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VITA

Von Peter Torstein Schwanke

„To thy breast, to thy rest, to thy glory divine
Draw me by charity, Mother of mine!”
(Gerard Manley Hopkins)



ERSTES KAPITEL

„Kann auch eine Frau ihr Kindlein vergessen, dass sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und ob sie seiner vergäße, so will Ich doch deiner nicht vergessen.“
(Jesaja 49,15)

Ich bin am siebenten November 1965 geboren. Der siebente November ist der Geburtstag und Todestag Platons, des größten Philosophen aller Zeiten, der siebente November ist der Todestag des heiligen Willibrord, des Apostels der Friesen, und der siebente November ist leider auch der Tag der kommunistischen Revolution im heiligen Russland. Das Jahr 1965 ist das Jahr des Zweiten Vatikanischen Konzils der heiligen, apostolischen, katholischen Kirche, da die heilige Mutter Kirche sich reformierte und die Fenster zu säkularisierten Welt weit auftat, um allen Menschen das ewige Evangelium Christi zu verkünden. Die Kirche öffnete die Fenster weit zu allen christlichen Konfessionen und zu allen Brüdern und Schwestern der nichtchristlichen Religionen, in denen die Kirche auch Spuren der Wahrheit der göttlichen Offenbarung verborgen gegenwärtig sah. Die Kirche sprach, dass es für unsere Zeit einen neuen christlichen Humanismus bräuchte und dass alle eingeladen seien, an der Schaffung eines Neuen Humanismus mitzuwirken, die dem Wahren, Guten und Schönen verpflichtet seien. Die Kirche rief alle Kulturschaffenden auf, neue humanistische Kulturwerke zu schaffen, wobei es keinen katholischen Stil in der Kunst gebe, sondern alle Stile der Kunst der Verherrlichung der katholischen Religion dienen können. Die Kirche stellte allen Christusgläubigen die Jungfrau Maria als Urbild der Kirche, als Jungfrau-Mutter der Kirche vor, die dem pilgernden Gottesvolk als Vorbild vorleuchte auf dem Weg in die ewige Herrlichkeit Gottes.
Ich aber ward zu dieser Zeit in dem Flecken Hage in Ostfriesland nahe der Nordseeküste geboren und am sechzehnten Januar 1966 getauft. Meine Großmutter und meine Mutter waren evangelisch-lutherischer Konfession, und so wurde ich in der evangelisch-lutherischen Kirche Sankt Ansgari getauft. In diesem Sakrament der Taufe auf den Namen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, goß mir der lebendige Gott die heiligmachende Gnade ein. Meine Taufpaten waren ein Verwandter meines Vaters aus Hannover und eine Freundin meiner Mutter von der ostfriesischen Insel Baltrum. Mein Vater nämlich stammte aus Hannover, war von westpreußischer Herkunft, und meine Mutter stammte von der ostfriesischen Insel Baltrum, eine Tochter friesischer Mütter. Später sah ich, dass auf dem Altar der Sankt-Ansgari-Kirche, in der ich das Sakrament der Taufe empfing, auf dem steinernen Altartisch der Name MARIA eingeschrieben war. Das Sakrament der Taufe wird ja auch als Bad der Wiedergeburt bezeichnet, da der Mensch wiedergeboren wird durch Wasser und Heiligen Geist zu einem Kinde Gottes. Nikodemus fragte ja den Lehrer Jesus, wie ein Mensch denn neugeboren werden könne, wie er denn wieder in den Mutterschoß komme. Der Mensch wird ja wiedergeboren im Schoß der Mutter Kirche zu einem Kinde Gottes. Da Maria aber Urbild und Mutter der Kirche ist, kann man auch sagen, dass so wie Maria vom Heiligen Geist den Sohn Gottes empfangen hat und ihn geboren hat als jungfräuliche Mutter, so empfängt Maria auch vom Heiligen Geist die Kinder Gottes und gebiert sie als Kinder Gottes. So wie also am siebenten November 1965 meine Mutter mich als Mutter nach der Natur geboren hat für die Erde und zum Tode, so hat mich am sechzehnten Januar 1977 meine himmlische Mutter Maria, meine Mutter nach der Ordnung der Gnade, wiedergeboren zu einem Kinde Gottes ins ewige Leben.
