»Aufbau Ost« gescheitert

Beraterkreis der Bundesregierung konstatiert düsteres Bild von der Lage in den ostdeutschen Ländern

In: junge Welt vom 05.04.04

Die Einrichtung einer weitgehend deregulierten »Sonderwirtschaftszone Ost« hat ein Beraterkreis der Bundesregierung gefordert. Das berichtete das Nachrichtenmagazin Der Spiegel in seiner neuesten Ausgabe. Die Berater erklärten den »Aufbau Ost« für weitgehend gescheitert. Für den zuständigen Minister Manfred Stolpe sagte sein Sprecher Felix Stenschke am Sonntag, es handele sich um »interessante Einzelvorschläge«. Mit der Umsetzung von einigen sei bereits begonnen worden. Der Beraterkreis unter dem Vorsitz des früheren Hamburger Bürgermeisters Klaus von Dohnanyi zeichnete in seinem Bericht zur Lage in den neuen Ländern ein düsteres Bild, wie das Magazin berichtete. Der »Aufbau Ost« sei weitgehend gescheitert, die Bundesregierung handele nicht koordiniert, laute die Bilanz. Die Arbeitslosigkeit erreiche die katastrophale Größe von nahezu 20 Prozent, warnten die Berater, zu denen auch der frühere DDR-Staatsbanker Edgar Most gehört. Die andauernde Abwanderung vor allem junger Menschen habe eine »dramatische Überalterung« und einen gefährlichen »Verlust besonders gut ausgebildeter Menschen und kreativer Köpfe« zur Folge.

Der Sprecher des für den »Aufbau Ost« zuständigen Ministeriums räumte ein, daß es in den vergangenen 15 Jahren seit der Wiedervereinigung eine Deindustrialisierung gegeben habe.

(AP/jW)

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Hickel, Kurz, Nick & Luft

Schulden den »Schuldigen«

Heute: Harry Nick

In: Neues Deutschland vom 08.04.2004

 

Die DDR moralisch und rechtlich zu delegitimieren, war den bundesdeutschen Obrigkeiten zu wenig, die »Schuldigen« sollten auch noch mit Profanem beladen werden. »Die mit dem Einigungsvertrag und danach verfolgte Altschuldenpolitik hat die Schulden der DDR erst begründet«, meint der Verfassungs- und Wirtschaftsrechtler Karl Albrecht Schachtschneider. Damit diese erfundenen Schulden mit ihrer ganzen Last die »Schuldigen« trafen, musste einiges aus den Rechnungen und möglichst auch aus dem öffentlichen Bewusstsein ausgeräumt werden. Etwa die Tatsache, dass auch die Westdeutschen reichlich mit Schulden beladen waren. Keine Rede davon, dass die Ostdeutschen je Einwohner ein viel größeres öffentliches Vermögen und erheblich niedrigere öffentliche Schulden in die Einheit mitbrachten als die Alt-Bundesbürger.

Die Sieger präsentierten ihre Rechnung auch in den wechselseitigen Verbindlichkeiten. Die 5,8 Milliarden Mark DDR-Verbindlichkeiten aus dem innerdeutschen Handel wurden penibel in die Schuldenrechnung aufgenommen. Beiseite geschoben wurde die Tatsache, an die Prof. Arno Peters schon im November 1989 erinnerte: die von der DDR für ganz Deutschland geleisteten Reparationszahlungen. »Mir geht es darum, deutlich zu machen, dass wir, wenn wir jetzt der DDR Ressourcen zur Verfügung stellen, das nicht unter der Überschrift ›Hilfe‹ oder gar ›altruistische Hilfe‹ subsumieren können.« Die BRD müsse sich als Treuhänder ansehen »für die Bevölkerung der DDR in Bezug auf dieses gewissermaßen gesparte Kapital, mit dem wir ja arbeiten konnten. Und dieses Treugut muss man natürlich zurückgeben.«

Es geschah das Gegenteil. Das produktive Potenzial Ostdeutschlands wurde binnen drei Jahren weitgehend vernichtet. Große und leistungsstarke Wissenschaftslandschaften wurden zerstört. Die Industrie wurde westdeutschen Firmen zum Plündern ausgeliefert, nach drei Jahren waren 70Prozent des Potenzials verschwunden. Übrig blieb ein Schuldenberg. Zu den neuen Schulden kamen die »Altschulden der DDR« hinzu, regierungsamtlich mit 216,7Milliarden DM beziffert; zu ihnen gehörten neben den Altschulden der Treuhandbetriebe von 104 Milliarden DM vor allem Schulden der Wohnungsbaugesellschaften, der Kommunen und der Agrargenossenschaften.

