Zehn Jahre Mauerfall

Die Kluft zwischen Ost und West ist größer geworden

von Freya Klier (Politisches Feuilleton, 13.9.1999)

Im April 1990 hielt ich an der Freien Universität Berlin einen Vortrag, der fast in eine Schlägerei zwischen Ost- und Weststudenten ausartete. Was war geschehen? Ich hatte über Mauerfall und die mittlerweile absehbare deutsche Einheit referiert. Hatte auf die Eile verwiesen, mit der die Blockflöten nun in demokratischen Parteien aufgingen, vor allem aber auf die merkwürdigen Bewegungen, die sich in diesem Frühjahr 1990 bereits sichtbar abzeichneten: Massenhaft verwandelte sich plötzlich Volkseigentum in private GmbH's, schanzte Hans Modrow vor seinem Abtritt noch verdienten Genossen Häuser zu Dumpingpreisen zu...

Das nun waren Namen und Vorgänge, welche die Studenten aus dem Osten zu schmerzhaften Zuckungen der Erinnerung hinrissen, den jungen Westlern jedoch wenig sagte. Die wurden erst munter und dann gleich richtig wütend, als ich beschrieb, wie sich die stockkonservative SED im Dezember 1989 ein neues Parteimäntelchen umhing; wie sie sich plötzlich aus dem Scherbenhaufen DDR, den sie hinterlassen hatte, erhob wie Phönix aus der Asche, um sich über Nacht in die neue "linke Opposition" zu verwandeln - eine Opposition zur Demokratie und zu denen, die nun den Scherbenhaufen zusammenkehren mußten.

Hier horchten die West-Kommilitonen auf: Ihr Stichwort war gefallen, welches die Welt in das klare Gut und Böse einer Märchenstube teilt - das Stichwort "links". Und als ich dann gar noch den Namen des Vorturners dieses raffinierten Salto benannte - Gysi - brach bei den jungen Westlern die Hölle los: Gysi kannten sie ja bereits aus Presse, Funk und Fernsehen - das war doch der tolle Anführer der Bürgerrechtsbewegung, der DDR-Oppositionelle verteidigt hatte - der Linke, der es allen zeigt, die sich nun die DDR einverleiben und das "Vierte Reich" errichten wollen..

Die Ostler, die im Herbst 1989 der Gysi-, Krenz- und Modrow-Partei tapfer die Stirn geboten hatten und sich noch deutlich ihrer Studienverbote erinnerten, waren sprachlos. Dann aber forderten sie, wild gestikulierend, ihre West-Kommilitonen auf, sich erstmal mit DDR-Geschichte zu befassen, bevor sie diese mit ihrer Blödheit zu verdrehen helfen. Beschäftigung? Das focht die demokratie-gewohnten Bürgerkinder nicht an - für sie waren die Ostler gegen Gysi und damit gegen Links und gegen die Antifa.

Es war eines meiner zahlreichen Nachwende-Erlebnisse, welche die Kluft zwischen Ost und West spürbar machten, eine Kluft aufgrund gegensätzlicher Lebens- und Erfahrungswelten. 10 Jahre später ist diese Kluft nicht verringert. Im Gegenteil, es ist noch eine weitere hinzugekommen, die Kluft zwischen den Generationen: Junge Ostler reagieren heute wütend, wenn man ihre DDR mies macht - einen Staat, den sie fast nur aus verklärenden Erzählungen kennen. Junge Westler dagegen bringen für Vorgänge, die bereits ferne Vergangenheit sind, keine Emotionen mehr auf. Sie reagieren lediglich erstaunt, wie jemand überhaupt in Zweifel ziehen kann, daß es sich bei der PDS samt ihrem Medienstar um die "linke Opposition" Deutschlands handelt. Das war doch schon immer so - oder etwa nicht?

Hätte sich, was mit einer analytischen Schieflage und falschen Weichenstellungen begann, über die vergangene Dekade noch wenden können? Vermutlich ja. Doch hätte das von Politikern, Lehrern und allen demokratischen Kräften in Ost und West eine Weitsicht und politische Konsequenz verlangt, zu der sichtbar nur die gewendeten Genossen in der Lage waren - mit einem reichen Vermögen, geübter Logistik und skrupelloser Flexibilität.

Dem Häuflein Bürgerrechtler gebührt das Verdienst, den entscheidenden Anstoß zum Fall der Mauer gegeben zu haben. Doch besaßen sie weder ein Konzept für einen demokratischen Umbau, noch einen genügend klaren Kopf, um auch dort die Mauern verschwinden zu lassen. Westliche Politiker klebten verhängnisvolle Jahre an dem Irrtum, im Osten laufe nun etwas ähnliches ab wie in der Nachkriegszeit der Bundesrepublik. Ein Riesenvorlauf für die nur scheinbar gewendeten Genossen, die nun lachend die Hände nach dem Batzen Aufschwung Ost ausstreckten. Und wer, wenn nicht Wirtschafts- und Finanzexperten hätte einkalkulieren müssen, daß die Konjunkturritter der Umbruchzeit nicht das Beste für den Osten herausholen wollten, sondern das Beste für sich selbst.

Hätte und wäre... Schon heute bilden die Feigenblätter, die nur spärlich Stasi-Verstrickungen verdeckten, das Laub, das mit dem vergehenden Jahrhundert hinweggefegt werden wird: Herr Stolpe läßt seinen Parteifreund Schröder, der den Brandenburger nicht mag, drohend wissen, die Brandenburger wollten nicht länger "Menschen zweiter Klasse" sein. Die Herren de Maizière und Gysi bekunden großformatig ihre jahrzehntelange Sympathie füreinander. Das jedoch macht nur diejenigen stutzig, die sich an den 1996 aufgetauchten Stasi-Vermerk erinnern, nach dem Herr Gysi bereits am 6.11.1989 Herrn de Maizière in einem mehrstündigen Gespräch riet, den Parteivorsitz der CDU zu übernehmen, falls dieser ihm angetragen werde...

10 Jahre Mauerfall. Voilà, wir werden sehen, wie es weitergeht.

Freya Klier: 1950 in Dresden geboren, machte 1968 in der DDR Abitur. Ende der 1960er Jahre erhielt sie wegen versuchter 'Republikflucht' eine Jugendstrafe von 16 Monaten Haft, aus der sie vorzeitig entlassen wurde. Anschließend brachte sie sich als Postangestellte, Kellnerin und Disponentin im Dresdner Puppentheater durch. Nach dem Schauspiel- und Regie-Studium arbeitete sie an verschiedenen Theatern und erhielt 1984 den DDR-Regiepreis, wurde dann jedoch mit Berufsverbot belegt. Freya Klier gehört zu den Mitbegründern der DDR-Friedensbewegung. 1988 beteiligte sie sich gemeinsam mit Stefan Krawczyk an einer Demonstration von Bürgerrechtlern, beide wurden verhaftet und dann ausgebürgert. Freya Klier, die zu den Gründungsmitgliedern des Bürgerbüro e.V. gehört, lebt als freie Autorin in Berlin. Sie veröffentlichte u.a. 'Abreiß-Kalender. Versuch eines Tagebuches', 'Lüg Vaterland. Erziehung in der DDR', 'Verschleppt ans Ende der Welt. Schicksale deutscher Frauen in sowjetischen Arbeitslagern' und 'Penetrante Verwandte. Kommentare, Aufsätze und Essays in Zeiten deutscher Einheit


zurück zu Der große Goldrausch

heim zu Reisen durch die Vergangenheit