      Die wichtigste Person meiner Kindheit war meine Großmutter, eine Witwe. Sie lebte mit in unserer Familie und gab mir von Anfang an die bedingungslose Liebe, die jedem Menschen in der Kindheit einen Geschmack der göttlichen Liebe gibt. Es war, wie im Buche Ruth, da Ruth den Sohn auf dem Schoße ihrer Schwiegermutter Noomi gebar, wodurch Noomi den Obed als ihren Sohn und Erben annahm. Von dem wichtigsten Erbe meiner Oma will ich später erzählen, nämlich wie sie durch ihren Heimgang mir den Glauben an Christus vermittelte. Aber vielleicht nicht weniger wichtig oder vielleicht sogar noch wichtiger ist, dass sie mir durch ihre süße Liebe in der Kindheit ein Bild eingegossen hat von der bedingungslosen Mutterliebe Gottes, was denn auch mein besonderes Gottesbild bleiben sollte. Meine Großmutter hatte ein kleines Häuschen direkt neben meinem Elternhaus und ich verbrachte meine Kindheit gewissermaßen in ihrem Schoß, oder an dem Rockzipfel meiner Großmutter. Ich vergesse nicht, wie ihre Liebe schmeckte, wie ihre friesischen Mehl- und Milchspeisen süß schmeckten wie die Liebe selbst. Sie gab nicht irdische Speise statt Liebe, sondern sie gab irdische Speise zum Ausdruck ihrer mütterlichen Liebe. Ich gab ihr jeden Abend einen Gute-Nachtkuß und wünschte ihr einen schönen Schlaf und süße Träume. Ihre Wange war so weich und zart wie die Wange eines Pfirsichs der Unsterblichkeit aus dem Paradiesgarten der Königinmutter des Westgebirges, Hsi Wang Mu. Beeindruckend waren die winterlichen Feste, vor allem das Weihnachtsfest, aber auch das Sylvesterfest. Zu Sylvester gingen meine Eltern aus, um mit Freunden zu feiern, aber ich und mein Bruder blieben bei meiner Großmutter, wir schliefen in ihrem Haus und um Mitternacht aufgeweckt, begrüßten wir mit ihr das Neue Jahr unter dem Feuerregen der chinesischen Raketen. In der Weihnachtszeit war es mein Ehrenamt, den kleinen Tannenbaum meiner Großmutter mit Kerzen, Lametta und Goldkugeln zu schmücken. Am Heiligen Abend speiste die ganze Familie zu Abend bei meiner Großmutter, die das traditionelle Weihnachtsgericht der Friesen von Baltrum bereitete, nämlich Heringssalat mit Roter Beete und Salzkartoffeln. Diesen Salat machte meine Großmutter selbst, wie sie auch die Weihnachtsbäckerei beherrschte und vor allem ihre Neujahrswaffeln und ihre Pfeffernüsse unvergesslich köstlich schmeckten. Ich half ihr stets bei der Weihnachtsbäckerei. In der Abendröte der Adventszeit ging in unserem Hause der Spruch um: Abendrot – die Englein backen Brot!
Am sechsten Dezember wurde von den Friesen der Heilige Nikolaus gefeiert. Dieses Fest stammte noch aus der Zeit, da Friesland katholisch war. Klaus Störtebecker, der friesische Seeräuber, rief als Seemann immer Sankt Niklas als seinen Schutzpatron an. Sankt Nikolaus wird von den Friesen besonders als Schutzpatron der Seefahrt verehrt. So ist die kleine katholische Kirche auf Baltrum Sankt Nikolaus geweiht, dort diente ich später einmal am Altar. In Hage aber stellten wir Kinder am Vorabend von Sankt Nikolaus einen roten Stiefel vor die Tür und einen Teller mit Schwarzbrot. Das Schwarzbrot war für das Pferd des Heiligen Nikolaus, der rote Stiefel aber, dass der Heilige Nikolaus seine Geschenke hineinlege. Denn der heilige Bischof von Myra in Kleinasien war ein großer Freund der Kinder. Er hörte von einem armen Vater, der Witwer war, und drei verwaiste kleine Kinder hatte. So schlich sich der Heilige heimlich auf das Dach des Hauses und warf durch den Schornstein Beutel mit Gold, die fielen aber gerade in die Kinderschuhe, die vor dem Kamin zum Trocknen aufgestellt waren. Daher stammt der Brauch, dass die armen Kinder ihre Stiefel hinausstellen, dass der Heilige Nikolaus auch ihnen ein Geschenk mache. Am Abend von Sankt Nikolaus ritt der Heilige Nikolaus in seinem Bischofsmantel auf einem Schimmel durch den Flecken Hage, auf seinem Rücken einen großen Sack mit Süßigkeiten für die Kinder. Er warf Hände voll Süßigkeiten unter die Scharen der Kinder. Er wurde aber auch begleitet vom Knecht Ruprecht, einem Mohren, der der Knecht des Heiligen Nikolaus war. Dieser trug aber keinen Sack mit Süßigkeiten, sondern eine Rute. Denn es war den Kindern angedroht, wenn sie nicht lieb gewesen, dann käme der schwarze Knecht Ruprecht mit der Rute und züchtige die ungehorsamen Kinder. Ich fürchtete mich aber nicht vor dem Knecht Ruprecht, aber freute mich sehr über den Heiligen Nikolaus, den alten Mann mit seinem langen schneeweißen Haupthaar und schneeweißen langem Vollbart, der aussah wie Gottvater auf den Bildern der Maler.
      Zu Weihnachten gingen meine Großmutter mit meiner Mutter und mir in den Mitternachtsgottesdienst. Diese Weihnachtsgottesdienste sind mir unvergesslich. Die Sankt-Ansgari-Kirche ist eine romanische Kirche, also ursprünglich eine katholische Kirche, die auf einem kleinen Hügel erbaut ist. Sie war früher ein Zufluchtsort und eine Schutzburg, wohin die Friesen flüchten konnten, wenn eine Sturmflut der Nordsee ihr Land bedrohte. Das Kirchenschiff, da der Raum der Gemeinde ist, wird vom Raum des Altares abgetrennt, indem unter der Decke die Szene der Kreuzigung Christi dargestellt wird. Christus hängt am Kreuz, und unter dem Kreuz stehen Maria, die Mutter Jesu, und der Jünger, den Jesus lieb hatte. Dies prägte mir ohne Worte, allein durchs Bild die Szene ein, da der Erlöser zu seiner Mutter spricht: Frau, siehe deinen Sohn! Und wie der Erlöser dann zu dem Jünger, den er lieb hatte, sprach: Sohn, siehe deine Mutter! In der Weihnachtsfeier wurde nun immer auch die Krippenszene in großen Figuren dargestellt. Dieser Brauch stammt ebenfalls aus der katholischen Kirche, da es der heilige Franziskus war, der zuerst eine Krippenszene darstellte und so Weihnachten feierte. Das Bild des jungen Mädchens Maria, das sich über die Krippe mit dem göttlichen Kinde anbetend neigt, ist mir unvergesslich. Sie war so liebenswürdig und schön, so anmutig und holdselig, so sanft und mild und gütig, das ich sie lieb hatte. Ich kannte sie ja auch aus den Weihnachtsliedern, die ich in der Vorweihnachtszeit viel mit meiner Mutter gesungen. Meine Mutter hat eine schöne Stimme. Sie hat als junges Mädchen in der Baltrumer Gitarrengruppe gesungen, später in ihrem Alter sang sie in großen Chören das Weihnachtsoratorium von Bach und das Requiem von Mozart. Sie sang mit ihrer schönen Stimme mir die Weihnachtslieder vor, die einzige Art der Marienverehrung in der evangelischen Kirche. Da war von der Rose die Rede, und die Rose, die ich meine, ist die Magd Maria, die Reine. Da war von Josef und Maria die Rede, dem trauten, hochheiligen Paar, und dem Knaben im lockigen Haar. Da hieß es: Ihr Kinderlein kommet, o kommet doch all, zu Krippe in Bethlehems Stall. Diese evangelischen Weihnachtslieder, die ja zugleich tief vom katholischen Geist durchtränkt waren, verkündeten mir das Evangelium von der Menschwerdung Gottes aus der Jungfrau in meiner Kindheit mit einer solchen süßen Predigt, solch einer süßen Stimme, da es die Mutterstimme selbst war, die mir von Maria und dem Jesusknaben die erste Lehre gab.