Unter den Fachleuten herrschte weitgehende Übereinstimmung darüber, dass die so genannten Kredite der DDR-Betriebe, von denen die »Altschulden« vor allem hergeleitet wurden, im ökonomischen Sinne keine Kredite waren. Sie wurden von den Betrieben nicht beantragt, um Investitionen zu finanzieren und sie aus deren Erträgnissen später zu tilgen. Es gab in der DDR-Wirtschaft zu keiner Zeit eine Eigenfinanzierung der Mittel. Kredite wurden nicht beantragt, sondern zugeteilt. Einziges Motiv der Vergabe war die Kontrolle der Banken über die Kreditverwendung.

Noch wichtiger als der Streit über Herkunft und Charakter der DDR-Altschulden ist die Frage: Welche Schulden kann eine sich auflösende Staatswirtschaft hinterlassen? In jedem Falle die Auslandsschulden sowie die finanziellen Deckungen für die Sparguthaben der Bevölkerung. Schulden der Betriebe bei der Staatsbank waren »In-sich-Schulden der DDR-Staatswirtschaft«. Ob es aus irgendwelchen Gründen Geschäftsbeziehungen zwischen Unternehmen und Banken gibt, spielt im Falle der Auflösung einer Staatswirtschaft keine Rolle mehr.

Was aber war der eigentliche Trick, der Schöpfungsakt der »DDR-Altschulden«? Staats-Guthaben sowie Staats-Verbindlichkeiten wurden voneinander getrennt und verschiedenen Eigentumssubjekten übertragen. Die Guthaben wurden im Zuge der Privatisierung der staatlichen DDR-Banken Eigentum von Privatbanken, die Schulden blieben den Betrieben. Dieser Vorgang war eine skandalöse Bereicherung der Banken. Die DDR-Banken wurden bundesdeutschen Privatbanken »für ’nen Appel und ein Ei« vermacht, die Guthaben hingegen wurden ihnen, umgerechnet nach dem für die Währungsunion geltenden Koeffizienten, in voller Höhe übertragen. Diese geschenkten Guthaben betrugen ein Vielfaches des »Kaufpreises«.

Damit die Schuldenlast auch ordentlich drückte, mussten natürlich auch die Zinsen vervielfacht werden. Die »Kreditnehmer« in der DDR zahlten sehr niedrige, eher symbolische Zinsen. Das »Zinsanpassungsgesetz« vom 24. Juni 1991 bestimmte im §1: »Kreditinstitute können den Zinssatz für Kredite, die in der Deutschen Demokratischen Republik bis zum 30. Juni 1990 gewährt worden sind, durch einseitige Erklärung gegenüber dem Kreditnehmer mit Wirkung vom 3. 10. 1990 an die zu diesem Zeitpunkt bestehenden Marktzinsen anpassen.« Das war schlichter Rechtsbruch, denn ein laufender Kreditvertrag kann nur einvernehmlich geändert werden.

Zu den bitteren Erfahrungen der Ostdeutschen gehört, dass alle sozialen Grausamkeiten wie die »Altschulden«, die Strafrente für DDR-Staatsnahe, das Prinzip »Rückgabe vor Entschädigung« durch höchstrichterlichen Bescheid zwar in ihrer Exekution vielfach abgemildert, in ihrer Substanz aber bestätigt wurden. Es gibt sie immer noch. Und sie drücken immer noch kräftig.

In der ND-Wirtschaftskolumne befassen sich der Bremer Wissenschaftler Rudolf Hickel, der Nürnberger Philosoph Robert Kurz, der Berliner Politökonom Harry Nick sowie die PDS-Wirtschaftsexpertin Christa Luft mit Hintergründen aktueller Vorgänge.

