. Schenja schwärmt, daß diese ukrainische Sorte neuerdings bevorzugt von englischen Parlamentariern geraucht würde, was er einer Zeitung glaubt. Der Turbofilter ist ein Loch. Ein Hauch von Amerika aus der Ukraine für die andere Welt. Bubka springt längst nicht mehr hoch genug, die Klitschko-Brüder taugen westwärts auch ganz gut als titanische Russen, Tschernobyl wacht nur noch zu Jahrestagen aus seinem tückischen Koma auf und flackert dann diabolisch durch die internationalen Schlagzeilen. Wer will sonst etwas wissen von diesem gewaltigen Land? Einigen Freunden schicke ich hübsche Ansichten. Den höchsten Karpatengipfel gibt's unter Schnee und schillernde Abendsonne in Rubin an Glitzerkuppeln. Das weltweit gängige Romantikmenü. Am Postgebäude ist über fünfzig Meter die Selbstbehauptung der Ukraine auflackiert. Die Parole bellt: »Ein Gott, eine Ukraine, ein Volk!« Da, Da, Da! Am Schalter herrscht noch die Diktatur der staatlichen Behörde. Die Postbeamtin thront wie eine mehrstöckige Kremtorte auf ihrem Schemel. Die unbrauchbar vieldeutige Antwort auf unsere einfache Frage nach dem Porto tropft unglaublich langsam aus ihr hervor. Die Frau liest nebenbei innig in einer bunten Zeitschrift und weist uns unwirsch in die nächste Schlange. Warten ist erste Bürgerpflicht, Teil der Folklore. Auf dem Heimweg sehen wir die Sonne hinter Dunstschleiern abkratzen, die Kuppeln stehen so duster da wie die meisten Straßenlaternen. Am nächsten Tag geht es nach Chmelnizki, gen Osten. Die Stadt ist ein sogenanntes Gebietszentrum und benannt nach dem berühmtesten Nationalhelden. Hier wohnen Tanjas Schwestern mit ihren Familien und Schenjas Mutter.

Vor der Tour hocken wir uns im Wohnungsflur hin, klammern die Hände und beschwören eine gute Reise. Das Auto macht gleich nicht mit. Geschoben und dann doch gefahren. Unterwegs über Land fallen mir eine Unzahl halbrohe Häuser auf. Mitunter schmucke Hüllen mit Säulen, Türmchen, Erkern, wuchtigen Balkonen, sämtlich ohne Fensterscheiben. Etliche sind schon wieder eingekracht. Menschen nirgendwo. Schenja höhnt, daß viele Leute in den letzten Jahren eines halbstaatlichen Kapitalismus auf Probe schnell viel Geld gemacht und gleich wieder verloren haben. Die Goldrauschkadaver bleichen vor sich hin. Wir rumpeln vorbei an idyllisch anmutenden Dörfern, umkurven Kühe, Gänse und elend tiefe Schlaglöcher. Warmes Wasser ist auch in Chmelnizki noch nicht angekommen, aber Abordnungen der ganzen großen Verwandtschaft sind bei Nina, der ältesten Schwester, versammelt. Auch eine Nichte, Anja, von der ich nur weiß, daß sie dringend eine bestimmte Sorte Jodtabletten braucht. In unwirklich kurzer Zeit hext die Familienbrigade ein raffiniertes Festmahl auf den Tisch. Gebackene, gedünstete, gekochte Köstlichkeiten aus einfachsten Zutaten. Rote Bete, Kohl, Kartoffeln, Speck, Knoblauch, Gurken, Rahm. Drei deutsche Fischbüchsen logieren auf Ehrenplätzen. Eine detaillierte Speiseliste würde mir jetzt zu viele Zeilen rauben und noch einmal den Verstand. Die stille Nina murmelt sanft einen Segen herbei, Wodka treibt den Appetit, die Gespräche sammeln den Tag ein. Dann ist vom Schwager die Rede, der vor einem halben Jahr auf einer Baustelle in Portugal umkam, als ein Gerüst einstürzte. Dessen junge Frau und zwei Kinder konnten ihn daheim nur beerdigen, weil ein Verwandter gute Kontakte zu Regierungsleuten hatte, die irgendwie die Überführung des Toten abrechnen konnten. Der Schwager hatte alle nötigen Erlaubnisse für den Job, aber sein Chef hatte keinen seiner Arbeiter versichert. Die Schmerzen werden kein Geld verdienen. Borschtsch und Wodka lieben sich. Die Familie schluckt die Traurigkeit für Augenblicke. Anja steckt verschämt die Jodtabletten weg. Die Wundertüten der vereinten hilfsbereiten Tanten Deutschlands machen die Runde wieder munter. Margret, Tina, Ruth und Gisela für Nina, Alla, Tanja, Ljuba, Anja, Lena, Olja... Dutzende Kopftücher, Blusen, Handtäschchen, Strümpfe wechseln die Welten. Für nicht Anwesende werden kleine Depots angelegt. Die Männer kriegen Uhren, Mercedes-Mützen, Taschenrutscher und Zigarillos. Schenja findet endgültig »Amerika«, Nina summt »Ka-a-ak charascho«, was mir lieber klingt. Sie hängt mir ein Holzkreuzchen um, damit ich mir um alles weniger Sorgen machen müsse. Ihr nehme ich das ab. Später tauchen zwei nächste Nichten auf, 18 und 20 Jahre alt, die unter allen Umständen nach Deutschland wollen. Noch nicht einmal in Kiew waren sie. Ich finde noch ein paar Parfümpröbchen für sie und weiß nicht, wie ich ihnen sonst helfen könnte. Ich schenke mich frei. Tags darauf macht mir der alte Nachbar aus der Kellerwohnung einen seltsamen Antrag. Ob ich ihm vielleicht Adressen sehr kranker Menschen in Deutschland beschaffen könne? Im Grunde brauche er nur deren Fotos und kriege die Leute dann wieder gesund. Speziell zur Krebsheilung hält er sich begnadet. Er weist sich mit einem in Folie geschnürten Heiligenbildchen und dem Diplom »Volksheiler der Ukraine« aus. Den zischenden Worten klackert sein Gebiß nach. Das Kellerfenster erlaubt nur abgehackte Blicke auf die Füße der Passanten. Man kommt dabei auf wunderliche Gedanken. Am nächsten Tag mache ich auf dem halben Weg nach Kiew Station bei einer von Ninas Töchtern in der Kleinstadt Pollonie. Lenas Mann verdient gut als Mediziner in einer Poliklinik, die Eltern leben mit ihren zwei Jungs in einem ansehnlichen Mehrfamilienhaus. Hier wohnt nur die Ärzteschaft. Auf einer großen Wiese mit Apfelbäumen braten wir Schaschlyk. Nicht weit daneben dünstet in zwei riesigen Erdlöchern der Hausmüll aus. Vor dem Haus gibt ein Ziehbrunnen Wasser, die Wohnungen haben nur Abflüsse. In dieser Nacht wird mir ein Patenkind vorherbestimmt. Die werdende Mutter kenne ich zwei Stunden. Wir singen dem Wodka hinterher. Ich verschenke leere Plastiktüten. Prächtig ist das alte Kiew. Die Stadt glitzert mir für ein paar Stunden die Bescheidenheiten der letzten Tage weg. Eine Freundin badet mich heiß. Mein bestes Jackett zupfe ich für den Empfang, tausche ungünstig letzte Dollar. Im ältesten Kloster des Landes, dem Höhlenkloster, sind jahrhundertealte Gebeine von Geistlichen in Felsnischen aufgebahrt. Die dürren Kerzen, die man uns am Eingang verkauft hat, zwinkern den Mumien zu. Nach drei der Bündel habe ich es eilig, aber man muß in dem Gang in der Reihe bleiben.