      An dieser Stelle fällt mir auch ein, dass die Gottesdienste meiner Kindheit mich auch haben das Wort Gottes in der Heiligen Schrift haben hören lassen in der gewaltigen romanischen Kirche, da es feierlich verkündet wurde. Es wurde die Heilige Schrift vorgetragen in der deutschen Übersetzung von Martin Luther. Ich habe das Wort Gottes in der Muttersprache des Lutherdeutsch wie die Muttermilch aufgesogen. Als ich später als Erwachsener mich zu Christus bekehrte, war meine erste Handlung, eine Bibel zu kaufen, es war eine Lutherbibel, die mir in den schrecklichsten Stunden meines Lebens Trost einflößte wie die Milch des Trostes der Mutterliebe Gottes. Man sagt, die Christen werden genährt an den beiden Mutterbrüsten des Alten und des Neuen Testaments. In der Zeit der Reformation polemisierten die Katholiken, die Deutschen hätten sich von den gebenedeiten Mutterbrüsten Mariens abgewandt und sich der stiefmütterlichen Mannesbrust Luthers zugewandt. Als ich in die Schule der Evangelikalen ging, fand ich viel Kritik an der angeblich veralteten Lutherbibel. Auch in meiner Konversion zur katholischen Kirche versuchte ich mich in katholischen Bibelübersetzungen. Aber es war in allen anderen Bibelübersetzungen, ob sie sich nun als modern oder als wissenschaftlich oder als rechtgläubig ausgaben, immer ein falscher Ton, es war nicht die Muttersprache. Die Muttersprache, mit der die Liebe Gottes zu mir spricht, ist das Lutherdeutsch. Nicht allein, dass sie allein dem Dichter wahren Genuß an der deutschen Sprache gewährt, wie schon Klopstock und Hölderlin bezeugten, diese Meister der deutschen Sprache. Ich denke auch an Heinrich Heine, der die Bibel mit einer Großmutter verglich, die dem geliebten Enkel vom lieben Gotte erzählt. Wie das Sprichwort sagt: Was Hänschen nicht lernt, das lernt Hans nimmermehr; so kann man auch umgekehrt sagen: Was das Hänschen gelernt, das verlernt der Hans nimmermehr. So ist es, gleich welcher christlichen Konfession ich auch anhing, immer das Lutherdeutsch gewesen, in dem ich die Worte Gottes nur vernehmen konnte.
      In meinen ersten Kindheitsjahren war ich oft mit meinem Bruder allein auf der Insel Baltrum. Dorther stammt meine Großmutter, meine Urgroßmutter, meine Ururgrossmutter und mein Ururgroßvater, der Seemann. Stellvertretend für dieses Geschlecht der mütterlichen Ahnen lebte noch meine Tante auf Baltrum und unterhielt dort eine Teestube. Dort waren mein Bruder und ich oft zum Urlaub. Dort lernte ich auch den Häuptling der Apatschen kennen, dessen Abenteuer mich in meiner Kindheit episch breit begleiteten. Die Insel Baltrum ist allerliebst, sie wird genannt das Dornröschen der Nordsee, der Südlichen Nordsee, weil sie so verschlafen ist und überwachsen mit Heckenrosen. Dort feierten wir oft das germanische Osterfest mit den bunt bemalten Eiern. Ostern wird überhaupt von den Kindern ganz und gar als heidnisches Fruchtbarkeitsfest gefeiert, und ich bekam keine Unterweisung über die Auferstehung Christi. Alles, was Ostern bedeutete, war das Frühlingsfest der germanischen Göttin Ostera, die Wiederkehr des Lichts wurde mit dem Osterfeuer gefeiert, und die wiederkehrende Fruchtbarkeit der Naturgöttin mit dem Hasen, der Ostera heilig, und den bunten Eiern gefeiert. Man suchte christliche Umdeutungen dieser Symbole. Der Hase war der Stellvertreter des christlich-jüdischen Osterlammes. Das Osterfeuer symbolisierte das Licht, das durch die Auferstehung Christi der Menschheit aufgegangen. Das bunt bemalte Ei soll der Legende nach schon die Apostelin Maria Magdalena dem römischen Kaiser präsentiert haben, da so, wie das Küken aus dem Ei schlüpft, Christus aus dem Grabe auferstanden ist! Wir feierten also auf der friesischen Insel Baltrum ein friesisches Osterfest mit Scharen von Kaninchen und Körben voll von Eiern. Ich fühlte mich auf Baltrum so wohl, dass es mir zu einer Art besonderen Seelenheimat meiner Kindheitstage wurde. Später sehnte ich mich oft in dunklen Stunden nach diesem österlichen Baltrum zurück. Ich besuchte auch mehrmals mit Freundinnen und ihren kleinen Kindern diese meine Lieblingsinsel, und es war mir eine besondere Freude, den kleinen von mir herzlichgeliebten Kindern diese kleine Insel der Seligen zu zeigen.
