Die Austreibung der Angst vor der Erinnerung

von Thomas Urban (SZ 02.09.2003)

Schlechte Zeiten für die Aktivisten des deutsch-polnischen und des deutsch-tschechischen Dialogs. Die Stimmung verdüstert seit Monaten der Streit um ein „Zentrum gegen Vertreibungen“, wie es die gleichnamige Stiftung in Berlin aufbauen möchte. An deren Spitze stehen die Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach, und der ehemalige SPD-Vordenker Peter Glotz. Doch die CDU-Bundestagsabgeordnete Steinbach wird in Polen und Tschechien einhellig als Störerin der Versöhnung zwischen den Völkern angeprangert, denn ihr Projekt, heißt es, leugne die Verantwortung der Deutschen für den Zweiten Weltkrieg.

Es ist das erste Mal seit der Wende von 1989, dass fast alle Polen wie Tschechen einer Meinung sind: Es gilt, ein deutsches „Vertriebenenmuseum“ zu verhindern. Dass das Projekt auch von Intellektuellen wie Daniel Cohn-Bendit, Ralph Giordano, Rupert Neudeck oder Julius Schoeps unterstützt wird, die sich mit ihrem Einsatz für die Völkerverständigung einen Namen gemacht haben, berichten die polnischen und tschechischen Medien dagegen kaum – auch lassen sie Befürworter eines Dialogs mit den Vertriebenen kaum zu Wort kommen. Stattdessen reibt man sich an dem durchaus willkommenen Feindbild Steinbach. Ein Publizist fragte in der seriösen Tageszeitung Rzeczpospolita gar, ob sie als Kleinkind im Krieg möglicherweise mit Seife aus den Leichen polnischer KZ-Häftlinge gewaschen worden sei.

Die Zusicherungen von Bundeskanzler Gerhard Schröder und Außenminister Joschka Fischer, ein Zentrum in Berlin nicht zu unterstützen, wurden als „gewonnene Schlacht in einem Krieg“ bejubelt. Der polnische Staatspräsident Aleksander Kwasniewski schlug nun vor, ein Institut zur Erforschung von Vertreibungen in Sarajevo einzurichten – den Vorschlag verstanden allerdings auch besonnene polnische Publizisten als Versuch, den sperrigen Gegenstand mit dem Etikett „europäisch“ für immer zu entsorgen. Und Premierminister Leszek Miller, einst Mitglied der Betonfraktion der KP, nun angeschlagen durch zahlreiche Korruptionsaffären in seiner unmittelbaren Umgebung, wittert eine Chance, aus dem Umfragetief herauszukommen: In einer Fernsehansprache versprach er der Nation, die Steinbach’schen Versuche, „die Geschichte umzuschreiben“, energisch zu blockieren. Senatsmarschall Longin Pastusiak, der einst Bücher über die USA als größten Feind des Weltfriedens geschrieben hatte, nun aber für eine enge Anlehnung an Washington plädiert, erklärte gar, es habe überhaupt keine „Vertreibung“ gegeben, sondern eine „Aussiedlung“ auf Befehl und unter Kontrolle der Alliierten.

Pastusiaks Versuch der Geschichtsklitterung im alten Stil war indes auch eine schallende Ohrfeige für all die polnischen Historiker und Publizisten, die um Objektivität bemühte Studien über das Schicksal der Vertriebenen vorgelegt haben. Einige dieser Brückenbauer aus beiden Ländern beklagen sich nun, dass ihnen Schröder und Fischer ebenfalls in den Rücken gefallen seien. Der Prager Politologe Bohumil Dolezal meint etwa, die Berliner Politiker stellten sich faktisch auf die Seite der Nationalisten, „die die Geschichte verfälschen“.

Mit anderen Worten: In einer Zeit, in der von einem demokratischen Deutschland keine politische Bedrohung mehr ausgeht, dürfen die jungen Demokratien Polen und Tschechien auch düstere Kapitel der eigenen Geschichte nicht länger verdrängen. Es geht um fundamentale moralische Kategorien wie Kollektivschuld, Vergeltung, Rache, aber auch Sühne, Reue und Versöhnung. Politiker können und dürfen dabei nicht Schiedsrichter spielen.


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