Am Vormittag ist Reinhard Krügers Welt noch in Ordnung. Er sitzt im Garten
und blättert in alten Fassungen der Fahrtenbücher
Marco Polos.
Wie die Menschen es damals wohl erlebten, wenn sie auf fremde Völker stießen? Solche Fragen beschäftigen Mitte der 90er-Jahre den historisch versierten Romanisten - bis ihn eines Mittags seine Tochter unterbricht: "Im Mittelalter glaubten die Menschen, daß die Erde eine Scheibe sei, steht hier im Schulbuch. Ist das richtig geschrieben?" Natürlich, "daß" mit scharfem "S". Reinhard Krüger nickt, greift zu Marco Polo und liest, wie dieser um das Jahr 1260 so weit südlich des Äquators angekommen war, dass er den Polarstern nicht mehr sehen konnte.
Krüger stutzt: Ja, hatte Marco Polo denn gar keine Angst, von der Erdscheibe hinunterzufallen? Es sind
die scheinbar unbedeutenden Momente, die festgefügte Weltbilder ins Wanken
bringen können. Das vorherrschende Bild vom Mittelalter mit seinen religiös
verblendeten Menschen zum Beispiel, die die Erde angeblich für so flach hielten
wie eine Hostie. Angespornt vom Schulbuch seiner Tochter beginnt Krüger zu
forschen. Zehn Jahre ist das her. Seitdem versucht der Romanist, der an der
Universität Stuttgart lehrt, das in Köpfen und Büchern verankerte
Missverständnis vom dummen Mittelalter auszuräumen. Mehr als tausend Seiten hat
der 54-Jährige mittlerweile darüber geschrieben, in zwei Bänden, denen vier
weitere folgen sollen. "Kürzere Richtigstellungen haben bislang kaum Wirkung
gezeigt", sagt er.
Was Krüger erstmals in einer breit angelegten
Untersuchung beweist: Kein kirchlicher oder weltlicher Gelehrter in Spätantike
und Mittelalter glaubte, die Erde sei eine Scheibe - mit Ausnahme des
ägyptischen Mönchs Kosmas Indikopleustes und der Kirchenväter Laktantius und
Severianus von Gabala. Deren Weltsicht galt jedoch stets als abseitig und wurde
im Mittelalter nicht gelehrt - bis neuzeitliche Gelehrte verstreute Dokumente
von Laktantius und Indikopleustes fanden, ihnen zu unverdienter Aufmerksamkeit
verhalfen und so den Mythos vom scheibengläubigen Mittelalter schufen.
"Seit der Aufklärung wollen wir uns als naturwissenschaftlich gebildet verstehen und
werten die Vormoderne ab. Was aber ist das für ein Wissensstand, der sich auf
Mythen gründet?" Vor allem die Hartnäckigkeit der Mittelalter-Lüge ärgert
Krüger. Schließlich ist er nicht der Erste, der sie widerlegt. Schon vor 13
Jahren hat der Bonner Skandinavist Rudolf Simek in seinem Buch "Erde und Kosmos
im Mittelalter" belegt, dass altnordische Schriften des 11. Jahrhunderts die
Erde ganz selbstverständlich als Kugel beschreiben. Und die Kölner Historikerin
Anna-Dorothee von den Brincken bewies unlängst, dass mittelalterliche Karten
keine Erdscheibe, sondern didaktische Vereinfachungen der Kugel darstellen.
Dennoch blieb die mittelalterliche Wissenschaftswelt für viele Historiker und
Laien bis heute unbekanntes Terrain.
Krüger machte sich daran, das
vernachlässigte Gebiet zu erforschen und durchsuchte als Erster das gesamte in
Frage kommende Schrifttum. Er ackerte sich durch 221 Bände der "Patrologia
Latina", der umfassenden theologischen Textsammlung des alten Christentums. Er
untersuchte, welche Autoren sich auf welche Vorgänger beriefen - eine mühsame
Lesereise durch mehr als 1800 Jahre Wissenschaftsgeschichte. Und er fand etwa 90
einflussreiche mittelalterliche Gelehrte, die seine Zweifel an der Dummheit des
Mittelalters bestätigten. Auf der Gegenseite blieben nur jene drei Außenseiter
übrig, die von einer flachen Erde geträumt hatten. Vermutlich hatte die Bibel
sie dazu veranlasst: Da ist die Rede von den vier Enden der Welt.
Tatsächlich sei das Wissen über die Erdkugel, das seit dem antiken
Philosophen Parmenides als gesichert galt, nur einmal kurzzeitig in Gefahr
gewesen, sagt Krüger. Um das Jahr 300 nämlich, zur Zeit des Laktantius in der
Spätantike, als die Kirche unter Kaiser Konstantin, dem Großen, zur
Staatsreligion erhoben wurde und sich naturwissenschaftlich gebildete Patrizier
und christliche Theologen die geistige Führung teilen mussten. Die Versuche,
ihre konkurrierenden Weltbilder miteinander zu vereinen, radikalisierten damals
manchen Denker. Der Kirchenvater Laktantius polemisierte jedenfalls in seinen
"Göttlichen Unterweisungen" gegen die Verfechter der Weltkugel, "die glauben,
dass es Antipoden gibt", also Menschen auf der anderen Seite des Globus. Dort
müsste allerdings "der Regen von unten nach oben fallen und der Wald von oben
nach unten wachsen". Doch diese Aussage sei nur eine rhetorische Kapriole
gewesen, um das griechisch-römische Weltbild herabzusetzen, resümiert Krüger.