      Neben dem Flecken Hage befand sich die Ortschaft Lütetsburg, in der sich ein Wasserschloß befand, eine Schlossburg der friesischen Häuptlinge aus dem vierzehnten Jahrhundert, auf dem Wasser schwebend, nur über eine Fähre zu erreichen. Hinter dem Wasserschloß befand sich ein großer Park, der nach englisch-chinesischer Art gestaltet war, mit vielen Bäumen, vor allem Eichen und Buchen, mit vielen Büschen wie Rhododendren und Bambus, mit vielen Kanälen durchzogen, die wieder von Brücken überquert wurden, und mit kleinen Pavillons, wie dem goldenen Pavillon der Freundschaft, und einem anderen Pavillon, da Hochzeiten gefeiert werden konnten. Auf den Kanälen lief ich im Winter mit meinen Freunden gerne Schlittschuh. Meines Wissens der einzige Dichter, der das Schlittschuhlaufen poetisch verherrlicht, ist der Vater Klopstock. Aber in der Osterzeit machten wir den Osterspaziergang als Familie durch den Lütetsburger Park, da denn auch kleine Schokoladeneier von den Blutbuchen fielen. Mein Vater zitierte das Gedicht von Fausts Osterspaziergang, das er in der Volksschule auswendig hatte gelernt. Zu Christi Himmelfahrt fand aber alljährlich ein großer evangelischer Festgottesdienst im Lütetsburger Park statt, an dem meine Großmutter regelmäßig teilnahm.
      Zu Christi Himmelfahrt legten wir friesischen Kinder auch immer den Brautpfad. Es wurde traditionell gern zu Christi Himmelfahrt geheiratet, auch mein Bruder heiratete später zu Christi Himmelfahrt (bei dieser Gelegenheit sagte meine Großmutter mir kurz vor ihrem seligen Heimgang: „Torsten, heirate nie!“). Aber in der Kindheit war es Tradition, auf den Tag Christi Himmelfahrt an dem Straßenrand kleine Bilder zu gestalten auf der Fläche von weißem Sand, gerahmt von grünem Moos und ausgeschmückt mit den verschiedenfarbigsten Blüten. Dabei wurde dann der beste Künstler mit einem Lorbeerkranz durch den Bürgermeister gekrönt. Traditionelle Motive waren beliebt, vor allem das aus der Seefahrt stammende Motiv von den drei göttlichen Tugenden des Christentums, einem Kreuz für den Glauben, einem Herz für die Liebe und einem Anker für die Hoffnung. Der Anker ist natürlich ein Motiv der Fischer und Seemänner, aber es heißt auch im Neuen Testament, dass Christus als unser Hohepriester ins himmlische Heiligtum Gottes eingegangen ist, dass wir nun den Anker unserer Hoffnung auf den Himmel in ihm festmachen sollen.
      Im nahen Norden befindet sich der Schwanenteich, da wir oft spazieren gingen. Das ist ein besonderer Ort, fast möchte ich sagen, ein magischer Ort. Das Zentrum von Norden befindet sich an der Ludgeri-Kirche. Zu Sankt Willibrord, dem Apostel der Friesen, trat schon Sankt Ansgar, der Apostel von Bremen bis Skandinavien, nun kommt Sankt Ludger, der mit seinem heiligen Schwan nach Helgoland fuhr, das früher Forsetesland hieß nach dem friesischen Gott Forsete, denn Forsetesland war das Hauptheiligtum der heidnischen Friesen. Später komme ich noch auf Sankt Wiho, einen Friesenmissionar. Hier aber in Norden wird Sankt Ludger verehrt in der Hauptkirche, heute evangelisch-lutherisch, und etwas abseits in der katholischen Ludgerkirche. Der Ludgerdom von Norden aber steht an dem heiligen Hügel, da sich auch der Warzenstein befindet, der eine Mulde an seiner Spitze hat, darin sich Wasser sammelt, das Warzen heilen kann. Die Mulde entstand, als ein Gottesmann solange auf dem Stein zum Gebet kniete, bis die eindringenden Feinde besiegt waren. Dieser Hügel ist der Heilige Hügel, das Heiligtum der Heiden, da dann später die Kirche gebaut wurde. Der Heilige Hain der Heiden aber war der Schwanenteich, da die friesischen Priester aus den Bewegungen der Schwäne wahrsagten. Der Schwanenteich ist ein kleiner Teich mit einem Rundgang. Auf dem Schwanenteich lebte ein Paar weißer Höckerschwäne und ein Paar schwarzer Trauerschwäne. Auch halten sich dort des weiteren Gänse, Enten, Möwen, Wellensittiche, Pfauen, Rebhühner, Seehunde und Ziegen auf. Es ist also ein kleines Paradies für Kinder. Hier stand ich mit drei Jahren mit dem kleinen Mädchen Marita und fütterte die Schwäne. Später habe ich als Wahnsinniger wieder in der Nähe des Schwanenteichs gelebt und mit den Schwänen kommuniziert. Davon will ich, wenn ich es nicht vergesse, später erzählen. Der Schwan ist nicht nur der Namensgeber für unsern Familiennamen, sondern ein mythologisch bedeutsames Tier. Die Walkyren bei den Germanen hießen Schwanenmädchen. In vielen Märchen gibt es Schwanenjungfraun. Der Schwan war der Venus wegen seiner majestätischen Schönheit heilig, es heißt, Schwäne zogen den Wagen der Venus. Der Schwan war die Gestalt, die Zeus annahm, um Leda zu begatten, die daraufhin die schöne Helena gebar, die schönste Frau der Antike. Der Schwan war auch dem Apollo heilig als ein Vogel der Weissagung, da Apollo nicht allein der Gott der Dichter, sondern auch (wenn es nicht das gleiche ist) der Gott der Seher. Platon lässt Sokrates vor seinem Tode erzählen, dass die Singschwäne vor ihrem nahenden Tode singen, weil sie sich auf die Unsterblichkeit der Seele und das himmlische Elysium freuen. Auch im Orient ist der Schwan heilig, bei den Chinesen heißt er: Himmlische Gans, weil er ein Himmelsvogel ist. Bei den Indern reitet der Gott Brahma, der Schöpfergott, auf dem Königshansa, dem Schwan. Der Schwan ist auch der Göttin der Weisheit heilig, der indischen Göttin Saraswati, denn der Schwan gilt als Symbol der spirituellen Reinheit der Seele. Im Indischen ist Schwan gleichbedeutend mit Seele. Ich wüsste allerdings nicht, dass der Schwan in der Bibel vorkäme. Aber wie schon erwähnt wurde Sankt Ludger von einem heiligen Schwan begleitet.
