Determinanten der ukrainischen Politik (Teil 1)

von Andreas Wittkowsky, Bonn, 1999

  • Die Ukraine ist seit 1991 ein Nationalstaat, der noch immer in einem Transformationsprozeß steckt.

  • Die Grundlage der ukrainischen Nationalstaatsbildung liegt in einem sogenannten ‘historischen Kompromiß’, den nationalistisch und nichtnationalisitsch orientierte Bevölkerungskreise 1991 schlossen, der aber auf wirtschaftlich unterschiedliche Erwartungen gründet.

  • Daraus resultierende wirtschaftliche Enttäuschungen sind der Schlüssel zum Verständnis, warum die angekündigten Reformen nach der Unabhängigkeit ausblieben und der wirtschaftliche Schock stattdessen durch sogenanntes ‘rent-seeking’ und Simulationen verstärkt wurde.

  • Die Bevölkerung im Osten des Landes erlebte eine ‘doppelte Enttäuschug’. Daraufhin zerbrach der nationale Konsens bereits in den ersten beiden Jahren der Unabhängigkeit. Politische Kräfte mit konkurrierenden nationalen Orientierungen gewannen an Zulauf und separatistische Bewegungen stellten den Bestand des Nationalstaats in Frage.

  • Das Jahr 1994 brachte im Zuge der Parlaments-, Präsidents- und Regionalwahlen einen umfassenden Elitenwechsel mit sich. Wirtschaftsreformen wurden eingeleitet aber nicht konsequent durchgeführt. Die Ergebnisse sind daher äußerst zwiespältig.

  • Obwohl sich bis heute nur wenig an der ‘doppelten Enttäuschung’ der Bevölkerung geändert hat, entwickelten die entscheidenden Regionaleliten ein pragmatisches Interesse am neuen Nationalstaat, so daß die Ukraine heute als politische Einheit gefestigt ist.

  • Die ausstehende wirtschaftliche Konsolidierung bleibt unter diesen Bedingungen die existenzielle Herausforderung der ukrainischen Gegenwart.

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Überblick

„Noch ist die Ukraine nicht gestorben" – gleich mehrere Autoren leiteten ihre jüngsten politischen Analysen der ehemaligen Sowjetrepublik mit dem Anfang ihrer Nationalhymne ein. Ursprünglich als trotziges Zeichen des frühen ukrainischen Nationalismus gedacht, war in diesem Fall eher Pessimismus Quelle der Inspiration, denn weder die wirtschaftliche noch die politische Lage bieten gegenwärtig übermäßigen Anlaß zur Hoffnung. Im wesentlichen hausgemacht – aber verstärkt durch die Rubelkrise – bewegt sich das größte osteuropäische Land im achten Jahr seiner Unabhängigkeit am Rand des Staatsbankrotts. Nach den im März 1998 durchgeführten Wahlen zur Werchowna Rada tritt – wie schon im vorherigen Parlament – nur eine kleine Minderheit der Abgeordneten für die notwendigen wirtschaftspolitischen Reformschritte ein. Stattdessen finden die politischen Auseinandersetzungen schon heute unter dem Vorzeichen der für Oktober 1999 terminierten Präsidentschaftswahl statt. Sie drohen, die politische Handlungsfähigkeit der begrenzt reformfreudigen Exekutive durch den Widerstand gegen Amtsinhaber Leonid Kutschma vollends zu unterminieren.

Angesichts dieser Unsicherheiten ist eine detaillierte Prognose über die mittelfristige Entwicklung der Ukraine gewagt. Es lohnt sich aber, in der jüngeren Geschichte des Landes einige grundlegenden Determinanten seiner Politik zu analysieren, die auch die zukünftige Entwicklung prägen werden:

Der ‘Historischer Kompromiß’:

Der nationale Konsens zur Zeit der 1991 durchgesetzten Unabhängigkeit der Ukraine beruhte auf einem fragilen ‘historischen Kompromiß’ zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und ihren Eliten. Ihr Verhältnis zum Nationalstaat und ihre politischen Orientierungen werden bis heute von sehr unterschiedlichen Erwartungen bestimmt, die einen Konsens über die Entwicklungsrichtung des Nationalstaats auch in Zukunft unwahrscheinlich machen. Das politische Handeln zugunsten einer nationalen Entwicklungsorientierung wird deshalb ausgesprochen schwach bleiben.

Rent-seeking und Simulationen:

Aufgrund des fehlenden Konsenses ist die ukrainische Politik stark von wirtschaftlichen, oft kurzfristigen Interessen geprägt. Dabei stehen der Verteilungskampf um die Ressourcen und rent-seeking-Strategien im Vordergrund. Um ihre wahren Intentionen in diesem Verteilungskampf zu verbergen, greifen die Akteure vielfach auf Simulationen – die moderne Form der Potemkinschen Dörfer – zurück. Im Gegensatz zu technischen Simulationen – die künstlich möglichst realitätsnahe Zustände erzeugen – sollen gesellschaftliche Simulationen die Realität durch Vorspiegelung falscher Tatsachen verdecken, um daraus politischen oder wirtschaftlichen Gewinn zu ziehen. Tatsächliche Reformpolitiken haben nur dann eine Chance, wenn sich im politischen Prozeß Gruppen durchsetzen, deren Eigeninteressen mit Transformationserfordernissen übereinstimmen.

Die Dominanz interner Prozesse:

Die ukrainischen Akteure konzentrieren sich im wesentlichen auf die materielle Logik der internen Prozesse. Deshalb hat sich auch im Außenverhältnis der Ukraine zunehmend pragmatisches Interessenhandeln durchgesetzt, wo direkt nach der Unabhängigkeit noch eine stark ideologisch gefärbte Auseinandersetzung über die Abgrenzung der Ukraine von Rußland dominierte. Inzwischen wird das Außenverhältnis eindeutig von den durchaus unterschiedlichen wirtschaftlichen Interessen der relevanten politischen Akteure geprägt: dem Schutz vor Konkurrenz bei Privatisierungen und Marktaufteilungen, den Exportinteressen der Rüstungsindustrie oder den Importinteressen der monopolistischen Energieunternehmen. Umgekehrt wird die Unabhängigkeit der Ukraine nicht von außen, sondern durch den internen wirtschaftlichen Mißerfolg bedroht.

Diese Thesen sollen im folgenden Text in drei Abschnitten verdeutlicht werden. Abschnitt 1 widmet sich der Periode, in der die andauernden Grundlagen für dien ukrainischen Transformationspfad geschaffen wurden (1991-94). Abschnitt 2 zeichnet die Veränderungen nach, die der umfassende Elitenwechsel im Zuge der Wahlen 1994 mit sich brachte. Im Abschnitt 3 erfolgt schließlich eine Bestandsaufnahme der aktuellen Probleme und ein Ausblick auf die wahrscheinliche Entwicklung.


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