Was ist aus uns geworden?
Die Mennoniten Lateinamerikas im Vergleich
Was ist aus uns geworden? - Diese poetische Frage überkommt wohl jeden Mennoniten, der über den Ursprung des Täufertums zu Beginn des 16. Jahrhunderts und die Vielfalt des heutigen weltweiten Mennonitentums mit sehr unterschiedlichen. Gemeindekonzepten, Glaubensrichtungen und Lebensführungen nachdenkt.
Eine der Strömungen, die sich in den Jahrhunderten besonders ausgeprägt hat, ist das Kolonisationsmennonitentum, das vor allem aus der Flucht und Wanderung der verfolgten und versprengten Mennoniten aus Holland und den Frieslanden nach Osten hervorgegangen ist. Die Einwanderung der Mennoniten in Lateinamerika geschah durchaus nicht nach einem Muster und den gleichen Motiven. Trotzdem gilt für alle das gleiche. Kaum in einem andern Kontinent waren die Gegebenheiten so günstig, das Kolonisationsmennonitentum weiterzuführen, wie gerade in Lateinamerika. Hier waren es dann noch wieder einzelne Länder, die sich für eine mennonitische Kolonisation als besonders günstig erwiesen. Der Historiker C. Henry Smith sagte das auf dem "Allgemeinen Kongress der Mennoniten in Amsterdam 1936" unverblümt. Nur Länder mit einer autokratischen Regierungsform und in wirtschaftlicher Rückständigkeit, wie etwa Mexiko und Paraguay, wären bereit, Ausnahmestellungen zu gewähren. Sie seien von der öffentlichen Meinung nicht abhängig und zur Aufnahme bereit, wenn sie sich Vorteile durch die Besiedlung und Urbarmachung gewisser Ländereien versprächen.
Mit wenigen Ausnahmen kommen alle Mennoniten, die in Lateinamerika gesiedelt haben, aus Russland, wenn auch auf verschiedenen Wander- und Umwegen. Nur die Mennoniten in Uruguay, die direkt aus der westpreußischen Stammheimat kommen, gehören nicht dazu und noch einige kleine Splittergruppen in Paraguay. Der Hintergrund für die erste Einwanderung in Lateinamerika liegt in jenem Aufbruch aus Russland 1874. Die ganze Siedlung Bergthal zusammen mit Gruppen aus der Altkolonie und dem Fürstenland verließen damals Russland und zogen nach Kanada. Sie hofften hier das erhalten zu können, was ihnen in Russland bedroht schien. Sie sahen nicht nur in der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht eine Bedrohung. Auch in der vom Staat geförderten Modernisierung des Schulwesen und auch in dem durch die Entstehung der Brüdergemeinde verursachten geistlichen Aufbruch sahen sie eine Gefährdung ihres Glaubens- und Lebenskonzeptes. Kanada hat diesen Einwanderern nur bedingt das gebracht, was sie sich erhofft hatten. Vor allem kollidierte sehr bald das von Russland her bekannte Siedlungssystem mit dem kanadischen "home-steading", wo jeder Besitzer seines Landes und seiner Farm sein sollte. Nur mit Mühe war es möglich, auf den zugeteilten Ländereien in der Ost- und Westreserve des Red River Dorfschaften zu gründen. Doch sie hielten den durch das Gesetz bedingten Auflösungserscheinungen nicht stand. Die Dorfgemeinschaften, die ideale Form auch für die geistliche Kontrolle durch die Gemeinde, zerbröckelten. Das schon bereitete den Boden für die spätere Auswanderung vor.
Das Einsprachengesetz in Kanada während des Ersten Weltkrieges und die Einschränkungen auf dem Gebiet des Privatschulwesens waren dann die Auslöser für den Aufbruch nach Lateinamerika. In den zwanziger Jahren waren es großangelegte Wanderungen: die nach Mexiko von 1922-1926 und die nach Paraguay 1927. In beiden Fällen war die Einwanderung in diese Staaten durch Freibrief (Mexiko) und Privilegium (Paraguay) begünstigt worden. Neben den Freiheiten, die das Glaubensleben und die kulturelle Eigenart garantierten, war es besonders auch die Aussicht, hier wieder in geschlossenen Dörfern und Kolonien siedeln zu können. Auf einer Predigerberatung in Saskatchewan war im Blick auf die Ansiedlung in Paraguay am 17. Januar 1923 beschlossen worden, "nur in Dörfern anzusiedeln, und zwar mit je 30 Wirtschaften von je 190 Acker auf 3 Meilen im Quadrat." Das bedeutete, und so war es beabsichtigt, dass das Dorf als kommunale Gemeinschaft die Grundlage auch für den neuen Gemeindebau bot, wobei die Geschlossenheit der Kolonien die Garantie für das Gemeindekonzept lieferte.
