Argentiniens Juden kehren der Heimat den Rücken

Immer mehr suchen wegen Chaos und Krise den Weg nach Israel

Hildegard Stausberg (Berliner Morgenpost, 12.01.2002)

Buenos Aires - Argentinien war vor hundert Jahren eines der beliebtesten Einwandererländer der Erde. Nun wird es zu einem Land, das seine Bewohner in Scharen verlassen wollen. So werden die Schlangen vor den Konsulaten der europäischen Staaten - vorrangig Spanien und Italien - immer länger. Und auch vor dem Konsulat Israels finden sich täglich Menschen ein, die eine neue Heimat suchen.

Michael Jankelowitz vom Büro der «Jewish Agency for Israel», einer in Jerusalem beheimateten Nicht-Regierungsorganisation, bekräftigte in diesen Tagen, dass seine Institution nicht überrascht sei von dieser Entwicklung: Schon seit zwei Jahren kämen immer mehr Juden aus Argentinien nach Israel, manche nur mit einem Koffer und ohne jedes Bargeld. Juden aus Argentinien machten jetzt die größte Zahl der Einwanderer aus westlichen Ländern aus: Im letzten Jahr seien es gut 1500 Menschen gewesen, in diesem Jahr, so Jankelowitz, erwarte man «mindestens doppelt so viele».

Buenos Aires war spätestens seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert auch ein besonderer Magnet für jüdische Einwanderer. Der überwiegende Teil von deren Nachfahren bildet heute die Mittelschicht - oder das, was von ihr nach Jahrzehnten des politischen und wirtschaftlichen Chaos am Río de la Plata noch übrig ist. Wichtige Exponenten stammten aus dem deutschsprachigen Raum. So gründete etwa der Mannheimer Kaufmann Alfredo Hirsch das Unternehmen «Bunge y Born», immer noch eine der bedeutendsten Agrarfirmen des Landes. Samuel Weil, einem tüchtigen Exporteur landwirtschaftlicher Produkte, verdankt das Deutsche Hospital, immer noch eines der besten im Lande, eine wichtige Anschubfinanzierung.

Die Entwicklung der argentinisch-jüdischen Beziehungen nach 1933 blieben weiterhin besonders stark mit Deutschland verwoben: Von den etwas mehr als 100.000 Juden, die Deutschland und Österreich in jenen Jahren Richtung Lateinamerika verließen, wanderten allein 45.000 nach Argentinien aus. Jener Fluchtwelle entstammt etwa der deutsch-argentinische Dirigent Michael Gielen, dessen Vater Joseph am Teatro Colón, dem schönsten Opernhaus ganz Lateinamerikas, Erfolge feierte.

Die Beziehungen des argentinischen Staates zu seinen Juden wurden nach der Übernahme der Regierungsgewalt durch das Militär 1976 schwieriger. Mindestens ein Fünftel der offiziell erfassten knapp 10.000 Toten des so genannten schmutzigen Krieges waren Juden. Der «Fall Timmermann» wühlte die Gemüter auf. Der langjährige Chef der bis zum Militärputsch äußerst regierungskritischen Zeitung «La Opinión», wurde verfolgt, verhaftet und gefoltert. Jacobo Timmermanns Buch «Cell without number» (Zelle ohne Nummer) trug wesentlich zur Diskreditierung des Militärregimes bei.

Zwei Vorfälle der neunziger Jahre haben den Juden in Argentinien schwer zu schaffen gemacht: Die Terrorangriffe auf die israelische Botschaft 1992 und auf das jüdische Altenheim Amia 1994. In beiden Fällen schleppten sich die Ermittlungen dahin. Es verdichtete sich im Übrigen immer mehr der Eindruck, dass der damalige Präsident Carlos Menem, dessen muslimische Vorfahren zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus Syrien nach Argentinien kamen, wenig zur Aufklärung beitrug.

Wie viele Juden leben noch in Argentinien? In den 1970er Jahren sprach man von einer halben Million. Die «Jewish Agency for Israel» geht heute von einer Zahl «um die 200.000» aus. Für viele ältere Juden ist das «Argentinische Tageblatt» ein wichtiges Kommunikationsband. Aber das liberale Blatt der im 19. Jahrhundert aus der Schweiz zugewanderten Familie Alemann erscheint nur noch am Wochenende. Die vielen Todesanzeigen mit Davidstern künden darin vom Ableben einer ganzen Generation von Juden aus Mitteleuropa, denen Argentinien zur Heimat wurde. Wenn deren Kinder und Enkel jetzt mehr denn je darüber nachdenken, diese unsicher gewordene Heimat zu verlassen, ist das ein schwerer Schlag für Argentinien.


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