Großbritannien - Der englische Patient

von Hans Hoyng, Michael Sontheimer (DER SPIEGEL 16/2001)

mit Links und Anmerkungen von Nikolas Dikigoros

Londons chaotischer Kampf gegen die Maul- und Klauenseuche offenbart: Tony Blairs Versuch, das Vereinigte Königreich zu modernisieren, hat sich in Ankündigungen erschöpft. Selbstgefälligkeit, Schlendrian und Krämergeist beherrschen nach wie vor das Land.

Eigentlich wollte General Alexander Birtwistle, 53, Ordensträger des Britischen Empire und Adjutant Ihrer Majestät Elizabeth II., endlich seinen wohlverdienten Ruhestand genießen. Doch daraus wurde nichts. Die Pflicht und ein neuer Marschbefehl riefen, jetzt wird der Offizier seinen Mann stehen bis, wie er sagt, "die nationale Krise" überwunden ist.

Seit Ende März kämpfen der General und seine Truppe an vorderster Front gegen die Maul- und Klauenseuche (MKS), die schon knapp zwei Monate lang unter Großbritanniens Rindern, Schafen und Schweinen wütet. Birtwistle, Jäger aus Passion, hat dabei einen Auftrag zu erledigen, der sich weder mit seiner Berufsehre noch mit seinem Hobby vereinbaren lässt: Er muss Feinde vernichten, die sich willig zum Abschlachten führen lassen.

Auf einem stillgelegten Air-Force-Flugplatz unweit von Carlisle in der nordenglischen Grafschaft Cumbria haben Birtwistles Männer bislang 13 Massengräber ausgebaggert, 15 Meter breit, 4 Meter tief und insgesamt über 2 Kilometer lang; eine halbe Million toter Schafe und Schweine sollen hier entsorgt werden. Unablässig kippen Lastwagen stinkende Berge von Kadavern in die Gruben. Unweit davon stehen riesige Zelte, in denen Schlachter und Soldaten wie am Fließband Tiere erschießen. In seinen 34 Jahren als Soldat hat Birtwistle an Brennpunkten des einstigen Empires, in Nigeria etwa oder in Nordirland, gedient, doch die Massenschlachtungen gehen ihm an den Nerv. Er sagt: "Das ist eine apokalyptische Aufgabe."

Es sind in der Tat apokalyptische Bilder, die seit Ende Februar in Großbritannien die Nachrichtensendungen des Fernsehens dominieren und mittlerweile auch das Image des Landes in aller Welt ramponieren. Aus archaisch anmutenden Scheiterhaufen ragen die Beine verkohlter Kühe in den vom Rauch verdunkelten Himmel. In den pastoralen Idyllen des schon von William Blake besungenen "green and pleasant land" erlischt das Leben. Mangels Gästen schließen Pubs und Hotels. Bauern werden mitsamt ihren Familien unter Quarantäne gestellt, als hätten sie Lepra.

Mit versteinerten Mienen beobachten sie, wie ihre Herden verbrennen. Derart verstörend wirken die Bilder, dass sich immer wieder - völlig unangebracht - der Begriff "Holocaust" in die Debatte um das Schlachten der Tiere einschleicht.

Dass es so weit kommen konnte, haben Premierminister Blair und seine Regierung nicht zuletzt sich selbst zuzuschreiben. Viel zu spät realisierten sie den Ernst der Lage. Nach der Entdeckung der ersten erkrankten Schweine verstrichen drei Tage, ehe das Agrarministerium ein generelles Transportverbot für Tiere erließ. Erst vier Wochen nach dem Ausbruch hörten die Ministerialen auf Epidemiologen und beschlossen, das Keulen auch auf gesunde Herden auszuweiten. Viel zu spät - nach einem Monat - kam die Armee zum Einsatz.

