Wirtschaftlicher Kollaps

Der tiefe Fall Argentiniens

von Manuel Vaid (n-tv, 20.12.2001)

Der einstige südamerikanische Musterschüler Argentinien liegt am Boden - aus einem der reichsten Staaten der Erde ist ein Schwellenland mit einem Schuldenberg von über 130 Mrd. Dollar geworden - die Krise hat inzwischen den inneren Frieden zerstört.

Eine Geschichte von Korruption

Bekannt geworden war das ganze Ausmaß der argentinischen Wirtschaftskrise erstmals im Sommer dieses Jahres. Bis dato galt der Staat besonders im Vergleich zu seinem Nachbarn Brasilien als vielversprechend. Die Ursachen der wirtschaftlichen Misere aber ausschließlich in der jüngeren Vergangenheit zu suchen, wäre falsch. Schon die Entlassung in die Unabhängigkeit im Jahre 1816 misslang dem früheren spanischen Vizekönigreich. Fortan bekriegten sich die "Vereinigten Provinzen von Südamerika" und bildeten einen Föderalismus, der eigentlich keiner war. Schon bei der verfassungsmäßigen Gründung Argentiniens hatte sich die Wohlfahrtsentwicklung auf Feudalstrukturen verteilt.

Die 1943 etablierte Militärregierung unter Juan Domingo Perón kam schließlich einer Dikatur gleich, wurde aber durch die außergewöhnliche Ausstrahlung seiner Frau Evita eher als Monarchie empfunden. Nach Evitas Tod 1952 verlor Peron seinen Einfluss, verschiedene Zivil- und Militärregierungen wechselten sich ab. Sein Sturz 1955 durch das Militär spiegelte die breite Opposition gegen seinen autoritären Führungsstil wider.
 
Peron ging für 18 Jahre ins Exil. In dieser Zeit beeinflusste er über seine Anhänger weiterhin die Politik Argentiniens. 1973 gewannen die Peronisten die Präsidentenwahl. Perón kam nach Argentinien zurück und wurde wieder Staatschef. Allerdings starb er kurz darauf am 1. Juli 1974. Nachfolgerin im Präsidentenamt wurde seine dritte Frau Isabel.

1976 putschte sich das Militär erneut an die Macht und versetzte das Land endgültig in die "Steinzeit" zurück. Über 30.000 Menschen verschwanden spurlos; sie wurden nach Erkenntnissen von Menschenrechtsorganisationen gefoltert und getötet. Bankrott entschloss sich das Militär zu dem Ablenkmanöver der Besetzung der Falklandinseln. Die anschließende schwere Niederlage gegen Großbritannien bedeutete zwar das Aus für die Militärregierung - dem argentinischen Selbstvertrauen versetzte sie jedoch einen zusätzlichen Schlag.

1989 kam die Peronistenpartei unter Carlos Menem mit dem beliebten Wahlversprechen der Reduzierung der Arbeitslosigkeit an die Macht. Und tatsächlich begann sich die Wirtschaftskraft des Landes wieder zu regenerieren. So gelang Menem 1995 auch eine Verfassungsänderung, die ihm eine zweite Amtszeit ermöglichte. Selbst die Amnestie für viele Menschenrechtsverbrecher wurde toleriert.

In seiner zweiten Amtsperiode hatte Menem die Vetternwirtschaft hoffähig gemacht, Regierung und Provinzfürsten schöpften den Rahm der wirtschaftlichen Prosperität konsequent ab und stürzten Argentinien erneut in die Rezession. Im Sommer wurde Menem verhaftet, weil ihm die Initiierung und persönliche Bereicherung an illegalen Waffengeschäften mit Ecuador und Kroatien vorgeworfen wird. Seit 1999 regiert Fernando de la Rua vom Mitte-Links-Bündnis.

Trügerische Hoffnung

Mit de la Rua verbanden viele die Hoffnung auf einen Neuanfang, der wiederum zunächst viel versprach. Während die brasilianische Währung vor einigen Jahren in Bedrängnis geriet, hatte Argentinien die Geldwertstabilität mit einer strikten Bindung des Peso an den Dollar (Dollar-Parität) gegen Devisenspekulationen aufrecht erhalten. Ökonomen, die für die Einrichtung fester Wechselkurszielzonen plädieren, sahen sich bestätigt und das Vertrauen internationaler Investoren stieg. Der Peso wertete nicht ab und so entstand der Eindruck einer intakten Wirtschaft.
 
Argentinien hatte spekuliert, das Haushaltsdefizit in der zweiten Jahreshälfte ausgleichen zu können. Ohne den Staat als Kreditnachfrager würden die Zinsen sinken, der private Konsum nähme zu und auch das Vertrauen der internationalen Finanzmärkte würde wieder gestärkt werden. Der Mitte September vorgelegte Haushalt für 2002 sah Einnahmen und Ausgaben von 45,4 Mrd. Dollar vor. Neue Schulden sollten nicht aufgenommen werden. Für den Abbau des bestehenden Defizits waren acht Mrd. Dollar vorgesehen. Die Rechnung ging nicht auf - in Wirklichkeit waren die wirtschaftlichen Rahmendaten dem trügerischen Bild, das der "starke" Peso suggerierte, nicht angemessen. So wurde aus der Wirtschafts- auch in Argentinien eine Währungskrise. Ganz nebenbei hat die Dollar-Parität durch die drastische Verteuerung von Exporten das Anwachsen des Schuldenbergs auf 132 Mrd. Dollar beschleunigt.
 