Als Lehrmeinung habe sie im Mittelalter keine Rolle gespielt.
Kirchenvater Augustinus (links) predigt der
Menschheit: Die Darstellung aus dem 15. Jahrhundert zeigt auch Antipoden,
Menschen auf der anderen Seite der
Erdkugel |
Und der kleine Mann in den Provinzen, der des Lateinischen nicht mächtig war?
Auch er wurde mit dem Wissen um die Erdkugel versorgt, als nach dem 6.
Jahrhundert die politischen Führer und Kirchenhäupter der
Völkerwanderungsstaaten begannen, Ptolemäus in die Sprachen ihrer Volksstämme zu
übersetzen. Alfred der Große etwa erklärte um 850 seinen Angelsachsen, die Erde
sei "so kugelförmig wie die Schildbuckel, die an den Schildinnenseiten die
Griffknäufe bilden". Und den Spaniern erklärten Philosophen unter Berufung auf
Isidor von Sevilla, die Erde sei "rund wie der Ball, mit dem die Jungen auf der
Straße spielen".
Ein helles, modern denkendes Mittelalter fand Krüger auf seiner literarischen Expedition. Darin mit
Silvester II. einen Papst, der Abhandlungen darüber verfasste, wie man Erdgloben
herstellt und welchen exakten Umfang der Originalplanet hat. Krüger stieß auch
auf Kirchenlehrer wie Hermann den Lahmen, der Globen in seinem Unterricht
einsetzte. "Auf dieses weit verbreitete Wissensfundament baute der Astronom und
Mathematiker Johannes de Sacrobosco seine ,Sphaera mundi', den seit dem 13.
Jahrhundert wichtigsten Text für den Astronomieunterricht an allen europäischen
Universitäten", sagt Krüger.
Doch ausgerechnet mit dem Beginn der
Neuzeit, in den ersten Vorwehen der Aufklärung, begann die heile kugelförmige
Welt zu bröckeln. Als Kolumbus 1492 Amerika entdeckte, war zwar die theologische
Antipoden-Frage, ob entfernte Kontinente besiedelt sein könnten, empirisch
beantwortet. Doch als dann Nikolaus Kopernikus die Erde aus dem Zentrum des
Kosmos rückte und das ptolemäische Weltbild korrigierte, hatten die
mittelalterlichen Vordenker ihre Schuldigkeit getan, sie wurden vergessen oder
unterschlagen. "Kopernikus zitiert seitenweise Sacrobosco, gibt dessen Gedanken
aber als eigene aus. Damit bestand der wohl wichtigste Text der frühen Neuzeit
zu großen Teilen aus mittelalterlichem Wissen", sagt Krüger.
So war es
zunächst die Rhetorik der Auslassung, ein Verschweigen der mittelalterlichen
Quellen, das die "kopernikanische Wende" als historischen Bruch erscheinen ließ:
hin zum modernen Weltbild mit der Sonne im Mittelpunkt. Kopernikus hätte es
nicht nötig gehabt, seine Leistung auszuschmücken und auch die kugelförmige Welt
als neue Idee zu reklamieren - ein heliozentrisches Weltbild hatte im
Mittelalter wirklich niemand vertreten. Auch von den antiken Philosophen hatte
nur Aristarch von Samos so weit gedacht und war niedergeschrieen worden. Und
doch wertete der polnische Astronom seine Vorgänger ab und zitierte 1543 im
Vorwort zu seinem Hauptwerk "Von der Umdrehung der Weltkörper" als erster
maßgeblicher Gelehrter überhaupt den vergessenen Laktantius: Von dessen
Zuschnitt seien auch die Kritiker seines Weltbilds, schrieb Kopernikus. Und so
wurde mit Laktantius ein seltener Erdscheiben-Theoretiker zum Vertreter der
vormodernen Gelehrtenschaft, die Kopernikus damit für dumm
verkaufte.
Zugleich half der Buchdruck, das Wissen neu zu sortieren. "Vor
allem Kopernikus und sein Gefolge wurden veröffentlicht, die mittelalterliche
Überlieferungstradition dagegen kaum noch fortgesetzt und von den
Renaissance-Gelehrten mit nebulösen Hinweisen auf die Tradition der Alten
regelrecht abgetan", sagt Krüger.
Die unwissenden Alten, wie der
Kirchenvater Augustinus, hätten ja noch an die Erdscheibe geglaubt, log bereits
20 Jahre nach Erscheinen von Kopernikus' Hauptwerk der hessische Mediziner
Johannes Dryander in einem Vorwort zu zeitgenössischen Entdecker-Berichten. Dass
Augustinus die Existenz von Antipoden bezweifelt hatte, wurde ihm nach der
Entdeckung Amerikas schwer angelastet. Mehr noch: Es wurde ihm daraus der
falsche Vorwurf gestrickt, er habe eine flache Erde gepredigt.
Illustration im Buch "Werk Gottes" der Hildegard von Bingen aus dem 12. Jahrhundert: Ein Erdball, auf dem gleichzeitig verschiedene Jahreszeiten herrschen |
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