EIN HERZ FÜR HELDEN

von Gerhard Gnauck (Neue Zürcher Zeitung, 02.04.2004)

Immer wieder wird in Polen über «weisse Flecken» im Geschichtsbild diskutiert, so etwa über die Ermordung deutscher Zivilisten in den ersten Kriegstagen («Bromberger Blutsonntag», 1939) oder über Ansätze der Kollaboration mit den deutschen Besatzern. Gleichzeitig wächst im Land der Bedarf an positiven Identifikationsfiguren.

In der Hauptstadt wird demnächst ein "Museum des Warschauer Aufstands" eröffnet. Die entsprechende Internetseite gibt es schon, eine Arbeitsgruppe im Rathaus ebenso, und eines schönen Frühlingstages liess sich Oberbürgermeister Lech Kaczynski mit seiner Mutter, selbst Teilnehmerin des Aufstands, dabei fotografieren, wie er in der Stadt das Plakat aufhängte, das zur Eröffnung einlädt. Der konservative, auch zu populistischen Tönen neigende Kaczynski ist der geistige Vater des ehrgeizigen Museumsprojekts, doch auch die liberale «Gazeta Wyborcza» und andere Zeitungen rühren dafür gern die Werbetrommel. Eröffnet werden soll am 1. August, wenn sich der Aufstand gegen die Deutschen, dem die Rote Armee die erhoffte Unterstützung verweigerte, zum sechzigsten Male jährt.

Granaten im Schrank

Der Warschauer Aufstand, organisiert von der polnischen Exilregierung in London und der ihr unterstellten «Heimatarmee» im Untergrund, dauerte zwei Monate. Seine Niederschlagung forderte auf polnischer Seite 150 000 bis 180 000 Menschenleben. Dass die Stadtväter mit ihrer Idee eine Lücke füllen, zeigte die grosse Resonanz der Warschauer auf ihren Appell, persönliche Erinnerungsstücke dem Museum zu überlassen. Selbst die Veteranen, die noch rostige Pistolen und Granaten im Schrank haben, dürfen hoffen, diese nach einer Gesetzesänderung bald abgeben zu können, ohne wegen illegalen Waffenbesitzes belangt zu werden.

Das Museum soll in einem früheren Elektrizitätswerk der Warschauer Tram entstehen, womit zugleich eines der wenigen Relikte alter Industriearchitektur eine neue Verwendung bekäme. Über Summen wird noch nicht gesprochen, doch die Pläne sind umfangreich. Ein interaktives, ein Reality-Museum soll es werden, in dem die Besucher gebückt einen unterirdischen Kanal durchschreiten, wie ihn auch die Aufständischen nutzten. Ein Obelisk in der Haupthalle soll im Rhythmus des Herzschlags beben, während rundherum die Einschläge von Fliegerbomben zu hören sind. Eine Kapelle und selbst die Hecken der umgebenden Grünanlage sollen die Silhouette der städtischen Ruinenlandschaft von 1944 aufnehmen.

Dagegen wurde vom Bemühen des polnischen Premiers Leszek Miller, auch jener Soldaten zu gedenken, die an der Seite der Sowjets gekämpft hatten, kaum Notiz genommen. Der frühere Kommunist Miller hatte sich zum 60. Jahrestag der Schlacht bei Lenino im Dezember nach Weissrussland begeben, um dort an den Beginn der polnisch-sowjetischen Waffenbrüderschaft zu erinnern. Sein weissrussischer Kollege Siarhej Sidorski, von ausländischen Besuchern nicht gerade verwöhnt, feierte den «Kampfesruhm unserer beiden Völker». In Lenino waren 1943 erstmals jene polnischen Einheiten zum Einsatz gekommen, die unter Stalins Oberbefehl aus polnischen Kriegsgefangenen gebildet wurden. Mit dem Vorrücken der Front wuchsen die I. und II. Polnische Armee auf etwa 350 000 Soldaten an. Ein Teil von ihnen kämpfte in Berlin. Die Serie «Die vier Panzersoldaten und der Hund», seit den sechziger Jahren bis heute in Polen und anderen slawischen Ländern im Fernsehen zu sehen, gipfelt in der Eroberung der Reichshauptstadt: Ein junger Offizier klettert auf das (nachgebaute) Brandenburger Tor und pflanzt auf der Quadriga neben der sowjetischen die polnische Fahne auf.