      Aber um wieder zum Elternhaus und zum Haus meiner Großmutter zurückzukehren, will ich unseren Garten beschreiben. Dieser Garten an sich war nicht groß, meine Großmutter zog hier ihre Bohnen. Das kann ich nicht vergessen und muß jedes Mal daran denken, wenn ich höre von Pythagoras, denn die Lehre der Pythagoräer von der Seelenwanderung oder Reinkarnation besagte, dass die Seelen der Toten sich in den Bohnen wiederverkörperten, weshalb die Pythagoräer keine Bohnen aßen. Aber mein Vater pflegte auch Stachelbeeren und Erdbeeren und Rote und Schwarze Johannesbeeren. Aber an den kleinen Garten schloß sich ein großer Garten an, der einer alten Dame gehörte, den wir aber nutzen durften. Wir pflegten den Garten und durften dafür seine Äpfel, Birnen, Pflaumen und Kirschen ernten. Dieser Garten heiß Lenz-Park. Es stand darin eine kleine Gärtnerhütte, darin noch Gartengeräte sich befanden. In früheren Zeiten waren darin Bienenstöcke für die Bienenzucht. Das vergesse ich nicht und denke stets daran, wenn ich einmal in Vergils Lehrgedicht vom Landbau den Lobgesang auf den Bienenstaat den Bienenkönigin lese, darin er die matriarchale Bienenkönigin mit dem römischen Augustus vergleicht. Hier wurde manchmal heimlich Tabak geraucht. Neben den schon erwähnten Obstbäumen standen da gewaltige Blutbuchen von erhabenem Alter und majestätischer Würde. Im Frühling war der ganze Garten mit weißen, gelben und violetten Krokusblüten übersät, ein wahres keusches Kleid der keuschen Ostergöttin. In dem gewaltigen Kastanienbaum aber, der vor meinem Fenster stand, saßen immer die Tauben. Ihr Gurren ist mir zum Inbegriff von mütterlichen Lauten geworden, ihr mütterliches Taubengurren ist mir zum Inbegriff eines mütterlich tröstenden Zuredens geworden. Vermischt mit dem Klang der Kirchenglocken ist es der musikalische Klang meiner Kindheit. Auch hatten wir im Sommer immer Lämmer im Garten, die das Gras abweideten. Mit diesen Lämmern gab es manche komische Geschichte. Manchmal kam ich zu spät zur Schule, weil ich ein Schaf noch einfangen musste. Aber ein Schaf, das ich Petra genannt hatte, war ein schwarzes Schaf und war leider elendig an einem Bandwurm krepiert. Schafe und Lämmer waren mir sowieso gut vertraut, da wir oft auf dem Deich an der Nordseeküste spazieren gingen, da wir denn mitten zwischen den Schafen wandelten, die auf dem Deich weideten. Das sollte mir die Schafswelt des Alten Testaments und die Lammeswelt des Neuen Testaments lebendiger machen. Ich empfand es immer gewissermaßen als eine Lästerung oder zumindest als menschlichen Hochmut, diese Bilderwelt der Bibel abzulehnen mit dem Hinweis auf die Stupidität der Schafe und Lämmer. Vielmehr empfand ich den Vergleich gut gewählt, da mir die Schafe sowohl die Unschuld und Reinheit Christi, als auch seine Sanftmut und Demut gut zum Ausdruck zu bringen schienen. Aber den stolzen Menschen gefiele ein Löwe eben besser oder ein Adler. Andere aber noch bevorzugen Steppenwölfe oder listige Füchse oder gar sinnliche Schlangen.