In Mexiko entstanden so im Lauf der Jahre 15 Kolonien mit einer Unzahl von Dörfern, in Paraguay zunächst die Kolonie Menno. Alle Widerwärtigkeiten und alles Leid, das die in beiden Ländern sehr schlecht vorbereitete Einwanderung mit sich brachte, war dadurch gerechtfertigt, dass Gemeinde und Kolonie - wie Leonhard Sawatzky urteilt - nun wieder sozusagen eine Einheit waren. "In dem Bewusstsein," schreibt er, "dass Kirche und Staat getrennt sein müssen, gab es eine kirchliche und eine weltliche Verwaltung, damals noch meist mit starkem Weisungsrecht der Ältesten."
Die weiteren Einwanderungen in Paraguay erfolgten in mehreren Schüben unter ganz anderen Voraussetzungen, ausgelöst durch die Folgen der beiden Weltkriege. Von 1930 bis 1932 gründeten Flüchtlinge aus Russland die Kolonie Fernheim, deren Ableger 1937 die Kolonie Friesland wurde. 1947 und 1948 waren es wieder Flüchtlinge aus Russland, die die Kolonien Neuland und Volendam gründeten.
Das Merkwürdige an diesem Vorgang ist, dass nicht Gemeinden geflüchtet waren und in Paraguay einwanderten, sondern schlechtweg Mennoniten. Erstes Ziel war es auch, Dörfer und Kolonien zu gründen und eine bürgerliche Verwaltung zu organisieren, nach dem Modell aus Russland. Dann erst fanden sich die Glieder der verschiedenen Gemeinderichtungen zusammen und gründeten ihre Gemeinden. Die Kolonien waren primär, die Gemeinden sekundär. Weitere Einwanderungen in Paraguay erfolgten 1948 durch Nachzügler der konservativen Gruppen aus Kanada mit den Kolonien Sommerfeld und Bergthal und ab 1969 der Gruppen aus Mexiko mit Rio Verde und Nueva Durango. Alle waren in erster Linie bestrebt, geschlossene Landkomplexe zu erwerben, um dort Dörfer und Kolonien nach dem bekannten System anzulegen.
Der gemeinsame Landbesitz als Schutz gegen "Überfremdung", die siedlungsgeographische Struktur und eine de-facto-Selbstverwaltung, obwohl rechtlich nicht abgesichert, ist allen Siedlergruppen eigen. Die Einwanderung der Mennoniten in Brasilien verlief parallel zu jenem Schub, der 1930-1932 nach Paraguay kam. Es war der Teil der so genannten Moskauflüchtlinge von 1929, der sich in den Flüchtlingslagern Deutschlands für Brasilien entschied. Ebenso wie nach Paraguay, kam 1934 eine Gruppe der Amurflüchtlinge nach Brasilien. Die Vorzeichen für die Einwanderung nach Brasilien waren in manchem anders als in Paraguay. Der Staat gewährte keine Privilegien, und es gab keinen gemeinsamen Landbesitz.
Einen besonderen Lauf der Entwicklung nahm das Stadtmennonitentum in Curitiba, dessen Entwicklung parallel mit der Eingliederung der anfangs noch ländlichen Vorortsiedlungen Boqueirao, Xaxim und Vila Guaira in die Grosstadt verlief. Bleibt noch die Siedlergruppe in Bolivien. Es ist wohl nicht falsch, die nun 25 Siedlungen um Santa Cruz als ein Rückzugsgebiet zu bezeichnen. Tatsache ist, dass hier Gemeinden und Gemeindesplitter Zuflucht gesucht haben, die sich sogar in Mexiko von Modernisierungserscheinungen bedroht fühlten, obwohl das nicht der einzige Grund der Auswanderung war.
