Argentinien: Durchwursteln auf Pump

von Brigitte Hagemann, Buenos Aires

(Financial Times Deutschland, 15.11.2001)

Die Finanzlage Argentiniens hat sich dramatisch zugespitzt. Während Bankiers und Provinzfürsten mit der Zentralregierung in Buenos Aires um eine Umschuldung ringen, haben sich die Bürger längst mit dem alltäglichen Finanzchaos arrangiert.

In der ausgedienten, grauen Fabrikhalle der Bierbrauerstadt Quilmes südlich von Buenos Aires drängen sich die Besucher wie an jedem Markttag. Hunderte von Kunden umringen mehrere Dutzend wackelige Klapptische, auf denen sich die Waren türmen: Obst, Kleidung oder Hausrat. Auch Kinderärzte, Hellseher und Psychologen bieten ihre Dienste an. Gezahlt wird mit Créditos, einer Fantasiewährung, die nur auf den zahlreichen Tauschmärkten im Land gilt.

"45 Créditos" signalisiert das handgeschriebene Preisschild an der Wolljacke, die Norma Locardel verkauft. Die 52-jährige verhärmte Witwe hat vor sechs Jahren ihre Stelle verloren und verdient sich seither ihren Unterhalt mit Stricken. "Für den Preis eines Pullovers kann ich viel einkaufen: eine Flasche Speiseöl kostet anderthalb Créditos, das halbe Dutzend Pastetchen sechs Créditos."

Der Tauschhandel blüht in Argentinien. Waren im Wert von rund 500 Mio. $ wechseln jährlich ihren Besitzer, ohne dass ein einziger Peso gezahlt wird. Im ganzen Land gibt es bereits 800 Tauschclubs mit einer halben Million Mitgliedern.

Während sich die Argentinier mit der Währungskrise arrangiert haben, kämpft Wirtschaftsminister Domingo Cavallo um die Rettung der angeschlagenen Staatsfinanzen. Vergangene Woche bot er Gläubigerbanken an, hochverzinsliche Anleihen gegen Schuldtitel einzutauschen, die höchstens 7% Rendite bringen. Schlagen die Geldgeber das Angebot aus, riskieren sie, am Ende leer auszugehen - nämlich, wenn Argentinien Pleite geht.

Mit seinem Angebot versucht Cavallo die Katastrophe abzuwenden. Die offentlichen Schulden Argentiniens sind auf 132 Mrd. $ emporgeschnellt. Das entspricht zwar nur der Hälfte des Bruttoinlandsprodukts. Doch Zinssätze bis zu 25% lassen die Kosten für den Schuldendienst explodieren.

Von Kriedit zu Kredit hangeln

Das Land hangelt sich von Kredit zu Kredit: Internationale Darlehenszusagen über 39,7 Mrd. $ Anfang des Jahres erwiesen sich schon bald als unzureichend. Bereits im September musste der Internationale Währungsfonds (IWF) 8 Mrd. $ nachschießen. Auch eine Umschuldung von Krediten über 30 Mrd. $ im Juni verschaffte nur vorübergehend Luft. Nach inoffiziellen Schätzungen von IWF-Experten bräuchte Argentinien eine Geldspritze von 60 bis 70 Mrd. $, um wieder auf die Beine zu kommen. Und das ist bei der derzeitigen Weltwirtschaftslage nicht drin.

Präsident Fernando de La Rúa lässt keine Gelegenheit aus, internationale Geldgeber von seinen hehren Absichten zu überzeugen. Am Wochenende versuchte der Staatschef US-Präsident George W. Bush für die Unterstützung des Rettungsplans zu gewinnen, am Mittwoch bat er in Berlin Bundeskanzler Gerhard Schröder um "mehr Verständnis" für die Wirtschaftsprobleme seines Landes. Auf frisches Geld mag die Regierung kaum hoffen. "Wir müssen unseren Gläubigern die Wahrheit sagen", sagte Wirtschaftsminister Cavallo vorige Woche nach einem Blitzbesuch in New York, "es kommt kein Geld von außen."