Das Schienennetz verrostet, Fahrpläne werden Makulatur, Fahrgäste stranden im Nirgendwo

Inzwischen trifft sich Tony Blair morgens in einem unterirdischen Krisenzentrum mit rund 30 Ministern und Experten, um die nächsten Schritte im Kampf gegen die Epidemie zu beraten. "Cobra" heißt dieser Kommandobunker unter seinem Amtssitz. Dass hier ein veritabler Krieg geführt wird, unterstreicht eine Landkarte an der Wand, auf der sämtliche befallenen Bauernhöfe markiert sind. Über 1300 waren Mitte der Woche darauf verzeichnet, rund 1,4 Millionen Tiere sind entweder bereits getötet oder zum Keulen vorgesehen.

Mit dem untrüglichen Instinkt des taktisch gewieften Populisten hat Blair die seit langem für den 3. Mai geplanten Unterhauswahlen auf den 7. Juni verschoben. Obwohl sein erneuter Sieg - dank einer unfähigen Opposition - nicht gefährdet ist, erscheint es fraglich, ob die Epidemie bis dahin niedergerungen ist. Am Wochenende vor Ostern zeigte sich, dass die Viren bis zu 60 km mit dem Wind reisen und so immer neue Herden außerhalb der bisherigen Seuchenzentren infizieren.

Wesentlich größer als die Verluste der Bauern sind die Schäden, die der Tourismus erleidet. Die Zahl der ausländischen Besucher ist im Vergleich zum Vorjahr um 30% geschrumpft. Um Solidarität mit dem Landvolk zu demonstrieren, hat Blair sein Kabinett dazu verdonnert, den Osterurlaub auf der Insel zu verbringen. Dass dies ein beschränktes Vergnügen ist, erfahren der Premier und seine Familie am eigenen Leib: Rund um seinen Landsitz Chequers sind alle Spazierwege gesperrt.

Die durch die MKS-Epidemie verursachten finanziellen Verluste werden insgesamt auf bis zu 31 Milliarden Mark geschätzt. Schwerer zu kalkulieren ist der langfristige Imageschaden, den das Land erlitten hat. Denn die brennenden Scheiterhaufen lassen sich gar nicht mit Blairs großen Ankündigungen vereinbaren, Großbritannien von Grund auf zu modernisieren. Das Desaster auf dem Land offenbart vielmehr, dass das von New Labour versprochene "New Britain" in vielem ganz das alte Britannien geblieben ist.

Erinnert nicht die Art, in der sich die Maul- und Klauenseuche erst über Großbritannien, dann nach Nordirland und auf das europäische Festland ausbreitete, an den Export der tödlichen Rinderkrankheit BSE? Wurde nicht wieder einmal kleinkrämerisch zunächst geleugnet, dann verdrängt, geschlampt und schließlich massenhaft geschlachtet? Ist Großbritannien, wie der irische Minister Hugh Byrne ganz undiplomatisch sagt, "der Aussätzige Europas"?

Ausländische Beobachter schwanken zwischen Mitleid und Schadenfreude, wenn sie der britischen Serie von Plagen "biblische Ausmaße" bescheinigen. Auch gutwillige Betrachter wie ein Reporter des "Wall Street Journal" stellen fest, dass Großbritanniens Infrastruktur im Vergleich zu Frankreich und Deutschland nach wie vor "zweitklassig" ist.

Es ist bitter für die Briten, wenn französische Kommentatoren angesichts der auf das Festland übergesprungenen Seuche wieder auf das "perfide Albion" schimpfen oder wenn eine Umfrage in Deutschland offenbart, was die Briten in den Augen der Deutschen alles nicht können: Häuser bauen, Autos, Straßen oder Atomkraftwerke. Das Essen sei noch schlechter als in den USA, meinen die Deutschen, nur britische Schiffe seien Spitze - leider werden kaum mehr welche gebaut.

