Die Bruderhofbewegung kehrt
nach Deutschland zurück

von Erika Altgelt (28. Juni 2001)

An Versuchen, das Zusammenleben der Menschen vom Gemeineigentum als Grundlage her neu zu ordnen, hat es im Lauf der Geschichte nicht gefehlt. Soweit sie das auf die Familie gegründete bürgerliche Leben in der Welt betrafen, sind sie, angefangen bei dem berühmten Jesuitenstaat in Paraguay im 17. Jahrhundert, alle gescheitert. Wo die Menschen sich einigermaßen frei entscheiden können, hat sich überall das natürliche Streben nach persönlichem Eigentum auf die Dauer stärker erwiesen als die gemeinschaftsbildende Kraft des gemeinsamen Eigentums am Ertrag der gemeinsamen Arbeit. Wenn der Mensch von seiner persönlichen Leistung keinen persönlichen Nutzen hat, geht ihm in aller Regel die innere Beziehung zu seiner Arbeit, zu der gemeinsamen Aufgabe und am Ende sogar zu seinen Mitmenschen verloren. Als ausschlaggebend hat sich immer wieder der Wunsch gezeigt, die Frucht der eigenen Lebensarbeit den eigenen Nachkommen zu vererben. Proletarier war im alten Rom bekanntlich derjenige, der nichts zu vererben hatte.

Trotzdem haben sich von jeher an vielen Stellen auch der zivilisiertesten Welt kleine Gruppen zusammen gefunden und behauptet, die familienhaft und in der Welt, dennoch aber aus freiem Entschluß im Gemeineigentum zusammen leben - bis in unsere Zeit. Die Formen dabei sind denkbar verschieden. Das Motiv ist entweder wirtschaftliche Zweckmäßigkeit - wie im Falle der israelischen Kibbuzim, deren Mitglieder offen lassen, ob sie unter anderen Bedingungen ebenso leben würden als denen, die ihr opfervolles Werk, den verwüsteten Boden ihres einst fruchtbaren Landes zu erlösen, von ihnen verlangt - oder es sind vom Urchristentum her bestimmte Motive wirksam. Wenn eine solche Gruppe entgegen der überlieferten wirtschaftlichen Grundvoraussetzung einer höheren Sozialordnung lebt, ohne Tendenz, die Wirtschaftsform, die sie für sich wünschen, anderen aufzuzwinge - wo käme da ein Recht her, es ihr zu verwehren oder auch nur auf sie herabzusehen?

Eine solche Gruppe, die sich, wiewohl zusammengeschmolzen, durch Jahrhunderte gehalten hat, sind die heute in Kanada, Süd-Dakota, Montana und Mexiko angesiedelten Hutterschen Brüder. Sie sind die Reste einer Sekte von Anhängern des Reformators Hutter, die, ursprünglich über verschiedene Gegenden Deutschlands zerstreut, in den Religionskämpfen des frühen sechzehnten Jahrhunderts Zuflucht in Mähren und der Slowakei fanden,wo sie die für die damalige Zeit nicht unbeträchtliche Zahl von einigen 40000 Mitgliedern erreichte. Im achtzehnten Jahrhundert wanderte ein Teil von ihnen nach Rußland, während des ersten Weltkrieges der Rest nach Übersee aus. Heute leben die Hutterianer als eine den Mennoniten und dem frühen Quäkertum verwandte Gruppe noch zu etwa 9000 Seelen auf insgesamt etwa achtzig Farmen - wie ihre Väter in voller Güter- und Lebensgemeinschaft. Zuwachs von außen scheinen sie nicht zu haben.

Im Anschluß an die Gedankenwelt und die Lebensformen der Hutterschen Gemeinschaft, aber im übrigen unabhängig von ihr, gründete nach dem ersten Weltkrieg, der die Sprünge in der anscheinend so sicher gefügten europäischen Zivilisation offenbar gemacht hatte, der Deutsche Eberhard Arnold die Bruderhofbewegung. Sie sollte im Verlauf eines knappen Menschenalters eine noch wechselvollere Geschichte erleben als jene im Verlauf von vier Jahrhunderten. Ihre Geschichte führte sie ebenfalls nach Übersee und lenkt jetzt nach Deutschland zurück.

