Das Abenteuer des Ankommens

Indien-Reisen in vollen Zügen

von Rudolf Müllner (Wiener Zeitung 08.10.1999)

(nebst einigen Anmerkungen von N. Dikigoros)

Pünktlich um 16.20 Uhr zuckelt der Marduhr Express aus der Varanasi Junction, dem Hauptbahnhof von Benares. Zwei Tage nach dem wieder einmal schwersten Zugsunglück in der Geschichte der Indian Railways sitze ich im Zweite-Klasse-Abteil eines Sleeper-Waggons. Das Gefühl ist mulmig. Die letzten Tage waren voll mit Zeitungsberichten und Fernsehfeatures der Katastrophe in der Nacht vom zweiten auf den dritten August 1999. Kurz nach ein Uhr früh waren zwei Personenzüge nahe der Station Gaisal · 500 km nördlich von Calcutta · mit 120 Meilen pro Stunde zusammengeprallt. Beide Lokführer waren sofort tot. Insgesamt wurden 288 Tote geborgen. CNN Asia und Star TV berichteten laufend vom Unglücksort. Die Fernsehbilder zeigten verzweifelte geschockte Menschen, die hofften in den bis zu 20 m übereinander geschachtelten Wrackteilen noch einen überlebenden Angehörigen zu finden.

Die Identifikation der Leichen gestaltete sich schwierig. Viele wurden zwischen Metallteilen zermerschert. Der indische Eisenbahnminister Nitsh Kumar hat seine "moralische Verantwortung" wahrgenommen und ist noch am Tag des Unglücks, sichtlich gezeichnet, zurückgetreten. Die Fernsehbilder waren derartig dramatisch, dass sie sogar den Weg in die europäischen Wohnzimmer fanden. Wieder einmal wurde das bekannte Klischee eines chaotischen Katastrophenindien repetiert.

Reisen in Indien ist generell nicht ganz einfach. Es ist anstrengend und manchmal gefährlich. Es ist nur teilweise kalkulierbar; nicht nur mit dem Zug. Die indische Unfallstatistik im Straßenverkehr ist weltweit eine der schlimmsten. In der Hauptstadt Neu-Delhi sterben pro Jahr 1.700 Personen im Straßenverkehr. In Relation zur Zahl der zugelassenen Fahrzeuge ist das ein trauriger globaler Spitzenwert. [Ja ja, aber Müllner vergißt die nicht zugelassenen, Anm. Dikigoros] Die Beziehung der Inder zum Sterben unterscheidet sich von der der lebens- und krankenversicherten Mitteleuropäer. Dies dokumentiert sich dieser Tage auch in den Tageszeitungen. Sie sind voll mit Traueranzeigen der gefallenen Helden von Kargil. Die Nation ist stolz auf sie. Dies zeigt sich auch daran, wie routiniert die Eisenbahnkatastrophe in den Medien abgewickelt wird. Ursachenanalyse, Expertenstatements, appellatorische Kommentare, Klagen über den Niedergang des "former pride of the country". Die Leitartikler haben Übung im Katastrophenkommentar. Es scheint fast als hätten sie fertige Textblöcke in ihren PCs vorbereitet. Das letzte schwere Zugsunglück war zwei Wochen vorher. Ähnliches Muster. Etwas weniger Opfer. Ein Bahnmanager analysiert in der Spätnachrichtenshow von Star TV die Ursachen: schlechte Personalauswahl, schlechte Ausbildung, Nichtbeherrschung der technischen Geräte und zu viel Personal. Zwei Tage später ist das Ereignis aus den Schlagzeilen verschwunden. [Im Gegensatz zu den Mitteleuropäern tun die Inder aber etwas, um Abhilfe zu schaffen. Ihr Bahnsystem hat sich in den letzten Jahren trotz allem stark verbessert, Anm. Dikigoros]

Warum fährt man trotzdem?

Reisen in Indien bleibt ein Abenteuer, trotz Creditkarten und Flugambulanzen. Das wichtigste dabei ist anzukommen.