Von meinem Elternhaus nur durch den Lenz-Park geschieden befand sich die kleine katholische Kapelle Sankt Wiho. Wir sprachen über die Katholiken immer wie über Menschen fremder Sprache, fremder Rasse, unverständlicher Kultur. Alles in Friesland war von evangelischer Kultur geprägt, lutherisch oder reformiert. Die Katholiken waren wie Fremdkörper. Es war wie in China, wo man das Christentum lange Zeit die „Religion der fremden Teufel“ nannte. Wir wunderten uns oft über die seltsam gekleideten Knaben und Mädchen, die Ministranten, wenn sie vor der Messe sich hinter der Kapelle im Garten versammelten, wir wunderten uns über ihre Minsitrantengewänder. Einen unangenehmen Hauch von Absonderlichkeit hatten auch die katholischen Pfadfinder. Dennoch sollte ich später drei Mal mit den katholischen Pfadfindern ins Zeltlager reisen. Aber entscheidend ist doch, dass sich in meiner Kindheit Garten die Klänge der lutherischen Kirchenglocke mit den Klängen der katholischen Kirchenglocke zu einem einzigen harmonischen Laut der Mutter Kirche vereinten. Sie waren wie zwei Schwestern, die evangelische Schwester war blond, die katholische Schwester war schwarzhaarig, die evangelische Schwester war allseits beliebt und jung, die katholische Schwester war die Außenseiterin der Gesellschaft und wurde als sonderbar schief angesehen. Aber sie beide lächelten in meinen Garten. Und kurz nach meiner Bekehrung zu Christus besuchte ich zum ersten Mal die kleine katholische Sankt-Wiho-Kapelle und verliebte mich unsterblich in Unsere Liebe Frau von Hage, eine wunderschöne junge Madonna, die Apokalyptische Frau, der Schlange das Haupt zertretend. Sie ist einfach unglaublich schön!
Wir haben als Familie von Vater und Mutter und Kindern manche Reise nach Skandinavien unternommen. Hier erweitert sich mein Heimatbegriff. Ich habe mich nie heimatlich identisch gefühlt mit dem politischen Deutschland. Wo liegt auch Deutschland? Heimat, soweit sie auf Erden in der Kindheit gefühlt wurde, ist persönliche Erfahrung. Meine engere Heimat ist Friesland, meine weitere Heimat Germanien. Ich folge hier den Spuren des heiligen Ansgar, in dessen Kirche ich getauft ward. Er missionierte Dänemark und Schweden. Skandinavien war eine Zeit katholisch, später wurde es absolut lutherisch. Wir waren zuerst in Dänemark auf dem Festland. Ich sah Kopenhagen, ich sah auch die Statue der Kleinen Meerjungfrau, der nordischen Venus. Wir wohnten am Meer und ich vergesse nicht die Feuerquallen in der Ostsee, vergesse nicht die salzige Butter und die Himbeermarmelade und die saure Dickmilch. Wir fuhren dann zur dänischen Insel Langeland, die übersät war mit purpurroten Mohnblumen. Hier trafen wir die Familie einer Jugendfreundin meiner Mutter, deren beide Töchter in dem Alter meines Bruders und in meinem Alter waren, schöne Mädchen. Die Mütter verglichen ihre Brüste und fragten mich um mein Urteil, ob der kleinere oder der größere Busen der Schönere sei? Ich weiß nicht mehr, wie ich mich aus der Affäre zog. Dann reisten wir zur Insel Öland. Dort lernten wir eine schwedische Familie kennen, die wir oftmals besuchten. Öland ist gewissermaßen die große Schwester der kleinen Baltrum. Wie Baltrum die Perle meiner friesischen Heimat, so ist Öland die Perle meiner germanischen Heimat. Wir betrachteten alle die vielen Windmühlen, die ein Don Quichotte wohl für verzauberte Riesen und Trolle gehalten hätte. Wir sahen die Sommerresidenz der Königin von Schweden, die deutscher Abstammung war. Die Kinder der schwedischen Familie versuchten mir, die schwedische Sprache nahezubringen. Am Meeresstrand fand ich Ton und formte daraus Schlangen, die ich dann zu einer Vase modellierte, diese ließ ich in der Sonne trocknen und schenkte sie zuhause meiner geliebten Großmutter, die eine künstliche Rose hineinstellte. Mein Vater fuhr allein mit einem kleinen Segelboot auf die Ostsee und erlitt einen Unfall. Wir bangten lange, ob der Vater verschollen sei? Auch liebte ich es, in der Ferienwohnung Romane zu verschlingen. Dann reisten wir auf das schwedische Festland und sahen Stockholm, das Schloß der Königin. Uppsala, der Geburtsort der heiligen Brigitta von Schweden, war in heidnischer Zeit das Hauptheiligtum der Germanen. Dort trat ich in den Dom von Uppsala, der lutherisch geworden war. Wir durchfuhren in einem Wohnwagen das schwedische Land und kamen nach Norwegen, wo wir in der Stadt Bergen Lachs speisten, den Lachs der Weisheit, eine sakramentale Speise der Druiden, denn der Lachs schwimmt zur Quelle zurück, gegen den Strom zurück zur Quelle, um dort zu laichen und zu sterben, darum ist er ein Symbol der Weisheit. Ich fand die Fjorde beeindruckend, diese wildschäumenden Wasser in zerklüfteter Felslandschaft. Wir reisten noch durch Finnland und Lappland. Dort sah ich die Mitternachtssonne, da um Mitternacht ein rosiger Sonnenschimmer über den schneebedeckten Bergen lag, ein unglaublich poetisches Bild. Wir speisten finnische Grütze und übernachteten im Land der tausend Seen auf einer grünen Weide im Zelt, da mein Bruder und ich morgens von einem Rentier geweckt wurden, das neugierig vor unserm Zelte stand. Die Rentiere sind wunderschöne Tiere und leben zahm und zugleich frei gesellig in großen Herden droben im Land der tausend Seen. Wir sahen auch die Lappländer in ihren Eingeborenentrachten, Holzfäller, die die unzähligen Birken nutzten. Hier bekam ich ein Rentiergeweih und ein Messer mit einem Griff aus Rentierhorn geschenkt. Zuletzt begaben wir uns an den nördlichsten Punkt Europas, an das Nordkap. Dort stand ich nun am äußersten Norden der Königin Europa und schaute in das unendliche Nordmeer herab. Und wenn ich nun lyrisch werden wollte, so schien mir, ich war an der Grenze zur Welt der germanischen Götter, die Toren Walhallas taten sich auf, die Schwanenmädchen kamen, die Schwanenmädchen trugen mich nach Folkwang in die Arme Unserer Lieben Frouwa!