Die erste Einwanderung in das Siedlungsgebiet bei Santa Cruz erfolgte 1954 aus Fernheim, als eine kleine Gruppe dort das Dorf Tres Palmas anlegte. Die Mennoniten waren in Bolivien keine Unbekannten, denn in La Paz lag seit 1930, also noch vor dem Chacokrieg, ein Privilegium für Mennoniten vor, das etwa dem in Paraguay entsprach. Ein "Kontra-Privilegium" könnte man es nennen, weil es im Blick auf die Eroberung des Chaco erlassen worden war. 1957 folgten weitere 48 Familien aus der Kolonie Menno und 1963 noch einmal 20. Doch die große Einwanderung begann 1966. Hunderte von Familien kamen zunächst aus Kanada. Sie hatten sich dort in fast hundert Jahren nicht damit abfinden können, dass ihre Geschlossenheit nicht gesichert war. Hier in den Landsiedlungen der bolivianischen Abgelegenheit, wollten sie das Ideal der Einheit von Siedlung und Gemeinde noch einmal verwirklichen. Auf diese Bewegung aufmerksam gemacht, kam nun auch ein Schub nach dem andern aus Mexiko. Die Siedlungen heißen Rosenort, Reinland und Bergthal, wie in Russland und Preussen, Swift Current, wie in Kanada und Santa Rita, wie in Mexiko.
Die Mennoniten hier sind ein Produktionsfaktor geworden, und als Präsident Hugo Banzer Suarez das Privilegium annullieren wollte, führten ihre Verteidiger in Santa Cruz ins Feld, dass sie 50% der landwirtschaftlichen Produktion des Departments lieferten. Obwohl der geschichtliche Hintergrund bei allen Kolonisationsmennoniten, die heute in Lateinamerika leben, der gleiche ist, zeigten schon die Motive für ihre Einwanderung bemerkenswerte Unterschiede. Das gleiche gilt für ihre heute bestehenden Siedlungen, für ihre Lebenshaltung und für das Verhältnis von Gemeinde und Siedlung.
Wenn eingangs die Frage "Was ist aus uns geworden?" gestellt wurde, und damit der Unterschied unserer heutigen Mennonitenkolonien zum Urbild des Täufertums gemeint war, dann soll die gleiche Frage hier noch einmal gestellt werden, jetzt aber in der Darstellung der Entwicklung der verschiedenen Gruppen der Kolonisationsmennoniten in den einzelnen Ländern. Was ist aus den mennonitischen Einwanderern in Lateinamerika geworden?
Konservatives Mennonitentum am Beispiel Mexikos und Boliviens
Was die so genannten Altkolonier von den andern Gruppen der Kolonisationsmennoniten auszeichnet, ist das ungebrochene Verhältnis zwischen Glaubensgemeinde und Siedlungsgemeinschaft. Das, was den mennonitischen Einwanderern in Russland als die Lösung des Lebensproblems einer christlichen Gemeinde erschienen war, dass nämlich die Gemeinde in dieser Welt geschlossen lebt und wirtschaftet, hatten die Auswanderer von 1874 als Grundkonzept mit nach Kanada und von dort nach Lateinamerika genommen. Gemeinde und Siedlung sind eine Einheit geblieben, wobei die Gemeinde, in der Hauptsache durch ihre Vorstände, dominiert. Verstärkt wird dieser Zustand, der durchaus auch als Machtbereich und -anspruch verstanden werden kann, durch seine Verankerung im Bibelverständnis dieser Gruppe. Der Älteste Gerhard Wiebe, der seine Gemeinde von Russland übers Meer nach Kanada führte, wie einst Moses die Kinder Israel durch die Wüste, - und so sah er sich selbst auch - erblickte in dem, was er als Bedrohung der Welt sah, "vom Feind gesponnene Fäden" und "schon ausgestreuten Unkrautsamen." Der Alteste Isaak M. Dyck, der an seinem Lebensabend die Auswanderung von Kanada nach Mexiko beschrieb, stellte im Rückblick fest: "Es ging nicht nur um die Schulen, sondern auch um die große Gleichstellung dieser Welt (...) was sich sehen ließ an den vielen buntgestrichenen Häusern und der Welt gleichgestellte Fahrzeuge."
