Das brasilianische Militärregime 1964-1985

von Andreas Belschner (Uni Tübingen)

mit einer Nachbemerkung von Nikolas Dikigoros

0. Einleitung

Um die Entwicklungsblockaden und -fortschritte im Brasilien der 90er Jahre besser erkennen, verstehen und verorten zu können, ist ein Blick auf die Vergangenheit der brasilianischen Militärdiktatur sicherlich hilfreich. Dieses Paper soll einen kursorischen Überblick über den Zeitraum 1964-1985 geben.

Zunächst wird kurz die Situation im Jahr der Machtübernahme und mögliche Gründe für diese Entwicklung dargestellt. Es folgt eine allgemeine Charakterisierung des Militärregimes und dessen grundsätzlichen Überzeugungen. Danach sollen die Regierungsphasen der einzelnen Präsidenten kurz von politischer und ökonomischer Seite beleuchtet werden.

1. Die Situation 1964

Die politische und ökonomische Situation in Brasilien vor der Machtübernahme durch das Militär im März 1964 war von Unruhe und Angst geprägt. Die putschenden Militärs sprachen sogar von einer "Ausbreitung der Anarchie" im Staate (Wöhlcke, 41). Vor allem die tiefe wirtschaftliche Krise, die ihren Ausdruck u.a. in einer hohen Inflationsrate und einem großen Außenhandelsdefizit fand, mit der sich Brasilien konfrontiert sah, führte die Militärs zu der Überzeugung, daß es ihre Pflicht sei, die Macht im Staat zu übernehmen.

Verschiedene Faktoren führten zu dieser Emanzipation des Militärs. Zwei sind hier zu nennen:

- Zum einen civic action-Programme, welche bestimmten, daß militärische Spezialeinheiten eines Landes für Entwicklungsvorhaben unterschiedlicher Art, wie z.B. Straßenbau und Alphabetisierung der Bevölkerung, eingesetzt werden. Diese Umorientierung der Streitkräfte setzte Ende der 1950er Jahre ein. Das Ziel dieser Strategie war, revolutionären Guerillagruppen zuvorzukommen und sich bei der Bevölkerung beliebt zu machen. Durch dieses neue Selbstverständnis des Militärs als entwicklungspolitische Elite erhöhte sich die Bereitschaft der Militärführung, die Macht in Brasilien zu übernehmen und sie den politischen Kräften für einen sehr langen Zeitraum streitig zu machen (Nohlen A, 146).

- Diese Programme reihten sich in die Strategie der "counterinsurgency" oder "Revolutionsvermeidungsstrategie" ein. Unter dieser Strategie werden alle Maßnahmen militärischer, politischer, wirtschaftlicher und psychologischer Natur sowie die oben angesprochenen "civic action"-Programme verstanden, welche ein Staat präventiv ergreift, um Revolutionen zu vermeiden. Die USA unterstützten diese Programme in Lateinamerika gezielt finanziell und durch Infrastruktur, um dadurch "kommunistischen Konspirationen" entgegenzuwirken (Nohlen B, 152 f.).

2. Die Militärdiktatur von 1964 - 1985

Das 1964 eingerichtete Militärregime stellte einen neuen institutionellen Typ dar, weil formal-demokratische Vorgehensweisen, wie z.B. eine periodische Rotation innerhalb der Regierung, die regelmäßige Durchführung von (manipulierten) Wahlen, sowie die Duldung und Anerkennung, teilweise sogar die Unterstützung, von parlamentarischen Organen, in seine Herrschaft miteinbezog (Sangmeister, 234).

Das System betrachtete sich als aus sich selbst heraus legitimiert, auch im Sinne der verfassunggebenden Gewalt. Es wurde an einer formalen Verfassungsmäßigkeit festgehalten, die jedoch die noch 1964 bestehende Verfassung weitgehend außer Kraft setzte (ders., 233).

Die Militärregierungen erhoben von Anfang an den Anspruch, Brasilien redemokratisieren zu wollen (Wöhlcke, 41).

Das Regime rechtfertigte sein Tun und Handeln mit der "Doktrin der nationalen Sicherheit." Dieses ideologische Modell, auf das sich alle damaligen Militärregime in Lateinamerika beriefen, wurde hauptsächlich in der Escola Superior de Guerra, der brasilianischen Kriegshochschule, erarbeitet (Baeza, 172). Ihre Grundlagen bildeten zum einen ein umfassendes Konzept der äußeren und inneren Sicherheit als oberstes Staatsziel, die Übernahme der oben beschriebenen counterinsurgency-Doktrin, um die innere Sicherheit zu gewährleisten, sowie die Implementierung militärischer Grundsätze in die Politik, wie beispielsweise ein hierarchischer Aufbau der Strukturen, parteipolitische Neutralität und eine Betrachtung des Staates aus geopolitischen Gesichtspunkten (ebda.).

