CHINA WIRD ZUM MENETEKEL

Warum sich die Industrienationen verzockten

von Torsten Riecke (Handelsblatt, 08. August 2018)

Das Reich der Mitte untergräbt mit seinem verdeckten Staatskapitalismus die Weltwirtschaftsordnung. Naiv hat man geglaubt, die WTO wäre in der Lage, China im Zaum zu halten.

Selbst gute Exportzahlen können die Stimmung in der deutschen Industrie nicht aufhellen. Als das Statistische Bundesamt gestern ein kräftiges Wachstum der deutschen Ausfuhren im Juni meldete, warnte der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) vor einem eskalierenden Zollstreit zwischen den USA und China, unter dem auch deutsche Unternehmen leiden würden.

Der Handelskrieg zwischen der alten und der neuen Supermacht entscheidet nicht nur über das Wohlergehen der deutschen Wirtschaft, sondern auch über das Schicksal des globalen Aufschwungs.

Dass es zu einem gefährlichen Showdown zwischen Washington und Peking kommen konnte, liegt nicht nur an Donald Trump. Der US-Präsident hat mit seiner nationalistischen „America first“-Politik zwar dafür gesorgt, dass der Handelskonflikt mit dem aufstrebenden Reich der Mitte jetzt offen ausgebrochen ist und mit protektionistischen Mitteln ausgefochten wird.

Die Saat für die aktuelle Konfrontation wurde jedoch bereits 2001 beim Beitritt Chinas zur Welthandelsorganisation (WTO) gelegt. Viel zu blauäugig haben damals die großen Industrienationen ihre Tore für Produkte „made in China“ geöffnet und ein Auge zugedrückt, wenn es um Fairness im Handel ging.

Insbesondere der Westen war euphorisiert von Chinas riesigem Absatzmarkt mit rund 1,4 Milliarden Konsumenten. Dass man vor 17 Jahren jedoch gleichzeitig den Weltmarkt für ein staatskapitalistisches Regime geöffnet hat, das seine Unternehmen mit massiven Subventionen im weltweiten Wettbewerb dopt, keine Scheu vor dem Diebstahl geistigen Eigentums hat, die eigenen Märkte mit Zöllen und nicht-tarifären Handelshemmnissen verbarrikadiert, von Auslandsinvestoren beim Markteintritt die Abgabe ihres technischen Know-hows erzwingt und die Folgen staatlicher Fehlinvestitionen wie beim Stahl durch Dumpingexporte auf die Weltmärkte abwälzt – das alles hat man sich 2001 nicht träumen lassen.

Die chinesische Industrie hat in wichtigen Schlüsselindustrien den Westen überholt

Vielmehr haben Amerika und Europa darauf vertraut, dass sich China im Zuge seiner wirtschaftlichen Entwicklung immer stärker dem westlichen Wirtschaftsmodell annähern und dann auch an dessen Spielregeln halten würde. Entsprechend naiv hat man geglaubt, die WTO wäre in der Lage, den chinesischen Drachen im Zaum zu halten.

Das ist vermutlich der größte wirtschaftspolitische Trugschluss der vergangenen 20 Jahre, mit gravierenden wirtschaftlichen, sozialen und politischen Folgen. Der wirtschaftliche Erfolg Chinas hat es den Kommunisten in Peking nicht nur erlaubt, ihre politische Diktatur aufrechtzuerhalten.

Vielmehr konnte die chinesische Wirtschaft, vom Staat geschützt und gesteuert, in wichtigen Schlüsselindustrien wie Solartechnologie, Elektromobilität, Biomedizin, Robotik und künstlicher Intelligenz auch zu den etablierten Industrieländern aufschließen oder hat diese sogar schon überholt.

Aller Unmut darüber, dass die Chinesen dabei foul spielen, ist entweder in den endlos mahlenden WTO-Mühlen versandet oder wurde von Politikern und Unternehmern aus Angst, den Zugang zum Riesenmarkt zu verlieren, heruntergeschluckt. Selbst Schwergewichte der digitalen Wirtschaft wie Google und Apple gehen vor Peking in die Knie.

Der Suchgigant denkt angeblich darüber nach, unter Aufsicht der chinesischen Zensoren ins Reich der Mitte zurückzukehren. Und Apple-Chef Tim Cook sieht Amerika bereits in einer Schicksalsgemeinschaft mit China, die durch den Handelskonflikt nicht aufs Spiel gesetzt werden dürfe.

Aus diesem Dilemma gibt es nur zwei Auswege: Entweder werden die aktuellen Handelskonflikte im freien Spiel der Kräfte entschieden. Oder die WTO modernisiert ihr Regelbuch, um China in die Schranken zu weisen. Der chinesische Präsident Xi Jinping setzt nämlich ähnlich wie Trump auf das Recht des Stärkeren.

„America first“ und „China first“ sind zwei Seiten derselben Medaille – mit dem Unterschied, dass Trump sich offen dazu bekennt, während Xi seine nationalistische Wirtschaftspolitik hinter schönen Worten über den Freihandel versteckt.

China kann nicht darauf pochen, endlich als Marktwirtschaft anerkannt zu werden, und weiter die marktwirtschaftlichen Spielregeln verletzen. Der Hinweis darauf, dass auch die USA und Europa im Laufe ihrer wirtschaftshistorischen Entwicklung keine Musterschüler waren, greift hier zu kurz. China befindet sich in vielen Schlüsselbereichen bereits auf Augenhöhe mit den führenden Industrieländern und bedarf hier keiner Entwicklungshilfe mehr.

Europa tut deshalb gut daran, die von EU-Kommissionspräsident Juncker mit Trump verabredete Modernisierung der Handelsregeln zügig und entschlossen in Angriff zu nehmen. Nur so lässt sich eine Eskalation im Handelskrieg zwischen China und den USA dauerhaft vermeiden.