Für die Kette der Demütigungen rächen sich die Engländer mit Fremdenfeindlichkeit

Aus "Cool Britannia" ist die "Katastropheninsel" geworden, auf der nach heftigen Regenfällen ganze Landstriche in den Fluten versinken, weil der Hochwasserschutz vernachlässigt wurde. Wo tödliche Eisenbahnunfälle offenbaren, dass das Schienennetz inzwischen so verrostet ist, dass allein die notwendigsten Reparaturen alle Fahrpläne zu Makulatur machen und die Fahrgäste im Nirgendwo stranden lassen.

Hinzu gesellen sich Dauerkrisen wie etwa die von Krankenhäusern und Schulen. Nach einer Studie der Weltgesundheitsorganisation könnten von den Briten, die jährlich an Krebs sterben, bis zu 25 000 gerettet werden, wenn die Krankheit rechtzeitig diagnostiziert und behandelt würde. Die staatlichen Schulen sind auf ein derartig jämmerliches Niveau abgesunken, dass ein Fünftel aller Bürger nicht mehr über die mathematischen Grundkenntnisse verfügt, um das Wechselgeld zu zählen.

Als sich im Herbst 1997 die Staats- und Regierungschefs des Commonwealth in Edinburgh versammelten, mussten sie vor der Begrüßung durch den jugendlich-dynamischen Premierminister eine Videopräsentation anschauen. Mit rasanten Bildern von Formel-1-Rennwagen und Hightech-Laboren wurde nichts Geringeres als die Wiedergeburt des Landes gefeiert.

Tony Blair verkündete, dass seine Regierung die "Schranken von Klasse und Religion, von Rasse und Kultur" niederreißen werde. Das hoch professionelle Marketing verfehlte nicht die beabsichtigte Wirkung. Blairs Britannien galt fortan vielen als Musterbeispiel für Modernisierung.

Spätestens jedoch seit die Maul- und Klauenseuche wütet, hat sich eine Binsenweisheit der Werbewirtschaft bestätigt. Sie besagt, dass die beste Vermarktung nichts bringt, wenn das Produkt nicht stimmt. Und dem Verdacht, dass irgendetwas grundsätzlich nicht stimmt im Vereinigten Königreich, können auch die Briten sich immer schwerer entziehen.

MKS ist eben alles andere als cool. Die Briten sehen ihre Insel von dem schlechten Ruf eingeholt, der dem Land schon bald nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs anhing. Als "kranker Manns Europas" war da Großbritannien verschrien. 1976 musste die Regierung beim Internationalen Währungsfonds um Kredite nachsuchen.

Die Briten hatten, so sahen es Freunde wie der ehemalige US-Außenminister Dean Acheson, "ein Reich verloren und ihre neue Rolle noch nicht gefunden". Heroisch hatten sie die Nazis niedergerungen - zugegeben, mit der Hilfe von Verbündeten -, aber seitdem nagen Selbstzweifel an den Briten; sogar wenn es ihnen, wie derzeit, wirtschaftlich gut geht.

Gemeinsam hatten Engländer, Schotten, Iren und Waliser einst das britische Weltreich erobert und sich dabei, wie der Historiker Lawrence James schrieb, als das "Werkzeug der Vorsehung für den universellen Fortschritt" empfunden. Doch seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs mussten sie hilflos zusehen, wie ihr Empire zerbröckelte; die Übergabe der einstigen Kronkolonie Hongkong an China markierte 1997 den traurigen Abschluss. Der unaufhaltsame Abstieg machte auch an den Landesgrenzen nicht halt. Britanniens Industrien gingen Pleite. Textilfabriken und Stahlwerke verschwanden. Gruben wurden geschlossen. 2000 gaben sogar die autoverrückten Deutschen den Versuch auf, weiterhin Wagen im Inselreich zu produzieren.

Gleichzeitig beobachteten Schotten und Waliser neidvoll, wie die Nachbarn in der Republik Irland, die 1922 das Königreich verlassen hatten, als EU-Mitglied prosperierten und teilweise die Briten in puncto Wohlstand überflügelten. Autonomie-Bestrebungen, seit Jahrhunderten verdrängt, lebten wieder auf und gipfelten in der Einrichtung von eigenständigen Parlamenten für Schottland und Wales.