Durch diese Modifizierung der Herrschafts- und Entscheidungsstruktur wurde sehr bald nach der Machtübernahme die Inflation erfolgreich bekämpft und anschließend ein neuer Zyklus wirtschaftlichen Wachstums eingeleitet (Sangmeister, 235).

3. Die Präsidenten

Die folgende Betrachtung geht auf die politische und wirtschaftliche Situation unter den jeweiligen Präsidentschaften näher ein.

3.1. Marschall Humberto de Alencar Castello Branco, 1964-1967

Nach dem Putsch von 1964 übernahm Castello Branco die Präsidentschaft in Brasilien. Die Verfassung wurde mittels sog. "institutioneller Akte" modifiziert. Durch den 1. institutionellen Akt (AI-1) im Jahr 1964 wurde dem Präsidenten die Möglichkeit gegeben, gewählten Mandatsträgern das Mandat abzuerkennen (Sangmeister, 233). Mittels des 2. institutionellen Aktes (AI-2) im Jahr 1965 wurden die bestehenden politischen Parteien aufgelöst (ebda.) und ein künstliches 2-Parteiensystem geschaffen, das als "relative Demokratie" (Wöhlcke, 41) bezeichnet wurde:

Alle politischen Amt- und Würdenträger mußten sich innerhalb von 45 Tagen entscheiden, ob sie der Regierungspartei ARENA (Alianca Renovadora Nacional) oder dem MDB (Movimento Democratico Brasileiro) angehören wollten (Sangmeister, 234). Da zunächst zu wenige Mandatsträger bereit waren, sich dem künstlich oppositionellen MDB anzuschließen, kam es zu der absurden Situation, daß Mitglieder von ARENA zum MDB umdelegiert werden mußten, um die Opposition zunächst einmal funktionsfähig zu machen (ebda.). Wöhlcke bezeichnet diese eigenartige Haltung der Regierung gegenüber der Opposition als "Mischung zwischen Kontrolle und Förderung" (42).

1966 folgte AI-3, welcher der Zentralregierung das Recht einräumte, die Gouverneure in der Bundesstaaten zu ernennen und abzusetzen (Sangmeister, 233).

1967 legte Branco dem Kongreß, der zu diesem Zeitpunkt schon viel an Selbstvertrauen eingebüßt hatte, einen Verfassungsentwurf zur Verabschiedung vor, der dem Regime Legitimität verleihen sollte und dem Präsidenten und der Regierung weitreichende Vollmachten übertrug (ebda.). Dieser Entwurf enthielt allerdings noch einen umfassenden Grundrechtekatalog (Madlener, 278).

Die Inflation wurde von 80% im Jahr 1964 auf 27% im Jahr 1967 gedrosselt. Dies geschah durch harte Lohnkontrollen, was Reallohnkürzungen bedeutete, und somit auf Kosten des wirtschaftlichen Wachstums ging (Sangmeister, 235). Durch die Einführung flexibler Wechselkurse, die steuerliche und finanzielle Stimulierung des Exports sowie eine schrittweise Liberalisierung des Imports, wodurch Brasilien stärker in die Weltwirtschaft eingebunden und der Kapitalzufluß aus dem Ausland erhöht wurde, konnten die Voraussetzungen geschaffen werden, das Außenhandelsdefizit zu bekämpfen (ebda.).

3.2. Marschall Arthur da Costa e Silva, 1967 - 1969

Unter Präsident Costa e Silva kam es zu einer "ambivalenten Redemokratisierungspolitik", deren erklärtes Ziel eine Verfassungsreform war (Wöhlcke, 42).

Durch den AI-5 im Jahr 1968 wurden die verbliebenen Reste formaler Rechtsstaatlichkeit endgültig abgeschafft (Sangmeister, 233). Der Präsident hatte hierdurch nun die Möglichkeit, zu jedem Zeitpunkt das Bundesparlament, die Länderparlamente sowie die Gemeinderäte aufzulösen und mit Kommissaren des Bundes zu besetzen (Madlener, 278). Außerdem konnte der Präsident jedem Bürger die politischen Rechte für die Dauer von zehn Jahren entziehen, was mit dem Verbot jedweder politischer Betätigung und Meinungsäußerung verbunden war. Auch wurde ihm durch den AI-5 die Möglichkeit gegeben, zu jedem öffentlichen oder privaten Recht Einschränkungen und Verbote auszusprechen. Hinzu kam noch die Befugnis zu freiheitsbeschränkenden Maßnahmen, wie z.B. der Zuweisung eines Wohnortes. Alle diese Maßnahmen waren allerdings ausdrücklich der gerichtlichen Kontrolle unterworfen (ebda.).