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Aufbau Ost Spieler

Deutschland wieder fit machen

Prof. Horst Klinkmann: Bundesweiter Kassensturz nötig, um Mittel sinnvoll einsetzen zu können

Von Claus Dümde

In: Neues Deutschland vom 08.04.2004

 

Statt über »Absturz West durch Aufbau Ost« zu schwätzen, solle man einen bundesweiten Kassensturz machen, fordert Prof. Dr. Horst Klinkmann. Nur so sei zu erkennen, wo Mittel sinnvoll eingesetzt werden können, betont das Mitglied der Regierungskommission, die Bilanz der Lage in Ostdeutschland ziehen und Empfehlungen formulieren soll. Mit gemischten Gefühlen hat der Mediziner Horst Klinkmann, letzter Präsident der Akademie der Wissenschaften der DDR und heute Vorstands- bzw. Aufsichtsratsvorsitzender des gemeinnützigen Vereins BioCon Valley und einer gleichnamigen GmbH in Greifswald, die Titelstory des »Spiegel« dieser Woche über das vermeintliche Milliardengrab Ostdeutschland aufgenommen. Froh sei er einerseits, dass nun mal wieder über den Osten geredet wird, der einem »resignativen Desinteresse« anheim zu fallen drohte, sagt er im Gespräch mit ND. Anderseits regt ihn auf, dass »halbfertige Ergebnisse«, die in der Kommission diskutiert wurden, in die Öffentlichkeit getragen und von »Einzelnen« publik gemacht und als Position des Gremiums (einen Vorsitzenden hat es gar nicht) ausgegeben werden. »Wir sind noch relativ weit vom Endergebnis entfernt«, stellt Klinkmann klar.

Er sei sich sicher gewesen, dass die 13 Ostexperten »sehr ernsthafte und solide Arbeit« geleistet hätten und mit »sehr unkonventionellen Ideen« an die Öffentlichkeit getreten wären, zu denen Politiker gar nicht mehr fähig sind, sagt der 68-Jährige. Nun sei aber erst mal eine »Bestandsaufnahme« nötig, ob das, was als Empfehlungen der Kommission ausgegeben wird, von all ihren Mitgliedern getragen werde.

»Was mich aufregt, ist das Gerede von einem Absturz West durch den Aufbau Ost«, bekennt Klinkmann. Das sei das »glatte Gegenteil« dessen, worauf es ankommt: »Aufbau Ost und Aufbau West sind untrennbar miteinander verbunden.« Als Anhänger des FC Hansa falle ihm auch da ein Vergleich aus dem Fußball ein: Von einem Spieler, der an einem Bein verletzt ist, könne man kein Tor erwarten. Jetzt müsse auch der Spieler Deutschland wieder fit gemacht werden, damit er mit zwei gesunden Beinen im internationalen Wettbewerb besteht.

»Bösartig« nennt Klinkmann die These vom Osten als Fass ohne Boden, in das Milliarden fließen, die dann im Westen fehlen. Es handle sich dabei nicht um eine »Einbahnstraße«; der Mittelrückfluss in den Westen habe »beträchtliche Ausmaße«. Die gestern auch von Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber erhobene Forderung nach Konzentration der Fördermittel auf »leistungsfähige Innovationskerne« sei nicht nur für die neuen Länder berechtigt, unterstreicht Klinkmann unter Verweis auf Milliarden-Subventionen für westdeutsche Steinkohle. Er setze sich in Mecklenburg-Vorpommern dafür ein. Eine solche Diskussion dürfe aber nicht zu einer ungleichen Fördermittelverteilung unter den Ländern führen.

»Wir sollten Cluster fördern, wo bereits Konzentrationen sind«, hatte gestern Kommissionsmitglied Hilmar Fuchs, Leiter des Sächsischen Textilinstituts, gegenüber dpa geäußert. Sicher nicht zufällig nannte er als Beispiele dafür aber Standorte in allen neuen Ländern: Jena-Rudolstadt, Dresden, Erfurt, Chemnitz und Umland, Rostock, Potsdam und Region, Wildau-Cottbus und Halle-Leipzig. Dort gebe es Universitäten, außeruniversitäre sowie Industrieforschungseinrichtungen. Wachstum entstehe nur bei einer durchgehenden Kette von der Grundlagen- zur Industrieforschung und der Umsetzung in die Produktion. So habe 2002/03 beim Projekt InnoWatt jeder eingesetzte Euro zu zehn Euro Umsatzsteigerung geführt.