Seither fühlen sich viele Engländer im Stich gelassen und besinnen sich auf ihre eigene Herkunft. Eine heftige Diskussion über die Identität der Nation ist entbrannt. Für die Kette der Demütigungen rächen viele Engländer sich gern mit Fremdenfeindlichkeit; sie machen aus Franzosen nach deren angeblicher Lieblingsspeise "Frösche" und aus Deutschen (Sauer-)"Krauts". Doch auch die Europäer auf dem Kontinent haben stets misstrauisch auf die vorgelagerten Inseln geblickt.

Zwar pflegten die Handelspartner der Briten in den großen europäischen Hafenstädten von Hamburg bis Marseille beste Beziehungen zum Vereinigten Königreich. Kaufleute schickten ihre Söhne zur Lehre auf die Insel und kleideten sich in feinstes englisches Tuch, doch vielen Europäern auf dem Festland blieb das Inselvolk fremd.

Napoleon entdeckte in den Briten ein Volk von Krämerseelen - "une nation de boutiquiers". Sogar Karl Marx, der im Londoner Exil Sicherheit vor den Nachstellungen des preußischen Staates fand, empörte sich darüber, dass in Britannien alles in "Blut und Gold" gemessen werde.

Die Rudimente solch wechselseitiger Ressentiments leben fort. Das "Modell Großbritannien", als dessen Symbol Blair in London den futuristischen, aber erfolglosen Millennium Dome errichten ließ, findet auf dem Kontinent keinen Anklang. Die Briten, die sich mehr denn je sträuben, die Gemeinschaftswährung zu übernehmen, bleiben in der EU Außenseiter - nicht ganz ernst genommen, allenfalls nützlich als Gegengewicht zur französisch-deutschen Allianz.

Alles, was staatlich ist und dem Gemeinwohl dienen soll, rottet vor sich hin

Festland-Europa kommt auch ohne sie ganz gut aus. Die Handelskette Marks & Spencer, die das Design des neuen Britannien auf das Festland tragen sollte, musste sich gerade mangels Nachfrage wieder auf die Insel zurückziehen. Wesentlich mehr kränkt die Väter des modernen Fußballspiels, dass inzwischen ausgerechnet die Franzosen viel besser kicken. "Kann es sein", fragte der "Guardian" traurig, "dass unsere scheinbar so robuste Nation fragil wie ein Kartenhaus ist?"

"Selbstgeißelung, so merkwürdig anziehend in Britannien", wie der amerikanische Soziologe Richard Sennett beobachtete, ist zum Volkssport geworden. Die Stimmung ist noch schlechter als das Wetter, auch wenn das Leiden an der "englischen Krankheit" nicht ohne Lust praktiziert wird.

Was Diagnose und Therapie allerdings gleichermaßen erschwert: Bei dieser Krankheit handelt es sich um ein äußerst widersprüchliches Syndrom. So ist die Nutzung des Internet in Großbritannien verbreiteter als in Deutschland. Gleichzeitig stehen die Schlaglöcher in vielen Straßen Londons denen von Mombasa oder Hanoi um nichts nach.

Die Universitäten von Oxford und Cambridge zählen nach wie vor zu den weltbesten Ausbildungsstätten für junge Akademiker, doch die staatlichen Schulen in Großbritannien gehören zu den schlechtesten Europas. Englisch ist zur dominierenden Sprache der globalisierten Welt avanciert. Gleichzeitig klagt ein Lehrer aus Birmingham: "Wie soll ich meinen Schülern Französisch beibringen, wenn sie nicht einmal ihre Muttersprache beherrschen." Jeder fünfte Brite gilt als funktionaler Analphabet.

In Sachen Popkultur, Design, Werbung oder Mode setzen die Briten weiterhin internationale Trends. Aber als die in London lebende amerikanische Sängerin Madonna ihr zweites Kind erwartete, flog sie zur Entbindung nach Los Angeles. Den "alten viktorianischen" Hospitälern in der britischen Hauptstadt traute sie nicht.