Unter der Regierung Costa e Silva begann 1968 das sog. "brasilianische Wirtschaftswunder". Es wurden gesamtwirtschaftliche Wachstumsraten von 11,5% jährlich erreicht, im industriellen Sektor waren es sogar mehr als 13%. Durch diese positive ökonomische Entwicklung konnte sich das Regime in seiner Politik bestätigt sehen (Sangmeister, 235).

3.2.1. Das Triumvirat, 1969

1969 erkrankte Präsident Costa e Silva schwer. Der Verfassung nach hätte Vizepräsident Pedro Aleixo die Führung übernehmen müssen. Er wurde aber von den drei Militärministern Aurélio de Lyra Tavares (Heer), Augusto Hamann Rademaker-Grünewald (Marine) und Márcio de Souza Melo (Luftwaffe) an der Ausübung des Präsidentenamtes gehindert, vermutlich weil er zu liberal eingestellt war (Görgen, 324). So kam es für kurze Zeit zur Machtausübung durch die sog. "Junta Militar", auch als Triumvirat bekannt, die sich selbst als "die Militärminister in vorübergehender Ausübung der Präsidentschaft der Republik" bezeichneten (ebda.). Mit dem Verfassungszusatz Nr. 1 legte das Triumvirat weitere einschränkende Verfassungsänderungen fest (Sangmeister, 233).

3.3. General Emílio Garrastazu Médici, 1969 - 1974

Mit General Médici, vormalig brasilianischer Geheimdienstchef, kam ein Vertreter der sog. "harten Linie" an die Macht (Wöhlcke, 41). Der unter Costa e Silva zaghaft begonnene Öffnungsprozeß Brasiliens wurde weitgehend gestoppt. Es begann eine Phase gnadenloser Repression gegenüber politischen Widersachern (ebda.).

Der Boom der brasilianischen Wirtschaft ging Mitte der 1970er Jahre aufgrund externer Schocks, allen voran der Ölkrise, zu Ende (Sangmeister, 235). Dies führte zu einer Rückkehr zu einem binnenorientierten Wirtschaftsmodell, was aber aufgrund der hauptsächlich auf Luxusgüter und Export eingerichteten Produktionsstätten zu Absatzschwierigkeiten führte (ebda.).

3.4. General Ernesto Geisel, 1974 - 1979

Geisel kündigte bei seiner Machtübernahme eine Politik der Entspannung an. Hiervon war allerdings bis zum Herbst 1977 nichts zu spüren; der autoritäre Regierungsstil Médicis wurde zunächst beibehalten: Es wurden weiterhin politische Mandate aberkannt, der Kongreß wurde erneut aufgelöst und keine der entscheidenden rechtlichen Grundlagen für das Militärregime wurde für ungültig erklärt (Wöhlcke, 42). Allerdings hat sich im Lauf der Jahre die oppositionelle MDB zu einer echten politischen Kraft entwickelt, welche die Regierung massiv unter Demokratisierungsdruck setzte. Dieser Druck wurde mit dem "April-Paket" von 1977 durch die Regierung mit autoritären Maßnahmen beantwortet (ebda.).

Aufgrund der im November 1978 anstehenden Wahlen, die trotz aller Hindernisse und Einschränkungen zugunsten der MDB auszugehen drohten, verabschiedete Geisel das sog. "Juni-Paket" 1978. Es handelte sich um eine Parlamentsvorlage, die zahlreiche Liberalisierungsmaßnahmen und rechtsstaatliche Garantien enthielt. Sinn dieses Paktes war es, der MDB den politischen Wind aus den Segeln zu nehmen und die Wähler wieder auf die Seite von ARENA zu ziehen. Ein Bestandteil des Pakets war, daß die Vollmachten des AI-5 in die Notstandsgesetzgebung einflossen (ebda.).

Nach dem Ölschock wurde die importsubstituierende Wirtschaft wieder stärker gefördert, vor allem im Bereich von Rohstoffen und Investitionsgütern. Hierbei spielte der öffentliche Sektor eine entscheidende Rolle. Staatsunternehmen lancierten eine große Zahl von sehr ambitionierten und schlecht koordinierten Großprojekten. Dies führte zu einer immer höher werdenden Auslandsverschuldung, da der Kapitalbedarf aufgrund der äußerst günstigen Bedingungen (teilweise negative Realzinsen!) auf dem internationalen Kapitalmarkt damals hauptsächlich aus Auslandskrediten gedeckt wurde. Dies führte natürlich zu einer großen Abhängigkeit von den ausländischen Kapitalgebern (Sangmeister, 236).