Leben mit der Depression

Die Depression gehört zum Alltag des einstigen IWF-Musterschülers. Beim sonntäglichen Grillen im Garten sprechen die Argentinier nicht mehr nur über Fußball. Die Diskussionen kreisen um "Deflation" und "Konvertibilität", um "Dollarisierung" und "Rezession". Wie stark die Risikoprämie argentinischer Anleihen gegenüber US-Titeln angestiegen ist, verfolgen viele im Internet. Gestern kletterte der Renditeabstand auf einen Rekordwert von mehr als 2600 Basispunkten. Russische Staatspapiere brachten 6890 Punkte mehr als US-Bonds, bevor das Land 1998 den Bankrott erklärte.

Findige Politiker nehmen sich die Tausch-Initiativen im ganzen Land zum Vorbild, um finanziell über die Runden zu kommen. Zum Beispiel in der Provinz Buenos Aires, die rund 5 Mrd. $ Schulden angehäuft hat: Um die Gehälter von Polizisten und Lehrern zu bezahlen, ließ Gouverneur Carlos Ruckauf kurzerhand Schuldscheine im Wert von 450 Mio. $ drucken. Das Konterfei Dardo Rochas, des Gründers der Provinz-Hauptstadt La Plata, verleiht dem Notgeld, genannt "Patacon", offizielles Gepräge.

Ein Patacon ist theoretisch 1 Peso wert, und der wiederum kostet 1 $. Seit 1991 ist die argentinische Währung fest an den Greenback geknüpft. Die Zentralbank kann nur dann Peso-Scheine drucken, wenn jeder von ihnen durch einen Dollar in der Reserve gedeckt ist. Ruckauf musste daher in die Trickkiste greifen, um die Zahlungsfähigkeit der Provinz zu gewährleisten.

Die Geschäfte akzeptieren die Patacones nur widerwillig. Wechselgeld gibt es nicht. Lilian Doyle, Englischlehrerin in San Fernando, einem Vorort von Buenos Aires, steht stundenlang in den Banken Schlange, um ihre Patacones in kleine Scheine für Alltagseinkäufe umzutauschen. 40% ihres Gehalts werden ihr in der Kunstwährung ausgezahlt.

"Nur früher war es schlimmer"

"Die Lage ist katastrophal", sagt sie. Schlimmer als zu Zeiten der Hyper-Inflation Ende der 1980er Jahre. "Damals stiegen zwar die Preise, die Gehälter aber auch." Seit der Dollar-Bindung sind die Preise auf hohem Niveau stabil, doch die Einkommen fallen. Staat und Privat-Unternehmen haben ihren Bediensteten die Gehälter um mehr als 10% gekürzt. Derzeit verdient die Hälfte der Arbeitnehmer weniger als 400 Peso im Monat. Beschäftigungslosigkeit und Schwarzarbeit nehmen zu.

Immer mehr Argentinier lösen aus Angst vor einer Abwertung ihre Peso-Konten auf und horten Dollar. Seit Januar haben Banken ein Drittel ehr ungedeckte Schecks zurückgehen lassen als im gesamten Vorjahr zusammen. Selbst viele prestigeträchtige Fußballclubs sind am Rande der Pleite: Sie können ihre teuer eingekauften Stars nicht mehr bezahlen. Spieler streikten wochenlang für ihre Gehälter.

Das Ansehen Cavallos ist auf einem Tiefpunkt angelangt. Der Wirtschaftsguru, der erfolgreich die Hyper-Inflation bekämpft hatte, hat sein Ziel nicht erreicht. Trotz sechs Krisenplänen ist der Wert argentinischer Anleihen um die Hälfte geschrumpft. Der feierlichen Vorstellung seiner jüngsten Initiative zu Monatsbeginn blieben die Bankiers demonstrativ fern. Der Applaus der Anwesenden, zumeist Industrielle, war dünn, obwohl sie am meisten von den geplanten Maßnahmen profitieren.