Draußen splittert einem die Sonne ins Auge. Vom Klosterberg steigen wir in die Stadt hinunter. Kiews Hügel erheben jedes größere Haus zur Burg. Am Hang, auf dem die Andrejewski-Kirche leuchtet, umwimmelt uns eine Atmosphäre wie am Montmarte. Stände mit Kitsch und Kunst. Eine hübsche, ruhige Nebenstraße bricht auf einer Seite plötzlich ab. Im letzten Haus vor einer brachen Fläche wohnt in oberster Etage die Präsidentengattin. In die Brandmauer ist ein Fenster gerissen, damit die erste Frau des Staates sich im goldenen Dach der Kathedrale spiegeln kann. Angeblich ist die Brache davor schon länger im Besitz der englischen Botschaft. Mit dem Bau einer neuen Residenz werden die Briten abwarten müssen. Irina lädt mich ein in eines der neuesten Restaurants von Kiew. Zarskoje Selo - Das Zarendorf: Hier tafeln die neuen Reichen der Stadt, ausländische Geschäftsleute, Prominente jeder Gattung und die gehobene Unterwelt. Vor dem Eingang leisten ein Dutzend bewaffneter Burschen der Wachfirma Die Engel den allerdicksten Autos Gesellschaft. An der Garderobe nimmt ein Russisch ratender Afrikaner unsere Sachen entgegen. Das Personal schwärmt in Trachten um die Tische, Wände und Decke sind überwuchert mit Pferdegeschirren, Kaskaden von Töpfen, Fransentüchern und jeder Menge anderer Volkstümlichkeit. Zarenhaft sind allein die Preise. Ein Teller Borschtsch für dreißig Mark. Ninas Monatsrente. Wir sparen uns einen Kaffee ab und entdecken auf der Karte den Jux des Tages: Salo in Schokolade. Das ist wie gezuckertes Salz. Uns wird ulkig. Ungläubig fragen wir nach, ob die tatsächlich den traditionellen Speck im Schokoladenmantel auftischen. Der Kellner gibt uns ein mitleidiges Nicken. Schenja hätte »Amerika« geschrien, geheult und gekotzt.


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