      Ich sollte noch mein Horoskop erstellen, um auch der Poesie des Aberglaubens zu frönen. Der Dichterfürst Goethe regte mich dazu an, und ich denke an die Lehre des Dichterpapstes Dante, der selbst seines Zeichens Zwilling war und auf den engelgleichen Lehrer Thomas von Aquin hinwies, der nämlich behauptete einen gewissen Einfluß der Sterne auf die niedere Natur der Seele, wobei die höhere Natur der Seele natürlich die vollen Freiheit behalte, sich für Gott oder gegen Gott zu entscheiden, allezeit zu wählen zwischen Gutem und Bösem. Der Einfluß der kosmischen Ordnung gibt der Seele eine gewisse individuelle Prägung, aus diesem Material der freie Menschengeist denn Gutes oder Bösen fruchten lassen kann. Soweit zur Rechtfertigung meiner Darlegung. Wissenschaftlich kann dieses Horoskop nicht sein, aber ich will doch sagen, dass ich unter dem Sternbild des Skorpion geboren bin mit dem Aszendenten Waage. Die Waage steht nun für Sanftmut, Harmonie, Ruhe. Der Skorpion aber steht unter dem Einfluß des Mars, der für die Aggression steht, und des Pluto, der für den Tod steht. Dem Skorpion sind am Menschen die Geschlechtsorgane zugeordnet. Der Skorpion, wie mir immer vor Augen stand, ist eine geheimnisvolle Mischung aus Sexus und Tod, dabei neigt der Skorpiongeborene besonders zum Geheimnisvollen, zum Mysterium. Es ist skorpionmäßig, die Verbindung von Tod und Sexualität zu betrachten, den Tod als eine Hochzeit, wie Antigone es tat, die beim Todesurteil die Hochzeit mit dem Hades erwartete. Dieses Mysterium erscheint auch im Wort Gottes, da der Tod oder vielmehr das ewige Leben als eine himmlische Hochzeit betrachtet wird. Der so geprägte Mensch wird offen sein können für das Mysterium von Eros und Kreuz. Worte wie das der heiligen Katharina von Siena, sie sei vermählt mit Christus im Brautbett des Kreuzes, sind dem Skorpiongeborenen intuitiv zugänglich. Das selbe Verhältnis meines Horoskops, das die Chaldäer das Verhältnis von Skorpion und Waage nennen, drückt sich in der chinesischen Astrologie durch das Verhältnis von Schlange und Hase aus. Ich bin geboren im Jahr der Schlange, in der Stunde des Hasen. Der Skorpion der Chaldäer ist die Schlange der Chinesen, die Waage der Chaldäer ist der Hase der Chinesen. Die Schlange steht ebenso für das Mysterium der Einheit von Tod und Sexualität, der Hase steht ebenso für die Sanftmut und den Frieden. Über das Symbol der Schlange habe ich lange nachdenken müssen, es hat mich immer fasziniert. Üblicherweise steht in der Betrachtung der Bibel die Schlange für Satan, für das Böse, für den Zerstörer, den Tod. Aber der Heilige Geist lenkt meinen geistigen Augenmerk auf die Eherne Schlange, die Moses an einer Stange errichten ließ. Als nämlich die Kinder Israel von giftigen Brandschlangen (Saraphim) angefallen und gebissen wurden und starben, da errichtete Moses auf Gottes Geheiß hin die Eherne Schlange, das kupferne Bild einer Schlange an einer Stange aufgerichtet, damit die Kinder Israel, die Eherne Schlange anschauend, von den tödlichen Bissen der giftigen Brandschlangen geheilt würden und am Leben blieben. Dieses Kultbild der Ehernen Schlange wird von Salomo im Buch der Weisheit erwähnt, da Salomo sagt, die Menschen wurden nicht von diesem Kultbild geheilt, sondern, dieses Kultbild anschauend, von Gott geheilt. König Hiskia entfernte das Kultbild der Ehernen Schlange aus dem Tempel von Jerusalem, da die Israeliten damit Götzendienst trieben. Aber unser Herr Jesus Christus griff auf dieses Kultbild zurück, das den Namen Nehuschtan trug, und sagte: So wie Mose die Eherne Schlange an der Stange errichtete, damit alle, die auf die Eherne Schlange blicken, vom Tode erlöst werden und Leben haben, so muß auch der Menschensohn am Kreuz erhöht werden, damit alle, die auf den Gekreuzigten schauen, das ewige Leben haben. Mit einem Wort: Christus ist die Eherne Schlange! Das wird nie gepredigt, aber die sakrale Kunst hat es in einem Fall begriffen, dass nämlich in der katholischen Kirche Sankt Marien zu Oldenburg in Oldenburg die Eherne Schlange am Kreuz als Altarbild dargestellt ist. Ist die Schlange ein Symbol des Todes, so ist es wahr, wie der Dichter Vergil schrieb in der Aenäis: Dein Tod ist mein Leben! Der Kreuzestod Christi ist mein ewiges Leben, der Tod der Ehernen Schlange ist mein ewiges Leben. Die Schlange ist aber nicht allein ein Symbol für den Tod, sondern auch ein Symbol für die Weisheit und für die Ewigkeit, des weiteren ist die Schlange ein phallisches Symbol für die Sexualität. Es ist ein nahezu unausschöpfliches Symbol. In der Geschichte des Sündenfalls reicht die Schlange als das listigste aller Tiere die Frucht vom Baum der Erkenntnis. Aber Jesus verweist darauf, seine Jünger sollen wahrhaftig und ohne