Mehr Schwung in die Wirtschaft

Geringere Rentenbeiträge, mehr Sozialhilfe, ein reduzierter Mehrwertsteuersatz bei Zahlungen mit der Kreditkarte und Schonfristen für verschuldete Unternehmen sollen wieder Schwung in die Wirtschaft bringen. Wer seine Dollar ins Ausland geschafft hat, wird durch eine Steueramnestie ermutigt, sein Geld wieder in die Heimat zu bringen. Schätzungen zufolge geht es dabei immerhin um 90 Mrd. $. Finanzfachleute in Buenos Aires sind skeptisch, ob dieser Kraftakt etwas bringt: "Argentinien hält doch nur noch mit künstlicher Beatmung durch", sagt ein einheimischer Bankexperte, "es wäre viel gesünder, offen die Zahlungsunfähigkeit zu erklären und dann auf neuer Basis die Aufgaben anzupacken."

Cédric Mousset, Repräsentant des Crédit Lyonnais in Buenos Aires, hält den Plan für wenig glaubwürdig. "Es muss bezweifelt werden, dass er den Kollaps abwenden wird." Der Banker rechnet damit, dass die Regierung im November nicht einmal ihren Haushalt beschließen kann. Nun hängt alles davon ab, ob die lokalen Banken dem Umschuldungsangebot Cavallos zustimmen. Die in Argentinien angesiedelten Institute haben mittlerweile eingesehen, dass sie keine Wahl haben. Doch für ausländische Investoren wird die Operation erst interessant, wenn Cavallo als Garantie neue Gelder des IWF vorweisen kann.

Der Währungsfonds macht die Zuweisung zusätzlicher Mittel von einem neuen Sparpakt der Zentralregierung mit den 24 Provinzen abhängig. Die sollen nach dem Willen de La Rúas künftig weniger Zinsen für Bankdarlehen zahlen, wenn sie im Gegenzug auf einen Teil der Steuerzuweisungen der Zentralregierung verzichten. Insgesamt sind die Provinzen mit 22 Mrd. $ verschuldet.

Zunächst unterzeichneten nur neun Gouverneure der Regierungspartei und ein parteiloser Regionalfürst. Nach endlosen Verhandlungen kamen am Dienstag auch die Unterschriften von fünf der 14 Regionen hinzu, die in Händen der peronistischen Opposition sind.

Nach ihrem Triumph bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus und zum Senat im Oktober können es sich die Peronisten leisten, die Regierung warten zu lassen. "Die lassen de la Rúa weiter schmoren, um sich einen Sieg bei den Präsidentschaftswahlen 2003 zu sichern", meint Banker Mousset.

Viele Gouverneure lehnen es ab, die unpopuläre Sparpolitik der Regierung zu unterstützen. Gouverneur Ruckauf, Anwärter auf das Präsidentenamt, ist einer der zähesten Verhandlungspartner. Dabei steht ihm in seiner Provinz, Buenos Aires, das Wasser buchstäblich bis zum Hals: Sechs Millionen Hektar Pampa sind nach schweren Unwettern überflutet. In den Dörfern herrscht Verzweiflung. Mehrere Landwirte haben sich bereits das Leben genommen.

Trotz der dramatischen Lage wartet die Mehrheit der Peronisten weiter ab. "Die ,Titanic‘ kann auch ohne uns untergehen", kommentiert einer von ihnen. Sie setzen darauf, dass die Regierung de la Rúa am Ende den Kürzeren zieht und aufgeben muss.

Zumindest Wirtschaftsminister Cavallo dementiert anhaltende Rücktrittsgerüchte eisern und hält an seinem Kurs fest: "Mitten im Sturm verlasse ich nicht das Schiff."


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