Internationale Ratingagenturen stuften die Bonität Argentiniens empfindlich herab, eine weitere Refinanzierung über Staatsanleihen wurde Argentinien faktisch unmöglich. Zu stark stiegen die Zinsen, die der Staat den Investoren zahlen musste. Das internationale Vertrauen und damit auch die Mittel wurden Argentinien entzogen - die Krise war plötzlich allgegenwärtig.
 
Mut der Verzweiflung
 
Mit Verzweiflungsakten versuchte die Regierung zu retten, was zu retten ist: Private Bargeld-Abhebungen wurden auf 1.000 Dollar pro Monat beschränkt und Auslandsüberweisungen limitiert, um die Kapitalflucht einzudämmen. Inländischen Anleihe-Investoren hatte Argentinien angeboten, ihre Schuldverschreibungen auf der Basis ihres Nennwertes in nicht handelbare Kredite umzuwandeln. Später sollten die regulären Zinszahlungen auf die Anleihen durch einen Fonds aus der Schecksteuer garantiert werden. Doch selbst früher gefasste Beschlüsse kamen viel zu spät und verfehlten ihre Wirkung vollends. So hatte die Maßnahme, die Renten und Gehälter der Staatsbediensteten um 13 Prozent zu stutzen, vor allem den Zorn der Bevölkerung angefacht. Ein Generalstreik - der siebte seit Amtsantritt de la Ruas Ende 1999 - legte daraufhin große Teile der Wirtschaft lahm. Der Präsident lenkte ein, die Kürzungen fielen geringer aus. Der bittere Nachgeschmack, dass der Staat den Sparkurs zu Lasten der Binnennachfrage umgesetzt hat, ist geblieben.
 
Auch die viel diskutierten Krisenbewältigungs-Szenarien dürften mittlerweile obsolet sein. Eine von Ökonomen favorisierte Lösung war die Umwandlung der Staatsanleihen von der Dollar- in eine Peso-Notierung. Gleichzeitig sollte der Peso freigegeben und die Zentralbank zur Einhaltung von Konvergenzkriterien gezwungen werden. Dadurch könne die Wertentwicklung der Anleihen an die Inflationsrate gebunden werden, so die Hoffnung. Bei dieser Variante wäre der Erfolg letztlich von der Stabilität eines freigegebenen Peso, also auch von der argentinischen Wirtschaftskraft, abhängig. Eine weitere Abwertung des Peso und damit eine de-facto-Erhöhung der Auslandsschulden in Dollar ist mittlerweile unausweichlich.
 
"Angesichts der massiven Abwertung der Währung des Nachbarn und Haupthandelspartners Brasilien wurde zu lange am unflexiblen (Währungs-)System (...) festgehalten", erklärt Nicolas Schlotthauer, Experte für Emerging Markets bei der DGZ Deka Bank. Argentiniens Exporte seien allein 1999 um 11,7 % zurückgegangen, und der Peso habe seit 1997 (auf handelsgewichteter Basis) eine reale Aufwertung um 30 % verzeichnet. Dieses Wechselkursregime zeigt sich gerade jetzt als unflexibel, da es (im Gegensatz bspw. zu den Systemen in Ostasien 1997, Russland 1998, Brasilien 1999) gesetzlich fixiert ist und nicht ohne Zustimmung der Parlamentskammern beseitigt werden kann.

Zeit der Enthaltsamkeit

"Allein durch eine Verschiebung der gegenwärtigen Schuldenlast kommt es nicht zu einer Stimmungsumkehr bei Unternehmen und Konsumenten", glaubt Schlotthauer. Kurz- und mittelfristig erwartet er weder signifikante Nachfrageeffekte aus dem Binnenmarkt noch aus dem Außenhandel.

"Auf Argentinien wartet eine lange Periode der Entbehrungen, ob mit oder ohne Konvertibilität, und die Gläubiger werden dabei sicher betrogen", meint auch Rüdiger Dornbusch, Ökonom am Massachussets Institute of Technology (MIT). Er kritisiert im Chor mit den meisten Südamerikaexperten, dass staatliche Transferzahlungen an die Provinzen in der Vergangenheit allzu oft in undurchsichtigen Kanälen versickerten. Auch der Internationale Währungsfonds (IWF) ist angesichts dieser Entwicklung brüskiert und drehte den Geldhahn mangels Umsetzung von Strukturreformen ab.

Ein Übergreifen der Krise auf benachbarte Schwellenländer befürchtet der IWF überraschenderweise nicht. Die stellvertretende Generaldirektorin des Fonds, Anne Krüger, erkärte, dafür gebe es "erstaunlichweise nur sehr geringe Anzeichen". Die Lage an den Devisenmärkten der betroffenen Länder stützt diese Aussage.


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