Von Flaschenbäumen, Nasenbären und Plattdeutsch

Zwei Monate per Schüleraustausch nach Paraguay

von Lina Reinartz (Jgst. 12)

"Paraguay - liegt das nicht in Südafrika?" Mit dem Wissen über dieses Land ist es meist nicht weit her. Ein Grund mehr, um sich selbst ein Bild zu machen. Die Möglichkeit dazu bietet der Austausch des VDA (Verein zur Förderung deutscher Auslandskontakte).
Kristy und Claudia aus Paraguay waren im Januar und Februar diesen Jahres am Max-Planck-Gymnasium zu Besuch. Während der Sommerferien flog ich zum Gegenbesuch nach Filadelfia, einer 6000-Einwohner-Stadt im "Chaco". So heißt der einst unwirtschaftliche Nordwesten Paraguays, in dem sich vor 70 Jahren Mennoniten aus Russland und Kanada in drei Kolonien (Fernheim, Menno und Neuland) ansiedelten. Wer sich über Filadelfia informiert, macht interessante Entdeckungen. So ist die Alltagssprache der Mennoniten Plattdeutsch, in der Schule sprechen sie Hochdeutsch und auf Amtswegen oder mit den Indianern Spanisch. Kompliziert wird es, wenn sie alle drei Sprachen mischen – und das ist eigentlich die Regel.
Nach dreißig Stunden Flug (Frankfurt – Sao Paolo – Asunçion) und Fahrt über Stadt, Land, Fluss und
Schlaglöcher bin ich in Filadelfia: Viel Sand, fast nur Pickups und Mofas, Mennoniten und Indianer, die Plattdeutsch sprechen, Häuser ohne Keller und ersten Stock – wie das meiner Gasteltern: Walter Siemens betreibt eine kleine Kühleisfabrik und keine Viehstation, wie viele andere Siedler. Seine Frau Elsie hat sich eine Frisierecke neben dem Wohnraum eingerichtet, wo man für einmal Waschen, Schneiden, Legen 7000 Guaranies (etwa 4 Mark) bezahlt. Die Sirene weckt pünktlich um sechs Uhr alle Einwohner. Schulbesuch ist sechs Tage die Woche Pflicht – bis auf zwei Wochen „Winterferien“ im Juli, während der ich eine Rundreise durch Ostparaguay machte: Wenn man den „Rio Paraguay“ überquert, ist es, als kommt man in ein anderes Land: Vom ländlichen, trockenen und staubigen Chaco in die verregnete, laute und teilweise heruntergekommene Hauptstadt Asunçion. Um die chaotischen Verhältnisse im Straßenverkehr zu verdeutlichen, hier die geltenden Vorfahrtsregeln: Asphalt- vor Steinstraße, Straßen zum Zentrum vor Querstraßen und Hupen vor jeder Kreuzung. Weiter ging es mit dem größten Wasserkraftwerk der Welt (Itaipu), den Iguaçu-Wasserfällen in Brasilien (sehr beeindruckend, mit dem Schlauchboot da lang zu fahren), dem Dreiländereck (Paraguay, Brasilien, Argentinien) und den Jesuitenruinen in St. Cosme. Zum Abschluss der Tour besuchten wir die „EXPO 2000“ (allerdings in Asunçion).
Wenn man in Filadelfia etwas unternehmen will, ist Eigeninitiative gefragt. Dann geht es auch ohne Kino und Disko, aber mit 70er-Jahre-Party und dem „Lighthouse Café“, das eine Clique freitags im Internetcafé „Automax“ organisiert hat. Anschluss habe ich schnell gefunden – ob Gastfamilie, Mitschüler oder jeder andere, dem ich begegnet bin – alle waren sie offen und freundlich. Und man trifft sogar Bundesprogrammlehrer aus dem Ruhrgebiet in Filadelfia.
Das Stadtbild ist geprägt von ockerfarbenem Sand, aus dem die meisten Strassen und Wege sind. Zu den Schlaglöchern kommt also bei Nordsturm noch ein ordentlicher Staubnebel. Für Westeuropäer hat der „Chacobusch“ eine beeindruckende Flora und Fauna zu bieten: Zwischen Flaschen- und Kaktusbäumen wimmelt es von Tapiren, Nasenbären und Gürteltieren, um nur einige zu nennen.
Die Hauptstraße von Filadelfia ist die „Avenida Hindenburg“, zu Ehren des deutschen Reichspräsidenten, der sich sehr für die Mennoniten einsetzte. Bei so viel Verbundenheit zu deutscher Sprache und Geschichte, fühlt man sich doch gleich zu Hause. Außerdem wird Gastfreundlichkeit in ganz Paraguay groß geschrieben: Zu „Terere“, mit kaltem Wasser aufgegossenem Matepulver und „Asado“, allem, was man grillen kann, ist jeder willkommen. Vegetarier und Katholiken haben es allerdings schwer im Chaco: Die einen wegen der Vorliebe für gutes Fleisch, die anderen wegen der Ernsthaftigkeit, mit der die meisten Mennoniten ihre Religion leben – denn die ist streng evangelisch und sehr gewöhnungsbedürftig: „Der Mensch stammt nicht vom Affen ab, weil es nicht in der Bibel steht.“, ist ein extremes Beispiel dafür. Scheidung, Alkohol und Zigaretten sind gleichermaßen verpönt. Wer sich trotzdem scheiden lässt und wieder heiraten möchte, muss die Gemeinde verlassen.
Radio „ZP 30“ ist ein wichtiges Informationsmedium in Filadelfia: Egal, ob es darum geht, wer seinen Pass abholen muss, wer nachmittags beim Arzt drankommt oder wieviele Zahnbürsten die neue Zahnbürstenfabrik in Asunçion produziert – wer Radio ZP 30 hört, weiß Bescheid. Radio und Fernsehen sind auch der einzige Weg zu erfahren, dass in Asunçion politischer Ausnahmezustand herrscht – kein Grund zur Sorge also.
Mir war schnell klar, dass der Chaco seine eigenen Gesetze hat: Was die Politiker in der 475 km entfernten Hauptstadt Asunçion machen, stört die Mennoniten wenig. Sie sind durch ihre Kooperative weitgehend unabhängig, legen keinen Eid auf den Staat ab und verweigern den Wehrdienst. Sowieso geht es dort eher ruhig zu – oder „tranquillo“, wie der Paraguayer sagen würde.
Ein großer Thermosbehälter mit eiskaltem Wasser auf dem Tisch, ein zum Trinkgefäß umfunktioniertes Kuhhorn, gefüllt mit Matepulver und einem eisernen Strohhalm in der Hand sitze ich mit mehreren Jugendlichen im Kreis und trinke „Terere“ – wie so oft in Paraguay. Ich habe die zwei Monate im Chaco bei viel Fleisch und Terere sehr genossen und neben vielen neuen Eindrücken auch eine Vorratspackung Matepulver mit nach Hause genommen, um auch in Gelsenkirchen einige Terere-Runden abhalten zu können.
Zwei Tipps noch, falls du nach Paraguay kommen solltest:
- Wenn jemand klatschend vor dem Haus steht, ist das kein Applaus, sondern die Aufforderung, die Tür zu öffnen und
- Die meisten Paraguayer verstehen keine Ironie – man wird also endlich mal beim Wort genommen.


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