50 JAHRE VOLKSREPUBLIK CHINA

GEÖFFNETE HORIZONTE

China setzt auf die wirtschaftliche Kraft der Überseechinesen

von Ole Döring (Neue Zürcher Zeitung, 1. Oktober 1999)

Seit einiger Zeit findet in der Volksrepublik China eine kulturell, sozial und geschichtlich locker verbundene Volksgruppe zunehmende Beachtung: die Überseechinesen. Diese ethnischen Chinesen mit Wohnsitz entlang der Peripherie des Asien-Pazifik-Raumes werden massgeblich zur Erklärung des wirtschaftlichen Wachstums in China sowie in den benachbarten Ländern Ostasiens herangezogen.

Teils direkt, teils über Zwischenstationen wie Taiwan, Hongkong, Vietnam, Thailand, Malaysia und Singapur ziehen chinesisch-stämmige Kaufleute und Unternehmer kaum wahrnehmbar die Fäden der rätselhaften Choreographie des Aufbaus der Volksrepublik. Sie praktizieren dabei einen kapitalistischen Stil, der durch seine stille Effizienz und Ideologieferne kaum dramatischer dem gewohnten Bild vom «Sozialismus chinesischer Prägung» widersprechen könnte. Was verbirgt sich hinter der vereinfachten Rede von den Überseechinesen? Wie sind diese Gruppen zum Ruf gekommen, über buchstäblich unbeschränkte materielle Mittel und unverschämtes Geschick im Wirtschaften und Überleben in feindlicher Umgebung zu verfügen?

Wenn wir China als das «Reich der Mitte» bezeichnen, richten wir den Blick auf das Landesinnere, vornehmlich mit der Hauptstadt Beijing und der «Verbotenen Stadt» als Fluchtpunkt. Das ist gut chinesisch. Es ist aber auch eine grandiose Verkürzung der Geographie, der Politik und der Kulturen Chinas auf ein lange Zeit staatstragendes China-Bild. Heute stellt sich diese Verkürzung als eine unhaltbare Verzerrung der chinesischen Wirklichkeiten dar. China an der Schwelle zum 21. Jahrhundert entfaltet eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungsdynamik, die uns ein Land jenseits des Isolationismus verspricht, der immerhin von Kaisers Zeiten bis hin zu Mao Zedong reichte. Das gilt besonders für die beiden Jahrzehnte vor dem (vorläufigen) Einbruch des Aufschwungs in Ost- und Südostasien im Herbst 1998 - und es gilt nach wie vor: China erscheint wenig betroffen von den Zusammenbrüchen in der Region.

HEREINBRECHENDE RÄNDER

Dieser Befund ist eng mit dem Abschied von einer Haltung verknüpft, die bereits zu Zeiten der Ming als «Seeverbotspolitik» praktiziert und dann von der mandschurischen Qing-Dynastie im 17. Jahrhundert unter dem euphemistischen Titel «Verlegung der Grenzen» an der Südostküste mit dem Verbot jeglicher privater Aussenkontakte fortgesetzt worden war. Während der Blick aufs Festland einen Eindruck von Behäbigkeit erzeugen kann, erschliesst die Umkehrung der Ansicht auf die Ränder und das Meer aufregende Perspektiven. Das ergibt sich schon aus der Anordnung der boomenden Sonderwirtschaftszonen. In der Tradition der Vertragshäfen des 19. Jahrhunderts bilden diese eine Kette freier Industrie- und Handelsplätze entlang der chinesischen Peripherie, allesamt im Küstenbereich. Mit der Ernennung von Shenzhen, Zhuhai, Xiamen und Shantou zu Sonderwirtschaftszonen hatte sich Deng Xiaoping 1979 für eine Strategie der wirtschaftlichen Öffnung entschieden und zugleich auf die Karte der Auslands- oder Überseechinesen gesetzt.