Großbritannien ist die viertgrößte Wirtschaftsmacht weltweit, die Arbeitslosigkeit mit 5,6% so niedrig wie seit 26 Jahren nicht mehr und die Inflationsrate mit 1,8% die geringste Europas. London ist nicht nur die multikulturellste Stadt der Welt, sondern das unangefochtene Finanz- und Bankenzentrum Europas.

Dennoch ist es keine journalistische Übertreibung, wenn etwa die "Times" Britannien zur Dritten Welt zählt. Denn während die Wirtschaft floriert und es der Mehrheit der Briten finanziell so gut geht wie noch nie, rottet alles, was staatlich ist und dem Gemeinwohl dienen soll, vor sich hin.

Auf die Frage, wer für den kläglichen Zustand der öffentlichen Institutionen verantwortlich ist, nennen fast alle Briten spontan einen Namen: Margaret Thatcher, die Eiserne Lady, konservative Premierministerin von 1979 bis 1990. Thatcher verordnete sämtlichen öffentlichen Einrichtungen eine radikale Hungerkur, von der nur die Polizei ausgespart blieb. Gleichzeitig senkte sie die Einkommensteuern und führte einen gnadenlosen Feldzug gegen die Gewerkschaften, deren Machtanspruch absurde Blüten getrieben hatte.

Neben den Gewerkschaften waren es vor allem die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes - Lehrer, Krankenpfleger und Sozialarbeiter -, die von Thatcher als Verlierer stigmatisiert wurden, als faul, überprivilegiert und unfähig, einen Job in der Privatwirtschaft zu bekommen.

Die "Thatcher-Revolution" begründete einen fast religiösen Glauben daran, dass private Firmen prinzipiell effizienter und besser arbeiten als staatliche Institutionen. Und genau dieser unerschütterliche Glaube hat Großbritannien einige seiner jüngsten Katastrophen beschert - die Maul- und Klauenseuche nicht ausgenommen.

Denn dass sich sogar aus Schiet noch Rosinen machen lassen müssten, wenn dem britischen Unternehmergeist nur keine Fesseln angelegt würden, ahnte nicht nur Heinrich Heine, der die Engländer für "leidige Automaten, für Maschinen" hielt, "deren inwendige Triebfeder der Egoismus ist". Das wussten auch die Brüder Bobby und Ronnie Waugh, die im nordostenglischen Heddon-on-the-Wall eine Schweinemästerei mit gut 600 Tieren betrieben. "Ein Qualitätsprodukt herzustellen", räumt Bobby Waugh ein, hatten sie nicht vor, sie wollten lediglich mit möglichst geringem Aufwand "fette Säue" produzieren.

Immer wieder beschwerten sich Nachbarn bei der Gemeindeverwaltung über den Gestank und Dreck des herunter gekommenen Betriebs. Ein Tierschützer machte verwesende Kadaver zwischen den zusammen gepferchten Tieren aus.

Zwei Tage vor Weihnachten und noch einmal Ende Januar inspizierten Vertreter der lokalen Gewerbeaufsicht und ein Veterinär des Landwirtschafts-Ministeriums die verkommene Mästerei, doch der Tierarzt befand, dass die Schweine unter zumutbaren Bedingungen gehalten wurden.

Nur drei Wochen später wurde die Mästerei als Ausgangspunkt der Maul- und Klauenseuche identifiziert. Da die für MKS typischen Entzündungen bei manchen Tieren schon wieder verheilt waren, hatten die Waugh-Brüder den Ausbruch der Krankheit mindestens drei Wochen lang schlicht nicht bemerkt.

Die Brüder, die nicht auf ihrem Hof leben, sondern 35 Kilometer entfernt, fütterten ihre Schweine mit abgekochten Essensabfällen aus Schulen und Restaurants. Da der derzeit auf der Insel grassierende MKS-Virustyp aus Asien stammt, ist es gut möglich, dass illegal aus Asien eingeführtes Fleisch über China-Restaurants in das Futter geraten ist. Dass das Virus nicht eingeführt, sondern einem Armee-Labor entwendet wurde, ist dagegen ein Verdacht, für den es bislang keinen Beleg gibt.