Warum fährt man trotzdem? [Blöde Frage: um anzukommen natürlich - wenn man Inder ist. "Der Weg ist das Ziel" ist nur die deutsche Fehlübersetzung eines chinesischen Spruchs - aber das ist eine andere Geschichte, Anm. Dikigoros.] Indien war und ist für viele auch prominente europäische Sinnsucher - z. B. Günter Grass, Pasolini, Herbert Tichy oder die Beatles - eine Sehnsuchtsdestination. Es war vermutlich eine Überdosis Hermann Hesse gegen Mitte der Pubertät, die mich zum ersten Mal nach Indien lockte. [Kaum - Hesse hat das richtige Indien nie kennen gelernt und auch nicht über das wahre Indien geschrieben, sondern bloß über seine eigenen Hirngespinste, Anm. Dikigoros.] Die Pubertät scheint bis heute nicht überwunden. Die Antwort bleibt, je länger man sich damit beschäftigt, offen. Auch Antonio Tabucchi findet in seiner brillanten Erzählung "Indisches Nachtstück" keine rational schlüssige Begründung. Zurück bleibt, schreibt er, "allem gegenüber ein sehr starkes Gefühl von Fremdheit: in einem Maße, dass ich nicht mehr wusste, warum ich hier war, was der Zweck meiner Reise war, welchen Sinn mein Tun hatte."

Die Indian Railways sind an sich eine Reise wert. Sie bieten die Chance das Land in vollen Zügen kennen zu lernen. Man befährt eines der größten Schienennetze der Welt. Das Streckensystem umfasst 66.366 km. Es unterhält 8.000 Lokomotiven und 7.000 Bahnhöfe. Täglich werden elf Millionen Reisende transportiert. Der indische Eisenbahnminister managt 1,700.000 Angestellte. Das Reservierungssystem ist voll digitalisiert. Es wird von einem zentralen Großrechner gesteuert und es funktioniert trotz Monsun und trotz zahlreicher Stromausfälle. Irgendwie scheinen auch die Millionen Analphabeten damit zurecht zu kommen. Das Bahnsystem, das von den Briten übernommen wurde, ist ein Teil der fragilen indischen Gesamtidentität.

Dank der Bahn habe, so meint der Südasienkorrespondent der "Süddeutschen Zeitung", Stefan Klein, "so etwas wie eine emotionale Integration statt gefunden, sei ein Gefühl von Einheit entstanden." Die Schienenstränge verbinden tausende Kilometer, auch mentalitätsmäßig weit auseinander liegende Landesteile von Himachal Pradesh bis Cape Kamerun, von Rajasthan bis Assam. Die indische Bahn ist ein konstitutiver Teil der modernen indischen Kultur, sie ist das Fenster Indiens. "Nichts eignet sich besser um das Land zu lesen und zu verstehen," meint der PR-Chef der Central Railway, Kambley. Ein plötzlicher Ausfall des Systems hätte katastrophalere Folgen für den Subkontinent als der atomare Erstschlag durch den Erzfeind Pakistan. [Das wagt Dikigoros noch zu bezweifeln, zumal dieser Erstschlag auch Städte treffen dürfte, ohne die als Eisenbahnknotenpunkte in Indien gar nichts mehr läuft.]

Tatsächlich verdichtet sich in den meist überfüllten indischen Zügen und Bahnhöfen mit seinen Millionen Reisenden, den stets präsenten lautstarken Cay-, Samosa-, Zeitungsverkäufern, Bettlern, Schuhputzern, Handlesern, Dieben, Trittbrettfahrern, Koffer- und Wasserträgern ein Stück schwitzender Alltagsrealität. Die Züge sind auch deswegen so voll, weil die Fahrpreise von der Regierung gestützt werden. [Wenn das nicht so wäre, würden noch mehr Leute schwarz oder auf Dächern und Trittbrettern mitfahren, Anm. Dikigoros.]