Die Heimat dieser rund 60 Millionen Menschen bzw. ihrer Vorfahren liegt überwiegend in eben diesen südlichen Landesteilen, im Perlflussdelta um Guangzhou (Kanton), bei Hongkong und Macao. Rüdiger Machetski vom Hamburger Institut für Asienkunde spricht von einer regelrechten Kultur des «küstenorientierten Südchinesentums». Dieser Landstrich ist seit mehr als zwei Jahrtausenden stark vom maritimen Austausch geprägt. Überseehandel, Schmuggel, Piraterie und Emigration haben hier eine lange Geschichte. Der nach 50 Jahren Volksrepublik China festzustellende wirtschaftliche und soziale Wandel wird heute durch enorme materielle und logistische Investitionen aus Übersee getragen. 1996 wurde allein das Barvermögen der Überseechinesen auf 2 Billionen US-Dollar geschätzt, mehr als das Geld der 1,3 Millionen Menschen in der VR China. Der Anteil der chinesischstämmigen Ausländer an den Investitionen auf dem Festland liegt bei 80%; zum Vergleich: Deutschland bescheidet sich mit einem Anteil von 0,25%. Diese Wirtschaftsmacht ist den Herausforderungen der offenen chinesischen Märkte so souverän gewachsen, dass sie zu einem dominierenden Faktor der Weltwirtschaft werden kann - sofern sie dies nicht bereits ist.

Ein besonders faszinierendes Kapitel stellt die «chinesische Diaspora» dar. Chinesische Hochburgen ausserhalb Südostasiens sind besonders in Toronto, Vancouver, Hawaii, New York, Los Angeles und in dem von ihnen Jiujinshan (Alte Goldmine) genannten San Francisco zu finden. Das kanadische Vancouver kokettiert seit der anstehenden Heimholung der Kronkolonie in die Volksrepublik China 1997 als wichtigste Zufluchtsstätte Hongkonger Exilchinesen mit dem Spitznamen «Hongcouver». Andererseits bemühte man sich in Australien zeitweise, zu Asien gerechnet zu werden - und damit zur magischen Zone des «ostasiatischen Wirtschaftswunders», von dem die Weltbank noch 1993 zu melden wusste. Wissenschaft und Massenmedien hatten damals das Phänomen schlagartig in den Rang einer futuristischen Kuriosität erhoben. Obwohl es den auf Diskretion bedachten Überseechinesen nur recht sein könnte, wäre es eine gravierende Fehleinschätzung, diesen Wirtschaftsfaktor im derzeitigen konjunkturellen Abschwung wieder aus dem Blick zu verlieren. Die überseechinesisch organisierten Unternehmen denken in Zeiträumen von Generationen, und die Weltmärkte des 21. Jahrhunderts werden etwa nach Einschätzung des Sinologen Jürgen Franzen nachhaltig von ihren langfristig angelegten Initiativen geprägt sein.

LOYALITÄTSNETZWERKE

Der Mythos der Überseechinesen hängt mit der sprichwörtlichen Verborgenheit ihrer Operationen, ihrer Effizienz und Allgegenwart zusammen, die sich aus weitverzweigten Loyalitätsnetzwerken, Diversifikationsstrategien und extrem kurzen Reaktionszeiten auf Veränderungen der Marktlage speist. Sie haben keinen Staat, keine gemeinsame Muttersprache, keine Flagge, keine Grenzen. Gemeinsam ist ihnen ein starker Bezug zu den ethnischen Ursprüngen sowie ein unbedingter Lebens- und Wachstumswille und ein geschichtlich gewachsenes Misstrauen gegen den Staat. Kaum hatte sich China entschieden, auf die Liberalisierung zu setzen, strömte Kapital ins Land zurück, das während einer der Vertreibungswellen dieses Jahrhunderts abgezogen worden war. Prompt wurden lange ruhende Loyalitätspflichten eingefordert. Grossstädte wie Shanghai und Guangzhou (Kanton) hängen nun an diesem Tropf und erblühen in atemberaubender Rücksichtslosigkeit auf das urbane Fassungsvermögen oder gewachsene Stadtbilder unter dem wohlkalkulierten Infusionssegen aus Übersee.

Das unternehmerische Geschick der Überseechinesen wird vielfach beschworen und gelegentlich geradezu mystifiziert. Der Hongkonger Ökonom S. Gordon Redding sieht in ihrer Wirtschaftsweise den verkörperten «Geist des chinesischen Kapitalismus». Demnach mischen sich unter ökonomisches Raffinement auch kulturelle Gesichtspunkte. Institutionell bleibe dieser Erfolgskapitalismus eingebettet in die chinesische Kultur. Namentlich die Bindekräfte der Familienclans werden in diesem Sinne ins Spiel gebracht. Gewachsen in jahrzehnte-, in vielen Fällen sogar jahrhundertelangen Erfahrungen mit politischer Willkür und verbunden durch ein undurchschaubares Netzwerk aus Familienbanden, Kapitalverflechtungen und Wohlfahrtseinrichtungen, haben diese Strukturen die Zeitläufte unauffällig überlebt und wurden in ihren ungeschriebenen inneren Regeln fortlaufend perfektioniert.