Die Ältesten sahen ihre Gemeinde von der Welt bedroht, und sie fanden Trost und Weisung im Alten Testament. "Von hinten aber war Pharao," schrieb Isaak Dyck, "mit seiner gewaltigen Kriegsmacht, und jeder wusste, wenn er zurückkehren sollte nach Kanada, würfe er seine Kinder selbst in den Strom dieser Welt hinein." Die Gemeinde flüchtete unter der Leitung ihrer geistlichen Führer, und sie legte Dörfer und Kolonien an, mit Schulzen und Siedlungsvorstehern, "um des Leibes Notdurft zu pflegen," wie es Isaak M. Dyck erklärt.
Mennonitentum zwischen Isolation und Integration am Beispiel Paraguays
Die Unterschiede im Kolonisationsmennonitentum in Paraguay und Brasilien zu dem in Mexiko und Bolivien liegen auf der Hand und sind bekannt. Die Ursachen dafür sind sehr komplex. Hier sollen nur zwei sehr gravierende Erscheinungen in der Geschichte als Ursachen genannt werden. Die Bergthaler, die Russland 1874 verließen, waren schon in die Mariupoler Gegend abgewandert, als Cornies in der Molotschna um 1840 seine Reformen durchführte, die eine starke Säkularisierung des Lebens zur Folge hatten. Das betraf vor allem Schule, Wirtschaft und Verwaltung, was zu einer Machtprobe zwischen der geistlichen und weltlichen Vormachtstellung führte. Die Siedlungsverwaltung erwies sich dabei, mit Unterstützung des Staates, als die Stärkere. Jene Macht der Ältesten, die die Siedlergruppen bis nach Mexiko und Bolivien begleitete, war dort bereits um die Mitte des vorigen Jahrhunderts gebrochen, vielleicht zu ihrem Heil.
Ein weiterer Faktor war die geistliche Revolution durch die Brüdergemeinde um 1860. Wie auch die Begleiterscheinungen waren, und wie sie auch interpretiert wurden, durch sie vollzog sich der Bruch in der Deckungsgleichheit von Glaubensgemeinde und Siedlungsgemeinschaft. Durch die Forderung der Bekehrung als Bedingung für die Taufe und die Aufnahme in die Gemeinde wurde der Prozentsatz der Koloniebewohner, die auch im Erwachsenenalter zu keiner Gemeinde gehören, immer größer. In Fernheim sind es heute 21%, in Witmarsum 25%, in Colonia Nova 26%, in Curitiba nahe an 50%.
Trotz dieser Bruchlinien, die quer durch alle Mennonitensiedlungen in
Paraguay gehen, außer denen der Einwanderer aus Mexiko, bestehen hier
die geschlossenen Siedlungen nach dem Modell in Russland. Die stärkste
Basis für den immer noch starken Isolationscharakter dieser Siedlungen
ist der gemeinsame Landbesitz, wobei die Vergabe des Wohnrechtes in der
Hand der Gemeinschaft liegt.
Die Tendenz, die innere Homogenität zu
wahren, ist, auch bei Unterschieden zwischen den Siedlungen, immer noch
stark ausgeprägt. Die Ursache dafür liegt in der Tatsache, dass sowohl
die Isolation als auch die Selbstverwaltung sich einzig und allein auf
die Bereitwilligkeit der Beteiligten gründen kann, dass sie also nur de
facto und nicht de jure besteht. Dieser Freiwilligkeitscharakter wird
aber in Frage gestellt, je heterogener die Gruppe wird. Das ist auch der
Grund dafür, dass die Abwehr stärker ethnisch als glaubensmäßig bedingt
ist. Ein ethnischer Mennonit wird eher akzeptiert, auch wenn er nicht
gläubig ist, als ein gläubiger Lateinparaguayer. Doch die Siedlungen
stehen in einem Entwicklungs- und Wandlungsprozess, der sehr langsam und
deshalb vielleicht gesund vor sich geht. Eine Reihe von Umständen
fördern diesen Prozess, neben dem Bruch, der schon in Russland vollzogen
wurde.
