Olympia : Das Dopingwunder

von Christof Siemes (DIE ZEIT 38/2000)

S Y D N E Y. Sind die Olympischen Spiele am Ende, bevor sie begonnen haben? Noch ist in Sydney keine Bahn geschwommen, kein Meter gelaufen, kein Tor gefallen, doch bereits steht hinter jeder Höchstleistung, die wir in den nächsten zwei Wochen erleben werden, ein Fragezeichen: War der Athlet sauber?

Doping ist das Thema der Spiele. China zieht 29 Sportler zurück: schwache Form, "unklare Blutwerte". Am Flughafen von Sydney wird ein Trainer mit mehreren Ampullen Wachstumshormonen im Gepäck verhaftet. Der IOC-Präsident Juan Antonio Samaranch hat vor seinem letzten großen Auftritt keine andere Wahl, als zu sagen, wie sehr er sich über all das freue, schließlich bewiesen aufgedeckte Fälle, wie ernst es dem IOC mit Dopingkontrollen sei.

Während er maliziös lächelt, wird das Ergebnis einer vom Weißen Haus finanzierten Studie veröffentlicht. Fazit: Das Hickhack, die Konflikte zwischen nationalen und internationalen Verbänden schaffen ein Klima, "in dem Athleten eher zum Doping angeregt als davon abgehalten werden". Die Forscher der Columbia University schätzen, dass sich in einzelnen Sportarten 90 Prozent der Athleten dopen. Wer mag noch unbefangen dem eleganten Armzug der Schwimmer zusehen?

Zyniker trösten den Fan damit, dass dies die letzten Dopingspiele sein werden - weil schon in Athen 2004 Doping nicht mehr nachzuweisen sein wird. Heute hecheln die Fahnder den Giftmixern hinterher; kaum ist eine sichere Nachweismethode für Epo gefunden, den Wunderstoff der letzten Jahre, der die Sauerstofftransportleistung des Blutes steigert, gibt es neue Mittelchen. Wenn erst das Hormondoping durch Gendoping abgelöst wird, kann der Betrug der Konkurrenten und des Zuschauers nicht mehr auffliegen. Wenn dieser Bizeps, jener Trizeps so schön gewachsen ist, weil es in der Erbsubstanz so vorgesehen ist, verschwindet die Grenze zwischen Natur und Manipulation. Viel fehlt nicht mehr zum Freistilstar mit Schwimmhäuten, zum Radsprinter mit aerodynamischem Kopf.

Und sage keiner, so weit würden sich die Athleten und Trainer von ihrem, unserem Erfolgshunger nicht treiben lassen. Auch die Brutalmethoden aus der Frühzeit der Leistungsförderung, als mittels Hormonpillen aus talentierten Mädchen beinahe Jungs wurden, hätte man nicht für möglich gehalten. Dagegen wirkt ein bisschen Fummeln an der Erbsubstanz geradezu klinisch rein. Vielleicht gibt es in Zukunft zwei Sorten Olympische Spiele: einmal für Unmanipulierte, die 100 Meter nicht schneller als in elf Sekunden laufen können und nach einem Marathon erschöpft sind, und einmal für Mutanten aller Art.

Erstaunlich bleibt nur, dass weder die realen Dopingfälle noch dieses gar nicht so abstruse Schreckensszenario Olympia Schaden zufügen können. Die Spiele gehorchten immer selbst am meisten dem Motto "höher, schneller, weiter". Immer neue Sportarten kamen hinzu (diesmal sind es Triathlon, Taekwondo und Trampolinspringen), die Stadien wurden größer, die Infrastruktur aufwändiger, die Fernsehrechte teurer, die Berichterstattung umfassender (die deutschen Sender berichten pro Tag 27 Stunden aus Sydney). Das Produkt Olympia funktioniert, auch wenn sein eigentlicher Inhalt - die sportlichen Leistungen - nicht mehr 100 Prozent authentisch ist. Woran liegt das?

Zum einen ist da die simple, unzerstörbare Faszination. Der Thrill des Wettkampfs, die Schönheit der Bewegung, die Emotionen in Sieg oder Niederlage, an denen wir teilhaben dürfen, ohne zu Höchstleistungen fähig zu sein. Stellvertretend für uns erweitern Sportler die Grenzen dessen, was Menschen möglich ist: Noch wollen wir lieber ignorieren, dass dies ohne Manipulation vielleicht unmöglich ist.

Zum anderen ist die nackte physische Präsenz des Sports eine verlässliche, im Wortsinn begreifbare Größe in einer virtueller werdenden Welt. Das Geld, das wir verdienen, die Firmen, für die wir arbeiten, selbst die Werbefiguren, die uns etwas verkaufen wollen, haben keine Gestalt mehr. Dagegen ist selbst der moderne Sport archaisch, aber vertraut.

Und schließlich begreift die Welt Olympia als ein ideales Bild ihrer selbst. In der Jugendherbergsatmosphäre des olympischen Dorfes wird bewiesen, dass alle miteinander in Frieden leben können. Das klingt pathetisch, aber nur dieses Pathos erklärt, warum alle Welt sich plötzlich ernsthaft für etwas so Merkwürdiges wie Synchronschwimmen, Baseball oder Dressurreiten begeistert.

Fußball sei die einzige verbliebene Weltreligion, hat der französische Philosoph George Steiner neulich in einem Gespräch mit dieser Zeitung gesagt. Man muss noch weitergehen: Der Sport insgesamt, mit den Olympischen Spielen als Hochamt, ist die Weltreligion. Das oberste Gebot - "Dabei sein ist alles" - erlaubt jedem Land und letztlich jedem seiner Bürger die Teilhabe und gibt ihm das Gefühl, einmal gleichberechtigt zu sein mit den Mächtigen, Reichen, Glücklichen. Ähnlich werden auch die einzelnen Sportarten erhoben. Einmal genießen auch Badminton und Bogenschießen weltweite Aufmerksamkeit. Außenseiter werden zum Mittelpunkt; das rührt und adelt alle, die am Rand stehen, und das sind schließlich die meisten.

Die große Verheißung der Religion Olympia lautet: Auch der Kleinste kann einmal der Erste, Größte, Stärkste sein. Wenn der mongolische Judoka Dorjpalamiin Narmandakh eine Goldmedaille gewinnen sollte (was möglich ist), wird das nicht nur für die Mongolen, sondern auch für die großen, dann unterlegenen Nationen ein heiliger Moment sein: Mit der Größe des Sieges korrespondiert ein Triumph der Toleranz, der nur ganz leicht gönnerhafte Züge trägt. Erste werden Letzte sein und Letzte Erste - in dieses paradiesische Bild fügen wir uns alle ein, für zwei Wochen.

Die Gläubigen sind fromm, aber nicht naiv - ein paar fiese Tricks müssen bleiben, sie verleihen dem Ideal die nötige Bodenhaftung. Eine Welt voller Heiliger hält ein Gläubiger gar nicht aus, also braucht er auch Dopingschurken, deren niedere Motive er einerseits nachvollziehen, über die er sich andererseits erheben kann. Solange Olympia derart menschlich bleibt, wird es eine Zukunft haben. Spiele der Mutanten werden wir akzeptieren, sobald wir selbst welche geworden sind.


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