Der Sprecher der ostdeutschen SPD-Bundestagsabgeordneten, Siegfried Scheffler, hatte gestern dafür plädiert, »die Förderpolitik in den neuen Ländern gründlich zu überdenken«. Klinkmann geht da viel weiter und fordert eine Umverteilung der in ganz Deutschland zur Verfügung stehenden Forschungsmittel zugunsten der neuen Bundesländer. Auch das könne sie für junge Leute interessant machen, nicht nur ein gutes Gehalt.

Scheffler denkt offenbar eher an eine auch von Stoiber favorisierte »Sonderwirtschaftszone«. »Wir brauchen mehr Freiräume«, äußerte er unbestimmt. Gesetze müssten daher »für eine gewisse Zeit« ausgesetzt werden. Der ressortmäßig auch für den »Aufbau Ost« zuständige Bundesminister Manfred Stolpe blieb wie immer unverbindlich. »Skeptisch« sei er, »ob in Ostdeutschland eine Sonderwirtschaftszone eingerichtet werden soll«, ließ er verlauten. Erfolg versprechender scheine ihm, »die vorhandenen Stärken« auszubauen. »Es ist ja nicht so, dass alles das nackte Elend ist«, so die Analyse von Kanzler Schröders Ostbeauftragtem.

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Sonderzonen für Osten abgelehnt

Neue Runde in der Debatte um die Zukunft der ostdeutschen Wirtschaft

Wieder einmal gibt es eine Diskussion um die Zukunft Ostdeutschlands. Gestern wurden zum großen Teil alte Vorschläge aus dem Keller geholt.

In: Neues Deutschland vom 07.04.2004

 

Berlin (ND/Agenturen). Die Bundesregierung will im Osten keine Sonderwirtschaftszonen einrichten lassen. Auch einen nur für den Osten zuständigen Koordinator der Regierung werde es nicht geben. Das erklärte am Dienstag ein Sprecher des Verkehrsministeriums. Koordinator für den Osten sei Verkehrsminister Manfred Stolpe.

Stolpe ist als Minister nicht nur für den Osten und den bundesdeutschen Verkehr, sondern auch noch für weitere Ressorts zuständig. Auch deshalb kritisierten gestern Politiker mehrerer Parteien den Minister.

Stolpes Ministerium hatte eine Expertengruppe zusammengerufen, die Vorschläge für den Osten ausarbeiten soll. Dabei forderte der Hamburger SPD-Politiker Klaus von Dohnanyi »einen kraftvollen Koordinator«, der nichts anderes machen sollte, als sich um den Aufbau Ost zu kümmern. FDP-Generalsekretärin Cornelia Pieper verlangte daraufhin den Rücktritt des Ministers. Er habe auf der ganzen Linie versagt. Laut Agenturberichten soll bereits der Leipziger SPD-Politiker Hinrich Lehmann-Grube als neuer Staatssekretär für ostdeutsche Angelegenheiten umworben werden. Wie in solchen Debatten inzwischen üblich, antwortete Lehmann-Grube, er wisse von nichts.

Professor Horst Klinkmann, Rostocker Mitglied der Expertengruppe kritisierte die frühe Veröffentlichung einzelner Ergebnisse. Die Arbeit sei höchstens zu 40 Prozent fertig gewesen: »Ich bedauere es sehr, dass der Arbeitskreis Ost als Alibi benutzt wird.«

Ein spezielles Thema war gestern die Bildung von Sonderwirtschaftszonen im Osten. In solchen Zonen könnten Steuerermäßigungen und vereinfachte Vorschriften erlassen werden. Eine Hauptzielrichtung bei von Agenturen befragten Wirtschaftswissenschaftlern lag jedoch beim Abbau von Flächentarifen und von sozialen Leistungen. In der Bundesrepublik hat es solche Zonen bisher nicht gegeben. Gegen derartige Versuche wandte sich PDS-Vorsitzender Lothar Bisky. Dies sei nur der Versuch, den Aufbau Ost »als Pilotprojekt für den Abriss des alten rheinischen Wohlfahrts-Kapitalismus nach dem Vorbild von Thatcher und Blair, Reagan und Bush zu gestalten«. Die PDS werde ihre eigenen Vorschläge dem Beraterkreis um Klaus von Dohnanyi zur Verfügung stellen, versprach Bisky.

Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck sprach gegen ein weiteres Deregulieren des ostdeutschen Arbeitsmarktes. Ostdeutsche würden schon längst für weniger Geld länger arbeiten. Der neue SPD-Generalsekretär Klaus Uwe Benneter warnte davor, den Osten durch Sonderregelungen abzuschotten. Dagegen hält der sächsische Ministerpräsident Georg Milbradt (CDU) unterschiedliche Gesetze in Ost- und in Westdeutschland für eine notwendige Sache. Im Osten sollten zudem bei sehr niedrigen Löhnen staatliche Ergänzungsleistungen zugelassen werden, sagte er.

Beispiele für derart große Sonderwirtschaftszonen wie Ostdeutschland existieren weltweit nicht. Solche Zonen wurden unter anderem in der russischen Exklave Kaliningrad oder bei den chinesischen Millionenstädten Shanghai und Hongkong eingerichtet. Die bieten Zollfreiheit und Steuervorteile sowie zum Teil sehr niedrige Löhne an. Vorschläge für Sonderwirtschaftszonen in Ostdeutschland wurden bereits 1990 verworfen.

Diskutiert wurde gestern noch ein weiterer Vorschlag Dohnanyis. Der wurde mit der Ansicht zitiert, ostdeutsche Länder sollten nicht mehr allein über die Fördermittel bestimmen dürfen. Sie stünden untereinander »in einem unsinnigen Wettbewerb«. Dohnanyi schlug weiter vor, vor allem ostdeutsche Wachstumskerne oder Tariföffnungen (also Niedriglöhne) zu fördern. Außerdem machte der SPD-Politiker Ost–Milliarden für die »Wachstumsschwäche« der Bundesrepublik verantwortlich.


Standpunkt

Standhafte Ignoranz

Von Dieter Janke

In: Neues Deutschland vom 07.04.2004

 

In regierungsoffiziellen Statements war er kaum mehr eine Zeile wert – urplötzlich ist der Osten Deutschlands wieder ein Thema. Eine von Bundeswirtschaftsminister Clement initiierte Studie hat die bundesdeutsche Öffentlichkeit durch eine grausige Zustandsbeschreibung aufgeschreckt, die der ehemalige DDR- und heutige Deutsch-Banker Edgar Most in die Worte kleidet, der Osten verdumme, verarme und vergreise.

Diese sarkastische Prognose allein wäre noch kein hinreichender Grund für das wiedererwachte Interesse an den Verwerfungen zwischen Fichtelberg und Kap Arkona. Erst der Verweis auf die West-Ost-Transfers und die Diagnose, die neuen Länder hingen dem deutschen Standort wie ein Mühlstein am Halse, rief die Granden aller politischen Lager und die Ostexperten der Forschungsinstitute wieder auf den Plan. Gar trefflich debattieren sie nunmehr, ob es vielleicht hilfreich wäre, aus dem Osten eine deregulierte »Sonderwirtschaftszone« zu machen.

Die Idee eines arbeits-, tarif- und vergaberechtlichen Freiraums ist indes so neu nicht. Sie war schon vor Jahresfrist von Superminister Clement mit seiner Forderung nach »Experimentierklauseln« lanciert worden – just im Vorfeld der Berufung jener Kommission, die nunmehr das ostdeutsche Dilemma auf den Punkt brachte und Deregulierung als Heilmittel empfiehlt. Die Vermutung scheint so falsch nicht zu sein, dass der deutsche Osten der Öffentlichkeit als Experimentierfeld vermittelt werden soll.

Standhaft ignoriert wird dabei freilich, dass die Region bereits zum großen Teil eine tariffreie Zone ist, in der vielfach selbst das Arbeitsrecht auf der Strecke bleibt. Einen Zuwachs bei der Beschäftigung brachte diese Deregulierung nicht. Der fand in Bayern und in Baden-Württemberg statt. Dass diese alten Länder aber als »Sonderwirtschaftszonen« ausgewiesen sind – davon hat man bisher nichts gehört.