Die Jagd nach dem kleinen, schnellen Gewinn war auch mit verantwortlich dafür, dass sich MKS so schnell und so weit ausbreiten konnte. Denn nicht nur die drastische Verringerung der Schlachthöfe von über 1000 auf 387 in den letzten 15 Jahren trug dazu bei, dass immer mehr Tiere über britische Straßen transportiert wurden, sondern auch eine Praxis, die sich ganz harmlos und ganz englisch "Bed and Breakfast" nennt.

Weil anders als in kontinentalen EU-Ländern noch immer nicht jedes britische Schaf eine Identifikationsmarke im Ohr trägt, blüht der Handel mit Schafen, die durchs Land gekarrt werden, um vorübergehend die Bestände von Züchtern zu vergrößern - immer dann, wenn sich ein EU-Kontrolleur angesagt hat, der die Subventionen aus Brüssel festsetzt.

Seit Jahresanfang sollte die Kennzeichnungspflicht auch für britische Schafe gelten, doch die Regierung Blair hat dies durch Einsprüche hinausgezögert. Wegen eines Stichtags für die Subventionsvergabe wurden in den Tagen vor dem Ausbruch der MKS besonders viele Bed-and-Breakfast-Schafe durchs Land gekarrt.

Kurzsichtige Kalkulationen und Schlamperei haben nicht nur den Ausbruch der Epidemie gefördert, sondern kennzeichnen auch den Kampf gegen sie. So werden die Scheiterhaufen mit Hilfe großer Mengen Diesel, Benzin oder auch Autoreifen in Brand gesetzt, die Luft, Boden und Grundwasser vergiften. In der Grafschaft Durham mussten 892 verwesende Kadaver wieder ausgebuddelt werden, weil sie im Einzugsgebiet einer Trinkwasserquelle vergraben worden waren.

"Viele Engländer lernen nie, exakt und zuverlässig zu arbeiten", klagt Lisa Abramson, eine Danziger Jüdin, die sich 1937 nach London retten konnte. "Ich war mit meiner preußischen Arbeitsmoral immer eine Außenseiterin."

Bei Deutschen, die auf der Insel leben, weckt nicht nur das laxe Arbeitsethos Erinnerungen. Die Kinderärztin Silvia Grotjohann, die in einem Hospital im Londoner Stadtteil Newham arbeitet, sagt: "Die herunter gekommenen Gebäude, aber auch die fatalistische Geduld der Leute, die zehn Stunden darauf warten, einen Arzt zu sehen, kommen mir sehr bekannt vor."

Grotjohann kommt aus Stralsund und kann neben dem ständigen Schlangestehen in Großbritannien auch andere ihr aus der DDR wohl bekannte realsozialistische Erscheinungen beobachten, beispielsweise die Obsession der Regierung, für sämtliche öffentlichen Institutionen möglichst präzise Planvorgaben zu stellen. So lässt sich im Fünfjahresplan der Labour Party für eine zweite Amtszeit der Blair-Regierung nachlesen, dass die jährliche Zahl der Selbstmorde bis zum Jahr 2005 von 4500 auf 4000 zu senken sei.

Aufgestellt werden solche Zahlen - von denen ohnehin jeder annimmt, dass sie beschönigt werden - von Ministerialbürokraten, deren Verschwiegenheit gern mit ihrer Ineffizienz Hand in Hand geht. Den schlimmsten Ruf im Londoner Regierungsviertel Whitehall genießt dabei das Ministry of Agriculture, Fisheries and Food (Maff), wegen seiner engen Verflechtung mit der Agrarindustrie auch "Maffia" genannt.