Eberhard Arnold war ein Intellektueller - dieses viel mißbrauchte Wort in seinem ursprünglichen Sinn gebraucht für einen, der auf dem Grund der rationalen Erkenntnis die ihr nicht mehr zugängliche Tiefe des Wirklichen erfährt. Während des Krieges hatte er sich der Deutschen Christlichen Studentenvereinigung angeschlossen und war ihr Generalsekretär geworden. Später war er Mitarbeiter des Furche-Verlages. In engem Zusammenhang mit dem Rhönbruderhof errichtete er einen eigenen Verlag, der Auswahlbände christlicher Zeugnisse aus der Geschichte herausbrachte: Augustin, Zinzendorf, Jakob Böhme, Kierkegaard. 1920 gründete Arnold (nicht allein, aber als treibende Kraft) in Sannerz in Hessen den ersten Bruderhof, der 1926 in die Rhön übersiedelte. Der Gedanke dabei war, daß den schwer enttäuscht aus dem Kriege zurückgekehrten jungen Soldaten - jener Generation, die später nach dem Wort der Gertrude Stein an den jungen Hemingway die verlorene genannt wurde - ein anderes, tiefer begründetes "neues Leben" angeboten werden müsse als nur eine neue politisch formale Ordnung. Um ein solches neues Leben haben sich damals viele den Kopf zerbrochen, gerade Angehörige der jungen Intelligenz. Das allgemeine Gefühl mehr als Bewußtsein, "daß es anders werden müsse", blieb schließlich in der Theorie stecken. Die Praxis landete im bedenkenlos den Tag genießenden "Leben und Lebenlassen" der sogenannten Oberschicht der zwanziger Jahre, das, heute zur Massenerscheinung geworden, die verzweifelte Not der inneren Leere zu überdecken sucht. Wie weit Arnold erkannt hat, daß Karl Marx zwar richtige Fragen gestellt hatte, daß aber sein System von einem falschen Ansatz her verhängnisvoll falsche Antworten gibt (die in der weiteren Entwicklung immer falscher wurden), geht aus dem mir vorliegenden Material nicht hervor. Er muß jedenfalls in aller Konsequenz verstanden haben, daß die Dinge nicht nur gefühlt, gedacht und diskutiert werden dürfen, sondern gelebt werden müssen, wenn der Ansatz vom Glauben her verbindlich genommen wird: "Die, welche ihr Denken von dieser Welt abwenden und ihr Hoffen auf ein jenseitiges Leben nach dem Tode verlegen, sind Falschmünzer der Wahrheit", sagte er 1923 in einem Vortrag. Als Kritik an der Ghettoexistenz der Kirche klingt das ganz modern. Ebenso, wenn es bei der gleichen Gelegenheit hieß: "Zwischen uns Menschen herrscht eine einzige Solidarität: wir sind alle gleich schuldig an unserer Zerrissenheit, an der Not, die in diesem geschichtlichen Augenblick auf uns lastet, und sind alle in gleicher Weise bedrängt von der ewigen Wahrheit her zu den Taten der gegenseitigen Liebe und Hingabe." Dabei zeigt sich in dem zweiten "alle" Arnolds starker enthusiastischer Zug. Er war, in seiner Kritik der Zeit von Nietzsche beeinflußt und zugleich ein entschiedener Pazifist, optimistisch in bezug auf den Menschen.

Die Vertreibung seiner Bewegung von ihrem Hof und aus Hitler-Deutschland hat Arnold nicht mehr erlebt. Er ist 1935 jung gestorben. Schon 1934 waren die Kinder vom Rhönbruderhof, nachdem dessen Schule verboten worden war, in das Kinderdorf Trogen in der Schweiz gebracht worden. In Silum in Liechtenstein wurde der Almbruderhof als Zufluchtstätte eingerichtet, später aber wieder aufgegeben, weil er für die gesamte Gruppe keine ausreichenden Existenzmöglichkeiten bot. Inzwischen war im April 1937 der Rhönbruderhof von der Gestapo besetzt und enteignet worden mit der Begründung, daß die damals 350 Angehörige zählende Gemeinschaft nicht mehr erwünscht sei. Die drei Mitglieder des Vorstandes wurden für einige Wochen verhaftet, die übrigen durften Deutschland mit kleinem Handgepäck verlassen. Bis 1953 war trotz jahrelanger Verhandlungen weder der Hof zurückgegeben noch irgend eine Entschädigung gezahlt worden, was ein recht merkwürdiges Licht sowohl auf den im Grundgesetz fixierten Eigentumsbegriff wie auf die Praktiken der Wiedergutmachung wirft.
 
   Ein neuer Anfang wurde in England gemacht, dem großen Asyl für Vertriebene aus aller Welt. Dank der Unterstützung durch englische und holländische Freunde entstanden binnen weniger Jahre zwei neue, gut eingerichtete Bruderhöfe in Wiltshire. Es sollte nicht für die Dauer sein. 1940 sah England sich der Gefahr der Invasion gegenüber. Die britische Regierung erwog die Internierung der Deutschen auf den Bruderhöfen, die sie bis dahin unbehelligt gelassen hatte. Die Gemeinschaft war also in doppelter Weise in ihrer Existenz bedroht. Mochten sich ihr inzwischen auch einige Engländer und Angehörige anderer Nationen angeschlossen haben, ohne die Arbeit der deutschen Männer konnte sie nicht leben. Darum wurde Auswanderung nach Paraguay beschlossen, dem einzigen amerikanischen Lande, das bereit war, die Gruppe zur Ansiedlung aufzunehmen und ihr Glaubens- und Schulfreiheit zu gewähren. Nordamerikanische Mennoniten übernahmen die Vermittlung zu den Behörden des Landes und boten den deutschen Einwanderern eine erste Unterkunft in ihrer Ansiedlung im Chaco, um ihnen den Start zu ermöglichen. Durch den U-Boot-Krieg hindurch kamen die 350 Menschen, unter ihnen 170 Kinder, auf verschiedenen Schiffen wohlbehalten über den Atlantik.

Der dritte Neubeginn war in dem durch den sechsjährigen Chaco-Krieg verarmten Land besonders schwer. Ohne jedes Anfangskapital außer Gerätschaften und Maschinen, die mitzunehmen ihr erlaubt worden war, stand die Gruppe mitten im Urwald, gerade außerhalb der Äquatorialzone, vor dem Nichts. Der Erlös der beiden Höfe in Wiltshire war für die Überfahrt und den Erwerb der 8000 ha großen Estancia Primavera unweit des Paraguayflusses draufgegangen. Es gab keine Unterkünfte, die zum Schutz vor dem ungewohnten Klima und der ungewohnt wilden Gewalt der Elemente ausgereicht hätten, lange Zeit auch keine ausreichende Ernährung. So kam es zu Krankheiten. Sieben Kinder starben in den ersten Wochen. Es war eine harte Bewährungsprobe.


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