Als erster Faktor ist die wirtschaftliche Entwicklung zu nennen, die ohne Bedenken massiv vorangetrieben worden ist. Die Siedlungsleitungen haben, um den Lebensstandard zu heben, alle Beziehungen, die irgend möglich waren, hergestellt und ausgewertet, im Land und weit über die Landesgrenzen hinaus. Man kann so von einem lebhaften Austausch sprechen, mit Vertretungen in Asunción und mit Besuchen von Delegationen, einschließlich des Staatspräsidenten, in den Siedlungen. Der zweite Faktor ist die Missionstätigkeit. Man konnte nicht erwarten, dass sich das Evangelium nur in eine Richtung tragen lassen würde, aus den Kolonien hinaus. Die Gemeinden werden unglaubwürdig, wenn sie missionarisch expansiv sind und den Isolationscharakter aber beibehalten wollen. Bis zu einem gewissen Grad schützt natürlich die geographische Lage, doch sie ist letzten Endes nur ein Verzögerungsfaktor, wie sich am Beispiel Brasiliens erweisen wird.
Der dritte Faktor sind die Schulen. Im Gegensatz zum Beispiel der konservativen Mennoniten sind die Schulen hier von ihrer Struktur her offen, und das nicht erst seit der Anerkennung durch das Ministerium. Diese Offenheit hat von Anfang an in Paraguay, und schon in Russland, nach Erweiterung der Kenntnisse gestrebt, was ein Studium außerhalb der Siedlungen und außerhalb des Landes einschloss, mit all den Einflüssen, die sich daraus ergeben. Die Anerkennung des Schulwesens der Mennonitenkolonien durch die staatlichen Behörden und die Angleichung an das nationale System war nur die Vervollkommnung des Strebens nach einem höheren geistigen Niveau, das schon seit Johann Cornies bestand.
Der letzte hier zu nennende Faktor ist die demographische Veränderung in den Siedlungsgebieten. Im gleichen Lebensraum wohnen immer mehr Menschen anderer Art, anderer Kultur und anderen Glaubens. Auch der mennonitische Oberschulze, obwohl nur von Mennoniten gewählt, ist in seinem Verwaltungsbereich nicht mehr nur für Mennoniten zuständig. Hieraus ergibt sich eine der schwierigsten Konfliktsituationen für das Kolonisationsmennonitentum, die sich nur schrittweise durch verwaltungsmäßige Strukturveränderung lösen lassen wird.
Integriertes Mennonitentum am Beispiel Brasiliens
Die in Brasilien eingewanderten Mennoniten hatten von ihren Siedlungen, die sie gründen wollten, die gleichen Idealvorstellungen wie ihre Glaubensbrüder, die nach Paraguay gingen. Kolonien mit einer Selbstverwaltung wollten sie gründen, eine wirtschaftliche Existenzgrundlage auf gemeinschaftlicher Basis wollten sie aufbauen, soziale Einrichtungen wollten sie schaffen, ein Schulwesen wollten sie gründen - und schließlich sollten sich die Gemeinden einbetten in diese Siedlungsgemeinschaft, mit einer "Kommission für Kirchenangelegenheiten" (K.f.K.) als geistliche Dachorganisation und als Pendant zur Siedlungsleitung.
Es war ein unvorstellbar harter Kampf um dieses Ideal. Der Staat gewährte keine Sonderstellung, alles war von dem guten Willen und der Einsicht der Siedler abhängig. Der gemeinsame Landbesitz fiel von vorneherein weg. Jeder Siedler wohnte auf seiner "Kolonie" wie man den Bauernhof nannte, und eine Dorfstruktur war aus geographischen Gründen kaum möglich. Der Kampf mit dem Urwald war so unsäglich schwer und die Ausweichmöglichkeit vorhanden, so dass die Abwanderung nach Curitiba schon sehr bald begann. Das zog die Unterwanderung der Siedlung mit Fremden nach sich. Unterschiedliche Schwerpunkte in der Zielsetzung führten zu harten Auseinandersetzungen zwischen Gemeinde- und Siedlungsleitung, was die Auflösungserscheinungen beschleunigte.
Hinzu kamen die harten Jahre der Nationalisierungspolitik seit 1938 bis über das Ende des Zweiten Weltkrieges hinaus, die sowohl die kulturelle als auch die geistliche Betätigung einschränkten. Jedenfalls gingen die Schulen, das Rückenmark des Kolonisationsmennonitentums, über zehn Jahre vollständig verloren. Der obligatorische Militärdienst, das vom Staat dirigierte Schulwesen, die starke Einbettung in das Wirtschaftsleben und der oft unmittelbare Kontakt zur Landesbevölkerung trugen dazu bei, dass die Integration sich beschleunigte. Das eindeutigste Kriterium dafür ist die Sprache. In der Schule und auf dem Schulhof sprechen die Kinder portugiesisch und zu Hause bestenfalls plattdeutsch. Die Umgangssprache im Geschäftsleben ist portugiesisch und neuerdings gehen auch die Stadtgemeinden auf Portugiesisch über, weil die Jugendlichen einer deutschen Predigt schwer folgen können.