Um den Bauern nicht das Geschäft zu verderben, bestritten die Maff-Ministerialen mehr als zehn Jahre lang, dass BSE für Menschen gefährlich werden könnte. Inzwischen sind über 80 Briten an der menschlichen Variante des Rinderwahnsinns gestorben, und die Krankheit hat sich über ganz Westeuropa ausgebreitet.

Bei der MKS-Bekämpfung ist es wieder oberstes Ziel der Maff-Männer, schnellstmöglich eine Wiederaufnahme der Ausfuhr von Tieren und Milchprodukten sicherzustellen. Weil nach einer Impfkampagne für mindestens ein Jahr keine Tiere mehr ins Ausland exportiert werden dürfen - ein Schaden von knapp zwei Milliarden Mark pro Jahr - nimmt die Regierung lieber den Zusammenbruch des Tourismus in Kauf, einen Schaden von 16 Milliarden Mark in diesem Jahr.

Statt zu impfen, setzt die Regierung stur darauf, sowohl die infizierten Herden zu töten als auch die Tiere, die im Umkreis von drei Kilometern leben. Doch diese Strategie der "Brandschneisen" birgt unabsehbare Risiken. "Unter den britischen Bedingungen hoher Tierdichte ist die Infektion schlicht zu ansteckend, um sie durch eine Politik des Schlachtens unter Kontrolle zu bringen", heißt es in einem Bericht des Elm Farm Research Center. "Es gibt keinerlei verlässliche Informationen darüber, wie viele Tiere außerhalb der Quarantänezonen bereits infiziert sind." Wenn ein Verdacht vorliegt, ist es zudem absolut entscheidend, die Tiere so schnell als irgend möglich zu töten. Der Farmer George Thomas aus Highampton in Devon musste allerdings vier Tage warten, bis seine MKS-verseuchten Rinder gekeult wurden. Seine Herde war die zweite in dem beliebten Feriengebiet, die befallen wurde, inzwischen sind es über 110.

"Es gibt keine Debatte über Moral und Ethik, nur über Einsparungen wird diskutiert"

Obwohl die Armee mit 1700 Mann im Einsatz ist und Veterinäre aus aller Welt zu Hilfe eilten, ist das Ziel, die Tiere innerhalb von 24 Stunden zu keulen, noch nicht erreicht. Nach wie vor rotten auch Kadaver tagelang auf Höfen oder Weiden vor sich hin, bevor sie entsorgt werden.

Inzwischen besucht Premierminister Blair regelmäßig betroffene Gebiete und informiert sich - mit Gummianzug gegen Viren und Wetter gewappnet - über den Stand des Abwehrkampfs. Doch diese Kondolenztouren zum demoralisierten Landvolk können ebenso wie die Verschiebung der Wahlen nur sein Engagement symbolisieren. Einen Ausweg aus der Krise zeigen sie nicht auf.

Das ist symptomatisch für Blairs Regierungsstil. Als er Thatchers Nachfolger John Major im Mai 1997 eine fürchterliche Niederlage beibrachte, hatten zumindest die Wähler der Labour Party gehofft, dass nun die Exzesse des Thatcherismus korrigiert würden. Doch Blairs Schatzkanzler Gordon Brown baute die Staatsschulden ab und hungerte den öffentlichen Dienst weiter aus. In jedem Jahr ihrer knapp vierjährigen Amtszeit hat die Labour-Regierung für die marode Infrastruktur weniger ausgegeben als Major in seinen letzten zwölf Monaten als Premierminister.

Blair und seine angeblichen Erneuerer setzen die von der Eisernen Lady begonnene Demontage staatlicher Institutionen unbeirrt fort. Hatten sie in der Opposition noch versprochen, die Eisenbahn wieder unter öffentliche Kontrolle zu bringen, tun sie in der Regierung das genaue Gegenteil.