Die Fahrt mit dem Zug ermöglicht einen intimen Blick in die indischen Landschaften. Der Madhur Express zieht durch die Theaterkulisse der Reisfelder der Gangesebene. Alles ist saftig und grün. Die Bauern bepflanzen ihre Ackerparzellen. Ausgeleuchtet wird die Szene vom angenehmen rotgelben Licht eines nahenden Sonnenunterganges, der auf Kodak Ectrachrom-Filmen gut ankommt. Die Komparsen und Darsteller des Stückes sind in Dhotis und bunte Tücher gehüllte Reisbauern, schwarze fett glänzende Wasserbüffel, Hirten heiliger und unheiliger Kühe mit riesigen Sonnenschirmen, Radfahrer, Kricket spielende Kinder, Menschen, die entlang der Bahndämme ihre Notdurft verrichten. "Ich kann mich nicht satt sehen an den Dörfern, den Lehmhäusern und geflochtenen Zäunen, den Waschzeremonien an Wassertümpeln, den Weidejungen, die im Schatten hocken. Mein Empfinden für die Armut hat sich verändert. Ich reagiere nicht mehr mit Panik und Entsetzen, dem Wunsch das alles nicht sehen zu wollen, sondern mit Neugierde und Gelassenheit. Bei uns wird all das Hässliche am Leben weggestopft, kaserniert, psychiatrisiert, umzäunt, eingeliefert. Hier zeigt sich das offen", schreibt dazu die Journalistin Karin Petersen. [Dikigoros findet es bezeichnend, daß Herr Müllner Reisbauern, frei lebende Kühe und spielende Kinder als "das Häßliche im Leben" empfindet - was in Indien wirklich häßlich ist, dürfte ihm weitgehend verborgen geblieben sein.]

Wer nach der Ankunft des Zuges den Bahnhof verlässt, gerät unversehens in die Fänge eines anderen landestypischen Transportsystems; die Motorrikschas. [Die Dinger heißen nicht Rikschen, schon gar nicht Rikschas, sondern Scooter, und es zwing einen niemand, sie zu benutzen - noch gibt es auch Fahrrad-Rikschen, die im Verkehrsgewühl auch nicht viel langsamer voran kommen, Anm. Dikigoros.] Sie dominieren die kurzen Strecken, die verwinkelten Gassen. Millionen dieser Gefährte durchknattern die indischen Städte. Ihre Fahrer sind für die mit den lokalen Fahrpreisen nicht so vertrauten westlichen Touristen nicht immer leicht zu behandeln. Anderseits ersparen sie den Stadtplan. Die Millionen Rikschafahrer Indiens haben die Stadtpläne wie Mikrochips abgespeichert.

Ein wilder Ritt

Der Monsun gibt dem Rikschafahrer und dem Reisenden eine Chance. Es regnet nicht. Der Fahrpreis ist rasch ausgehandelt. Die zirka 15 km lange Fahrt von Jaipur nach Amber und zurück kostet 130 Rupees. Das sind zirka 45 Schilling. Amber ist ein ehemaliger Mogulsitz, eine Mischung aus Schloss und Befestigungsanlage aus dem 17. Jahrhundert, quasi das Schönbrunn Rajasthans. Es sei ein Höhepunkt einer jeden Reise durch Rajasthan, verspricht der Reiseführer. Der wilde Ritt, zunächst durch die verstopften Straßen der Hauptstadt Jaipur, beginnt. Endlich draußen aus der Stadt entpuppt sich der Pilot Mansur Khan als charmanter Reiseführer. "Der Beruf des Rikscha-Fahrers ist schlecht", meint Herr Khan während einer kleinen Teepause. Die Rahmendaten sind rasch erfragt. Khans durchschnittliche Arbeitszeit beträgt 16 Stunden pro Tag. Die Motorrikscha gehört ihm nicht selbst. Sie ist gemietet. Die Miete kostet 60 Rupees, 20 Schilling, täglich. Mansur Khan ist 28 Jahre alt und hat zwei Kinder. Einen Buben und ein Mädchen. Acht und sechs Jahre alt. Für die Schulkosten braucht er zwischen 400 und 500 Rupees, 130 bis 160 Schilling pro Monat und Kind. [Das muß aber eine Privatschule sein - die staatlichen Schulen für 6- und 8-jährige sind kostenfrei, Anm. Dikigoros] Das ist nicht ganz wenig. "Viele schicken ihre Kinder nicht zur Schule. Ihre Eltern geben das Geld für Alkohol aus", sagt Khan.