Dazu gehört auch ein soziales Sicherungssystem, das die Angehörigen chinesischer Kommunen überall auf der Welt in den Ruf von Idealbürgern gebracht hat. Die kulturellen Leistungen der Chinesen im Ausland gehen weit über die Verbreitung von China-Restaurants und Qigong hinaus. Fleissig, erfolgreich und nutzbringend widmen sie sich neben der Profitmaximierung nicht nur der Ausbildung und dem Austausch von Informationen, sondern bieten darüber hinaus gesellschaftliche Aktivitäten und psychosoziale Betreuung ihrer Angehörigen. Von den amerikanischen Chinatowns bis zu der auf etwa 10.000 Menschen geschätzten chinesischen Gemeinde in Berlin gelten sie als überaus sozialverträglich.

Das Geheimnis dieses Zusammenhaltes verbirgt sich für viele Fachleute hinter dem Stichwort «Guanxi» (Beziehungen). Dieses chinesische Wort zählt zu den wenigen, die Einzug in den amerikanischen Jargon gefunden haben. Demnach erfüllen persönliche Verpflichtungen die Funktion, Ordnungssicherheit auch dort zu gewährleisten, wo zuverlässige rechtliche oder politische Rahmenbedingungen nicht bestehen. Die Zahl derartiger Netzwerke wird heute allein in Südostasien auf etwa sechstausend geschätzt. Reddings Erfolgsformel für diese informellen Institutionen lautet: «Das chinesische Familienunternehmen ist ein Mechanismus aus Reaktionen auf wirtschaftliche Milieus, die hochgradig politisiert, unbestimmbar, willkürlich und unstrukturiert sind»; sie sind geprägt von der Abwesenheit rechtsstaatlicher Verhältnisse. Diese Beschreibung trifft weitestgehend noch immer auf das heutige China zu.

DIE DUNKLE SEITE

Die dunkle Seite des Prinzips der intelligenten Selbsterhaltung um jeden Preis schlägt sich in Form notorischer Geheimorganisationen nieder, von denen die Tongs und die Triaden in puncto Effizienz in den Branchen Erpressung von Schutzgeld, Menschen- und Drogenhandel herausragen. Ein internes Sanktionssystem sorgt dafür, dass die Loyalität aller Angehörigen sichergestellt bleibt - natürlich diskret und nicht immer im Sinne des wechselseitigen Verpflichtungsgedankens der jeweiligen «Schutzgemeinschaft». Es ist eine wohl nie zu klärende Frage an die Historiker, ob es diese kriminelle Seite gewesen ist, die das feindselige Klima gegenüber den Überseechinesen erzeugt hat - oder umgekehrt.

Eine nicht unerhebliche Rolle dürfte dabei die moralische Diskriminierung des Standes der Kaufleute durch den konfuzianischen Mainstream spielen. Das gilt ebenso für die Tatsache, dass es den Regenten der Ursprungs- und Gastgeberländer dieser Menschen nie schwergefallen ist, sich der Früchte ihrer Arbeit zu bemächtigen, routinemässig unter Einsatz von Gewalt und Vertreibung. Die jüngsten Ausschreitungen gegen die chinesische Minderheit in Indonesien stehen in dieser Tradition, wenn auch der chinesische Blutzoll diesmal relativ begrenzt geblieben ist.

Nicht nur ihr heterogenes Geflecht aus legalen und illegalen Verbindungen hat die Überseechinesen regelmässig zu Sündenböcken werden lassen. Ihre ethnische und sprachliche Andersartigkeit sowie ihr blosser Erfolg haben das Ihrige dazu beigetragen. Berührungsängste mit «der chinesischen Kultur» sind besonders dort nachzuvollziehen, wo Chinatowns entstanden sind, die einer Assimilation entgegenstehen. Dass diese Ghettos regelmässig auf Druck der Gastgeber gegründet worden waren, übersieht man leicht. Die Überseechinesen werden deshalb von der in Shanghai geborenen Exilchinesin und Geschichtspublizistin Lynn Pan mit der jüdischen Diaspora verglichen. Für den Autor eines bahnbrechenden Buches über die Geschichte der Überseechinesen, Sterling Seagrave, ist die «chinesische Diaspora» zuerst das Produkt eines jahrhundertealten Staatsterrorismus der chinesischen Zentralregierung gegen Kaufleute, besonders gegen Händler mit Interessen im Ausland oder in Übersee.