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Läßt sich Sinnlosigkeit steigern?

Ostexperte Klaus von Dohnanyi versucht es

In: junge Welt vom 07.04.2004

 

Es gibt Steigerungen von Sinnleere: Man kann versuchen, Wasser mit Sieben zu schöpfen, man kann sich einbilden, aus dem Spiegel Informationen über den Osten zu erhalten, man kann auch Klaus von Dohnanyi zum Experten für irgend etwas ernennen. Das Nachrichtenmagazin entflammt in seiner zu 98 Prozent westdeutschen Leserschaft in dieser Woche alle Steuerspar-, Lohnsenkungs- und Sozialversicherungsauflösungsreflexe mit einer bombastischen Zahl: »1 250 Milliarden Euro«, die den »Aufbau Ost« zum »Absturz West« gemacht haben sollen. Alle Jahre wieder wird jede Ostrente, jedes Ostkindergeld und jedes Ost-BAföG zu einem nationalen Notopfer des Westens zusammengerechnet. Die Bundesregierung zählte 1999 etwa 40 Milliarden DM, die tatsächlich pro Jahr konstant und zusätzlich in die Infrastruktur des Ostens fließen. Dabei blieb es. Gebracht hat das Westgeld nichts. Die Ostdeutschen haben mit Niedriglöhnen, exorbitanter Arbeitslosigkeit, millionenfacher Abwanderung und Rückentwicklung einiger Regionen auf das niedrigste Niveau der EU ihren Brüdern und Schwestern erst den Krieg und »auch noch den Frieden« bezahlt.

Die Formulierung vom »Frieden« stammt aus dem Dezember 1992. Klaus von Dohnanyi, Treuhandberater und Auflöser eines DDR-Kombinats, warnte mit ihr damals eine Runde bundesdeutscher Manager in Leipzig vor der Deindustrialiserung. Elf Jahre später, so zitierte ihn die Berliner Zeitung am Dienstag, will er als Ostexperte der Bundesregierung »mit dem Geld effektiver umgehen« und bis Oktober dafür einen »Masterplan« vorlegen. Es gibt auch Steigerungen von Sinnlosigkeit.


Cousinen-Not

Studie sieht Osten am Boden

Von Dieter Janke

In: Neues Deutschland vom 05.04.04

 

Was jede Ostdeutsche tagtäglich feststellt, hat eine Expertenstudie offiziell bestätigt: Die mit dem Adjektiv »neue« versehen Bundesländer stehen nicht auf der Kippe, wie vor Jahren ein dafür viel gescholtener SPD-Spitzenfunktionär diagnostizierte. Viel schlimmer, sie liegen am Boden und drohen zu einem gesamtdeutschen Menetekel zu werden.

Beängstigende Arbeitslosigkeit, massenhafte Abwanderung kreativer junger Köpfe und flächendeckende Vergreisung ganzer Landstriche seien die derzeit dominierenden Charakteristika für Deutsch Nordost, stellt der »Gesprächskreis Ost« um Klaus von Dohnanyi trefflich und nüchtern fest. Einer speziellen Studie hätte es dazu eigentlich nicht bedurft, aber vielleicht wird man durch sie in Berliner Amtsstuben endlich munter. Der hier zur Schau getragene und mit den stärker werdenden sozialen Protesten offenbar erst so richtig zu Tage tretende rot-grüne Autismus macht indes wenig Hoffnung, dass sich die »zutiefst beunruhigende« Lage im Osten alsbald in adäquatem Regierungshandeln widerspiegeln würde. Die Cousinen Gerhard Schröders sind schließlich alle entdeckt. Zudem schwinden die Felle des Kanzlers inzwischen auch in angestammten sozialdemokratischen Hochburgen des Westens. »Chefsache« des Bundeskanzlers wird daher vorerst das Überleben im Amt sein. Für die Nöte der Ostdeutschen bleibt wenig Zeit.


zurück zu Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin!

heim zu Reisen durch die Vergangenheit