Das Benzingemisch für einen der größten indischen Luftverpester ist extrem teuer. Ein Liter kostet umgerechnet zehn Schilling. Wer jemals den Smog indischer Millionenstädte eingeatmet hat, weiß, was diese Berufsfahrer täglich aushalten müssen. [Nicht nur die, sondern auch die armen Fußgänger, Anm. Dikigoros] In New Delhi etwa bliesen 1993 2,12 Millionen registrierter Fahrzeuge ihre Abgase durch die von keinem Katalysator belasteten Auspuffrohre. [Das geht ja noch, denn Delhi ist relativ weitläufig und hat auch noch einige Grünflächen; andere Großstädte, wie z.B. Ahmädabad, sind viel schlimmer dran, aber dort fahren europäische Journalisten ja für gewöhnlich nicht hin, Anm. Dikigoros.] Den größten Anteil haben dabei die Mopeds, Motorräder und Motorrikschas. Wer einen Tag auf Delhis Straßen verbringt, schreibt Frank Braßl vom deutschen Südasien-Büro, "nimmt die Schadstoffmenge von 20 Zigaretten auf." Der deutsche diplomatische Dienst empfiehlt, Mitarbeiter mit asthmatischen Beschwerden nicht in New Delhi einzusetzen. Die Hauptstadt weist über drei Millionen Menschen mit Atemwegserkrankungen auf. Das Mogulfort in Amber hält, was der Reiseführer versprochen hat. Der Burghügel, auf dem das Fort steht, muss nicht zu Fuß, sondern kann mit Hilfe eines Elefanten erklommen werden. Eine mittelalterliche spanische Reisegruppe nutzt dieses prototypische indische Reisegefährt. Die Fotoapparate klicken. Die Elefantenkulis treiben das große Geld ein. Der Fünfzehnminutenritt kostet 400 Rupees. Ein Monat Schulgeld für Khans Kinder. Der Fahrer kann diesen für ihn sinnlosen Luxus, den sich die Westtouristen hier leisten, kaum begreifen. [Dikigoros auch nicht - aber wenn sie das nicht täten, wäre das wahrscheinlich das Todesurteil für die armen Elefanten, die sich dann ja nicht mehr amortisieren würden.]

Auf der Rückfahrt in die Hauptstadt beginnt ein wilder Monsunregen. [Es gibt doch nichts Schöneres im heißen Sommer von Rajasthan als einen kräftigen Wolkenbruch, Anm. Dikigoros] Khan durchpflügt mit seinem Gefährt souverän die Wasser- und Menschenmassen der Rushhour in Jaipurs M.I. Road. Plötzlich im dichten Gewühl reißt das Kupplungsseil. Und wenn reisen bildet, so bekomme ich jetzt eine Gratislektion in: "Wechseln eines Kupplungsseiles bei einer indischen Motorrikscha während des Monsuns". Khan hat ein Ersatzseil dabei. Neben Fahrer und Fremdenführer ist er auch Mechaniker. In etwas mehr als zehn Minuten funktioniert die Viergangschaltung wieder. Ein defektes Kupplungsseil hindert einen erfahrenen indischen Rikschapiloten nicht daran, mit seinem Passagier am Ziel anzukommen. Das Abenteuer ist überstanden. Abenteuer habe etwas mit ankommen zu tun, meinte der österreichische Indienreisende Herbert Tichy. Und Tichy muss es wissen. Er war ein Experte des Ankommens in Indien. Bereits in den dreißiger Jahren fuhr er mit einem Puch-Motorrad auf dem Landweg in die damals noch britische Kronkolonie. Ankommen · Ad venire · nach einem bestandenen Abenteuer sei man angekommen, im günstigsten Fall bei sich selbst, schreibt Tichy. Khan entlässt mich am Bahnhof. Die Reise geht weiter.


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