Wer nun in die Siedlungen Colonia Nova oder Witmarsum kommt, wird noch erstaunlich viel von jenen Kennzeichen des Kolonisationsmennonitentums vorfinden. Vornean steht das Genossenschaftswesen, dass sich eigentlich erst in Südamerika zu der Form entfaltet hat, wie wir sie kennen. In Russland waren die Kooperativen noch nicht bekannt. Man könnte sagen, dass sie in der enorm schweren Situation der Ansiedlung notgeboren wurden. Sie sind auch in Brasilien inzwischen das wirtschaftliche Rückgrat der immer noch bestehenden Gemeinschaft und zum Teil auch Mitträger des kulturellen Lebens, obwohl die Zahl der nicht-mennonitischen Mitglieder immer größer wird.
Man sieht es auch an der Infrastruktur der Siedlung, dass hier Mennoniten wohnen, man sieht es an Häusern und Höfen, und man kann es natürlich auch bei Hochzeit und Begräbnis, beim Erntedankfest und auf den großen Kirchenfesten miterleben, die zum Teil auch ein Niederschlag des kulturellen Erbes sind. Anders in Curitiba, wo die Entwicklung den ehemaligen mennonitischen Charakter der Vorortsiedlungen vollständig aufgelöst hat. Geblieben sind hier nur noch die Kirchen als Sammelpunkte mennonitischen Lebens und natürlich das familiäre und sippenmäßige Zusammengehörigkeitsgefühl mit den sozialen Begleiterscheinungen. Und hier nun eine bemerkenswerte Tatsache: Bei allen Verlusten der charakteristischen Elemente des Kolonisationsmennonitentums, denen auch heute noch viele als dem "Erbe der Väter" nachtrauern - geblieben sind die Glaubensgemeinden. Das, was in den fünfziger Jahren immer noch als Befürchtung zum Ausdruck gebracht wurde, dass nämlich mit dem Verlust der deutsch-mennonitischen Kultur auch der Glaube verloren gehen würde, ist nicht eingetroffen.
Die Glaubensgemeinden in Brasilien stehen voll in der Integration.
Vor allem die Stadtgemeinden teilen sich ihre Gotteshäuser mit
portugiesischsprachigen Gruppen. Die Entwicklung in Brasilien hat das
Kolonisationsmennonitentum verändert und zum Teil sogar vollständig
abgelöst, trotz des harten Kampfes, den die Einwanderer gegen diesen
Prozess geführt haben. Viele bedauern auch heute noch den Verlust an
traditionellen und kulturellen Werten. Doch Herbert Minnich stellte
schon Mitte der siebziger Jahre fest, dass die jüngere Generation in der
Bewertung des Mennonitentums den Glauben höher einschätzte als das
deutsch-mennonitische Wesen.
Die Mennoniten dort betätigen sich, zum
Teil sogar sehr intensiv, in Wirtschaft, Kultur und Politik, auch die
Mitglieder der Gemeinden, nun jedoch nicht als Mennoniten, sondern als
Bürger ihres Staates.
- Der Text ist Teil eines Vortrages und wurde leicht gekürzt. -
Inhaltsverzeichnis des
gesamten Themenheftes
Was ist aus uns geworden? - Die Mennoniten Lateinamerikas im Vergleich | Peter P. Klassen |
Mennoniten = Kommunisten? - Eindrücke von Mennoniten in Guatemala | Hans Jakob Galle |
Mennoniten in Brasilien - The Evangelical Mennonite Church | Marcos Inhauser |
Der Sturm - Das MCC zu den Folgen des Hurricanes Mitch | MCC |
Missionare in Afrika - Über die Reise der AMG Delegation nach Äthiopien | Bernhard Thiessen |
Leserbriefe zum Thema Homosexualität und "Russlanddeutsche" | Steve Buckwalter, Günter Krüger |
Kunterbunt | Neuigkeiten, Tipps und Termine aus der Menno-Szene |
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