Obwohl sich die übereilte Privatisierung der Bahn als grotesker Misserfolg erwiesen hat, will Schatzkanzler Brown nun unbedingt die marode Londoner U-Bahn nach einem ähnlichen Modell entstaatlichen. Es gibt kaum etwas, was vor Labours Drang zum "Outsourcing" sicher wäre. Die Londoner Polizei, die Ermittlungen bei einfachen Einbruchsdelikten längst privaten Detekteien überlässt, überlegt derzeit, ob sie ihren Notruf einem privaten Callcenter übertragen sollte.

Das alles ließe sich rechtfertigen, wenn die privaten Firmen spürbar besseren Service lieferten als der Staat. Doch die Dienstleister stellen vorzugsweise unqualifizierte Mitarbeiter zu Billiglöhnen ein. So warteten, nachdem der Londoner Bezirk Hackney die Verteilung der Wohnbeihilfen privatisierte, Tausende Antragsteller monatelang auf die Zahlungen und sahen sich von Räumungsklagen bedroht.

Einerlei, ob privat oder staatlich, das allgemeine Bestreben in Britannien heißt "cost cutting", Kosteneinsparungen. "Man hört keine Debatte über Moral und Ethik", brachte der Londoner Korrespondent des Pariser "Le Monde" die Kontinuität von Thatcher zu Blair auf den Punkt, "es wird nur über Einsparungen gesprochen." Doch die Suche nach dem möglichst Billigen trägt häufig bereits den Keim künftiger Kostenexplosionen in sich. So war auch die rasante Ausbreitung der Maul- und Klauenseuche durch rigorosen Stellenabbau begünstigt worden: Vor zehn Jahren beschäftigte das Landwirtschafts-Ministerium noch 303 Veterinäre in 43 regionalen Büros. Heute gibt es bei doppelt so großen Herden nur die Hälfte der Büros und ein Fünftel weniger Tierärzte. Eine schnelle Diagnose der Krankheit wurde überdies durch die Schließung einer ganzen Reihe staatlicher Testlabors erschwert.

Besonders das Versagen der privaten Eisenbahn-Gesellschaften hat bei vielen Briten, die nicht wie Verkehrsminister John Prescott über zwei Jaguars verfügen, zu einer Trendwende geführt. "Wir glauben nicht mehr an Privatisierung", stellte der "Guardian" fest.

Die linksliberale Tageszeitung stützt sich dabei auf eine von ihr beauftragte und Mitte März veröffentlichte Umfrage, nach der mehr als drei Viertel der Befragten die Eisenbahn entprivatisiert sehen wollen. 60% sprachen sich dafür aus, dass der Staat auch privatisierte Gefängnisse wieder übernehmen solle. (Vermutlich, nachdem sie den Film "Johnny English" mit Rowan Atkinson gesehen hatten, Anm. Dikigoros :-)

Bislang sind solche "Renationalisierungen" für New Labour tabu. Es fehlt auch der öffentliche Druck, denn die Briten begegnen Krisen weiterhin mit fatalistischer Gelassenheit. "Es gibt nichts, was wir mehr genießen", merkte der "Independent" an, "als eine gute Krise." Erst wenn das Stadium des nationalen Notstands erreicht ist, schlägt die Stimmung um. Die Armee eilt zu Hilfe, und Land und Leute überfällt der "Geist von Dünkirchen".

So wie 1940, als zahllose große und kleine Schiffe über den Kanal fuhren, um die von der Wehrmacht eingeschlossenen britischen Truppen auf die Insel heim zu holen, rücken alle zusammen und nehmen auch größte Anstrengungen auf sich, um die Gefahr gemeinsam zu meistern.

Dann schlägt die Stunde von Machern wie Alexander Birtwistle, der in seiner Camouflage-Uniform die Massenschlachtung in Cumbria organisiert. Auch wenn Großbritannien langsam auseinander fällt, auf Männer wie ihn ist weiterhin Verlass.

Und wenn die Schlacht dann endlich einmal gewonnen ist, darf Birtwistle sich in den Ruhestand verabschieden und kann sich wieder seinem Hobby widmen - nur noch solche Tiere zu erschießen, die wenigstens versuchen, ihrem Tod durch Flucht zu entgehen.


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