3.5. General Joao Baptista de Oliveira Figuereido, 1979 - 1985

Unter Präsident Figuereido begann in Brasilien eine Politik der Öffnung. Politische Häftlinge wurden freigelassen, Exilierte und Verbannte durften nach Brasilien zurückkehren, und die Zensur der Medien wurde faktisch abgeschafft (Wöhlcke, 42).

Eine Parteireform im Jahr 1980 erlaubte die Gründung von neuen politischen Parteien. Diese Reform wurde aber auch als Schachzug gesehen, um die sehr einheitlich agierende Opposition MDB, die innen die verschiedensten Strömungen aufwies, durch eine Aufsplitterung in verschiedene Oppositionsparteien zu zersplittern und politisch zu schwächen. Diese Rechnung ging jedoch nicht auf. Am 15.11.1982 kam es zu allgemeinen Wahlen, die, auch wenn sie noch nicht "voll-demokratisch" waren, einen großen Schritt nach vorn darstellten (ebda.).

Zum Jahreswechsel 1982/83 ging die Weltinflation zurück, und die Zinssätze für Auslandskredite wurden wieder positiv. Aufgrund dieser Entwicklung wurde die mittelfristige Kreditwürdigkeit Brasiliens negativ bewertet. Dies führte zu einem brasilianischen Schuldenmanagement, das auf kurzfristige, teurere Kredite baute. Dadurch war es nur noch eine Frage der Zeit, bis Brasilien sein Zahlungsunfähigkeit verkünden mußte und das Land in eine massive Verschuldungskrise geriet (Sangmeister, 236).

 

4. Schlußbetrachtung

Die künstliche Opposition im Militärregime, die anfangs noch gefördert werden mußte, erwuchs mit der Zeit zu einer echten Gegenkraft, die sodann vom Regime unter Kontrolle gehalten wurde. Die Machthaber waren immer mit dem Anspruch angetreten, Brasilien zu redemokratisieren. Dies geschah Schritt für Schritt, oder von "Paket zu Paket" (Wöhlcke, 42). Die Eigendynamik, die diese Prozesse aufgrund der schweren ökonomischen Krise und dem zunehmenden Druck der Opposition entwickelten, machten es dem Regime zunehmend schwerer, seine Ziele durchzusetzen (ders., 43).

Das Militärregime war angetreten, um Brasilien aus einer ökonomischen und politischen Krise zu befreien. Als die Diktatur der Militärs am Ende war, hinterließ sie dem Land einen noch größeren wirtschaftlichen und politischen Scherbenhaufen.

[Das schrieb der naive Junge von der Uni Tübingen anno 1995, als man noch von den Errungenschaften der ach-so-bösen Militärdiktatur zehrte. Heute, nach einigen Jahren "Demokratie", weiß man in Brasilien erst wirklich, was ein "wirtschaftlicher und politischer Scherbenhaufen" ist. Nur bis ins ferne Europa mit seiner rosa-roten Brille scheint sich das noch nicht ganz herum gesprochen zu haben, Anm. Dikigoros.]

Literatur

Baeza, Mario Fernández, Artikel 'Doktrin der nationalen Sicherheit', in: Dieter Nohlen (Hrsg), 'Lexikon Dritte Welt', 6.A., Reinbek 1994

Görgen, Hermann Matthias, 'Brasilien - Landschaft - Politische Organisation - Geschichte', Nürnberg 1971

Madlener, Kurt, 'Das Problem der Menschenrechte in Brasilien', in: Rafael Sevilla / Darcy Ribeiro (Hrsg.), 'Brasilien - Land der Zukunft?', Unkel / Rhein und Bad Honnef 1995

Nohlen, Dieter (A), Artikel 'civic action', in: Dieter Nohlen (Hrsg), 'Lexikon Dritte Welt', 6.A., Reinbek 1994

Nohlen, Dieter (B), Artikel 'counterinsurgency', in: Dieter Nohlen (Hrsg), 'Lexikon Dritte Welt', 6.A., Reinbek 1994

Sangmeister, Hartmut, 'Brasilien', in: Dieter Nohlen / Franz Nuscheler, 'Handbuch der Dritten Welt', Bd. 2, 3.A., Bonn 1995, S. 219-277

Wöhlcke, Manfred, 'Brasilien, Anatomie eines Riesen', 2.A., München 1987