Zweifellos kann man das Phänomen Überseechinesen nicht ohne seine beiden wichtigsten Entstehungsgründe verstehen: Arbeitsmigration und Flucht. Vor über 2000 Jahren kamen die ersten Chinesen in den Häfen Südostasiens an. Sie waren Nachkommen von politischen Flüchtlingen und Verbannten aus den Königreichen im Norden; viele waren Händler, gehörten also zu einer abschätzig angesehenen Gesellschaftsschicht - die neben ihrem Sachverstand Geld, Initiative und Arbeitskraft mitbrachte. Die Vorfahren der Mehrzahl der heutigen Überseechinesen sind in den letzten 150 Jahren ausgewandert. Briten und Amerikaner benutzten chinesische Fremdarbeiter für Projekte wie den Panamakanal oder die amerikanische Eisenbahn - als «Kulis», Billigarbeiter für extreme körperliche Tätigkeiten; chinesische Kontingente kämpften in den Weltkriegen auf europäischem Boden für Frankreich und Grossbritannien. Innere Wirren Chinas sorgten dabei für einen ständigen Nachschub an Flüchtlingen: 1661 hatte der junge mandschurische Kaiserhof keine Verwendung mehr für seine imposante Hochseeflotte und erklärte den Küstenstreifen im Südosten des Landes kurzerhand zur verbotenen Zone. Dörfer, Schiffe und Felder wurden verbrannt, und wer angetroffen wurde, musste mit seiner Hinrichtung als Hochverräter rechnen.

KATALYSATOREN

1949 vertrieben die Kommunisten viele Millionen aus den florierenden Küstenstädten, besonders aus Shanghai. Ungewollt drängten sie damit Katalysatoren für die sich gerade entwickelnden Wirtschaften nach Hongkong und Taiwan. Nachdem offene Repressionen gegen Hongkong 1997 ausblieben, kehrten viele Exilanten von ihrer nunmehr zweiten Flucht zurück - nicht ohne die Sicherheit eines zweiten Passes im Gepäck - und fuhren mit Nachdruck damit fort, auf dem Festland zu investieren. Sie leben weiterhin von der Hoffnung, gebraucht zu werden. Das lässt sie freilich nicht die antichinesischen bzw. antikapitalistischen Pogrome vergessen, die zum Beispiel 1965 in Indonesien 300.000 bis 500.000 Opfer gefoltert hatten; oder die Greueltaten an der chinesischen Minderheit in Vietnam nach Abzug der Amerikaner. Stets wurde das Eigentum der missliebigen «Schmarotzer» konfisziert. Derartige Reminiszenzen nähren das generelle Misstrauen in den Staat und stärken die Neigung, sich auf eigene Regeln und «Guanxi» zu verlassen.

Für viele Überseechinesen sind der globale Markt und das globale Dorf längst selbstverständlich. Sie haben mehrere Wohnsitze, ihre Nachkommen studieren als «Fallschirmkinder» an internationalen Elite-Universitäten und fliegen während der Ferien ein. Berufstätige Ehepaare sehen sich nur zu Familienfesten, persönliche Beziehungen werden unabhängig vom Wohnort geführt - Handy und Internet machen es möglich. So entfaltet auch die Verteilung von materiellem und Human-Kapital im pazifischen Raum eine neue Dynamik. Der nach 1949 in China spürbare Verlust an Strukturen, Geld und Kontakten, besonders der brain drain, beginnt sich umzukehren. Nicht mehr nur die Aufnahmeländer profitieren davon. Das offene China kommt in den Genuss der Rückflüsse des ins Ausland geflüchteten Kapitals - mit deftigen Zinserträgen. Die mittelfristige Auslagerung von Kapital jeder Art entpuppt sich als ertragreiche Investition. In vielen Bereichen der Wirtschaft, in den Naturwissenschaften, Ingenieurs- und Technik-Berufen spricht man bereits von einer Phase des brain gain.

So werden die Überseechinesen heute zu regen Gliedern, welche China mit der Weltgesellschaft verbinden. Fern davon, ihr Exil bloss zum Überwintern zu nutzen, knüpfen sie die globalen Netzwerke, die für die transnationalen Ökonomien im 21. Jahrhundert entscheidend sein werden. Nebenbei betätigen sie sich als Botschafter Chinas, eines neuen China, dessen Antlitz reicher an Spielarten des Menschlichen sein dürfte, als wir es vom «Reich der Mitte» zu denken gewohnt sind.


zurück zu Der Weg des Tees

heim zu Reisen durch die Vergangenheit