Von grösserem Erkenntniswert als die Fernsehserie sind die Erinnerungen von Soldaten, die die «Waffenbrüderschaft» aus nächster Nähe erlebt haben. Das private Warschauer Dokumentationszentrum «Karta» hat einige von ihnen veröffentlicht. Darin kommen Soldaten zu Wort, die die Rotarmisten als Kameraden, oft auch als herrische Vorgesetzte erlebt haben und sich doch die Freiheit zum eigenen Urteilen und Handeln bewahrten. Greueltaten an der deutschen Bevölkerung werden ebenso geschildert wie der häufige Streit über die «idiotische sowjetische Taktik des Frontalangriffs», den einer der Autoren beendete, indem er einen Rotarmisten hinterrücks erschoss - was an der Front oft nicht weiter auffiel.

Auch die Leistungen polnischer Soldaten an den Fronten im Westen, von der polnischen Geschichtsschreibung jahrzehntelang vernachlässigt, in Westeuropa, wenn auch aus anderen Gründen, oft übersehen, werden zunehmend ins Blickfeld gerückt. Der Krakauer Publizist Wojciech Pieciak beschrieb ausführlich, wie auf britischem Boden und unter britischem Oberbefehl seit 1940 vier polnische Bomber- und mehrere Jägerdivisionen gebildet wurden. Die polnischen Flieger verteidigten zunächst Grossbritannien, dann bombardierten sie jahrelang deutsche Städte; eine dieser Besatzungen hielt mit 66 Einsätzen den Rekord in der gesamten alliierten Luftwaffe. Doch zur Siegesfeier in London 1945, als es galt, Stalin nicht zu reizen, wurde kein polnischer Soldat eingeladen. Für die Geschichtsschreibung waren diese versprengten Einheiten unter fremdem Oberbefehl bisher kaum ein Thema; doch ist soeben in den Vereinigten Staaten ein Buch über eine der Divisionen erschienen (A Question of Honor: Kosciuszko Squadron. Forgotten Heroes of World War II, New York 2003).

Opfer-Täter-Paradoxie

Tomasz Szarota von der Polnischen Akademie der Wissenschaften sieht mit Genugtuung, dass heute auch die Kollaboration und andere unangenehme Kapitel offen diskutiert werden; er glaubt, die Debatte darüber habe gerade erst begonnen. Doch der Zeithistoriker fürchtet zugleich eine vor allem für die Jugend gefährliche, «masochistische» Selbstzerfleischung im Inneren und eine noch stärkere, wie er sagt, «Verdüsterung des Bildes» von Polen im Ausland. «Wir werden nicht mehr als das Volk gesehen, das im Zweiten Weltkrieg die proportional grössten Menschenverluste erlitten und zugleich die stärkste Widerstandsbewegung im besetzten Europa hervorgebracht hat.» Nachdem der Mythos der «Solidarnosc»- Bewegung in innenpolitischen Kämpfen aufgerieben worden ist, nachdem die Debatte um den Judenpogrom von Jedwabne die Rolle der Polen als «Opfervolk» in Frage gestellt hat, droht nach Szarotas Worten die «marginale Erscheinung der Kollaboration» auch noch den Mythos des Widerstands umzustürzen. Und noch etwas bemerkt Szarota: «Es ist paradox. Während wir in Polen über unsere Kollaboration debattieren, diskutieren die Deutschen über ihre Rolle als Volk der Opfer.»

Der Veteran Czeslaw Chmielewski, vor 79 Jahren im früheren Ostpolen geboren, verlässt sich nicht auf Historiker und Museumsplaner. Der trotz den Metallsplittern in seinem Körper rüstige Mann hat in seinem Haus in der Kleinstadt Witnica, 20 Kilometer östlich der Oder, nicht weit von Frankfurt entfernt, in den vergangenen drei Jahrzehnten selbst ein «Museum der polnischen Armee» aufgebaut. Im April 1945 hatte Chmielewski als Soldat der II. Polnischen Armee die Neisse überschritten, als ein deutscher Panzer vor ihm explodierte. Er konnte gerettet werden, doch aufgrund einer Verwechselung legten Kameraden ihm ein Grab an. Als er dieses in den siebziger Jahren entdeckte, gelobte er, sein Leben fortan «der Geschichte zu widmen». Der ehemalige Berufssoldat konnte alte Verbindungen nutzen, um alle möglichen Geschütze aufzutreiben, die heute, frisch gestrichen und beschriftet, seinen Hof schmücken. Die fünf Zimmer des Erdgeschosses bilden das Museum: Uniformen, Orden, Bilder, Plakate, Waffen vom Ersten Weltkrieg bis zur polnischen Irak-Mission. Die Geschichte hat Chmielewski arg gebeutelt: Erst war er im Krieg in der Heimatarmee, dann geriet er in die kommunistische Konkurrenztruppe. «Heimatarmee, Volksarmee - das ist unwichtig», sagt der Veteran feierlich, als er durch sein Museum führt. «Wichtig ist, dass unter der Uniform ein polnisches Herz schlägt.»


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