Falsch sein wie die Taube und klug wie die Schlange. Die Schlange wird sowohl von Moses als listig, als von Jesus als klug bezeichnet. In alten matriarchalen Kulturen gilt die Schlange als Symbol der Weisheit. Beim Zeichen der Heilkunst, dem Äskulapstab, finden wir wieder die Schlange oder zwei Schlangen erhoben an einem Stab. Dieses Symbol soll Gesundheit und Heil verkörpern. Es ist dem Symbol der Ehernen Schlange an der Stange wesensmäßig verwandt, es ist das Zeichen des Heils, des Heilands. Die Schlange wird zu einem Symbol des ewigen Lebens, da sie zum einen sich häutet, also aus ihrer leiblichen Haut schlüpft und mit der Unsterblichkeit der Seele fortlebt. Zum anderen aber auch war im Altertum weitverbreitet das Symbol der zum Kreis geschlossenen Schlange, die ihren Schwanz ins Maul nimmt und so den absoluten Kreis der Totalität oder Ewigkeit darstellt. Der Matriarchatsforscher und Tiefenpsychologe Erich Neumann bezeichnete dieses Zeichen der Schlange, das man Uroboros nannte, als ein phallisches Symbol des Urväterlichen, des numinösen Vaters der Ewigkeit. Das die Schlange als ein Symbol für den Phallus gesehen wurde, ist evident. In der indischen Philosophie des Tantrismus gilt die Schlange geradezu als die leibliche Energie, die durch sexuelle Übungen aktiviert und durch geistige Meditation sublimiert wird, so dass ein Zustand der Erleuchtung eintreten könne. Das die Sexualität ausgedrückt wird durch die Schlange wird auch deutlich in der Bildsprache, da die Schlange mit der nackten Frau Eva in Verbindung steht und ihr die Frucht schenkt, die sowohl als Apfel als auch als Feige dargestellt wird. Die Schlange ist dabei der Archetyp der männlichen Sexualität und die Feige oder der Apfel der Archetyp der weiblichen Sexualität. Das es dabei auch noch um verbotene Erkenntnis ging, weist darauf hin, dass der Sündenfall als ein gotteswidriger Erkenntnis- oder Geschlechtsakt dargestellt wird. In der Mythologie des Judentums existiert auch noch die Gestalt der Lilith, die die erste Frau Adams genannt wird, und ich sah ein Bild, da eine erotische Frau, ganz wie eine Venus dargestellt, von einer kraftvollen Schlange spiralförmig umschlungen wird, ein kraftvolles Bild der Lilith, die von der jüdischen Mystik der Kabbala als die Verführerin in Person dargestellt wird. Was lernen wir daraus? Die Schlange als Symbol der Weisheit, als Symbol des Eros, als Symbol von Tod und Ewigkeit, von Kreuz und ewigem Leben ist ein Symbol für Christus, denn Christus ist Gottes Weisheit, Christus ist Gottes Eros, Christus ist der Gekreuzigte und Auferstandene, Christus ist die Auferstehung und das ewige Leben. Aber um den Hasen nicht zu vergessen, der in der chinesischen Astrologie der Schlange zugesellt ist als zweite Astralkraft, die die niedere Natur meiner Seele beeinflusst, will ich nur darauf hinweisen, dass der Hase in den germanischen Ländern zu einem stellvertretenden Symboltier für das Osterlamm geworden ist. Es ist die Sanftmut und Friedfertigkeit, die sowohl das biblische Lamm als auch den traditionellen Hasen auszeichnen. In meiner Kindheit hing immer an der Bilderwand unseres Hauses der Hase von Albrecht Dürer. Der Hase ist Christus, das Lamm Gottes, der Hase ist Jesus, der sanftmütig und von Herzen demütig ist, der Hase ist Christus, der wahre Friedefürst.
      Der Don Juan ist mir angeboren. Mozart lässt ihn zur Hölle fahren, Byron schreibt seine unendliche Geschichte, Max Frisch bekehrt Don Juan zur Geometrie, ich mache ihn zum Marienverehrer, zum Eremiten des Berges Karmel namens San Juan. An meinem Kinderwagen stand meine erste Liebe, Anonyma ihr Name, mit Marita fütterte ich dreijährig die weißen Schwäne am Schwanenteich, mit Dörte segelte ich auf dem Großen Meer und spielte Ping-Pong im Garten, mit Karin der Schwarzhaarigen spielte ich Indianerprinzessin und Bleichgesicht, die sich lieben, mit Karin der Blonden tanzte ich den Walzer, mit Sonja fing ich Schmetterlinge vom Schmetterlingsflieder und spürte meine Pubertät in ihrem Schlafzimmer und mit Angela spielte ich Küssen.
      Meine Freunde Klaus und Udo waren mir bald fremd geworden, da sie sich nur für Werkzeugarbeiten und Automobile interessierten. Mit meinen Freunden Heiko und Andreas spielte ich Indianer im Wald. Andreas traf ich später wieder bei der Heiligen Messe in der Sankt-Wiho-Kapelle von Hage zu Füßen der Apokalyptischen Frau. Wir verwechselten David und Goliath und spielten auf dem kleinen Hügel im Wald, den wir Goliathhügel nannten, weil er so klein war. Es war doch der kleine Junge Goliath unser Held, der gegen den hochgerüsteten Riesen David nur mit der Steinschleuder bewaffnet siegte! So habe ich später auch die Söhne meiner Seele zu Davidssöhnen gemacht.
      Ich bin dreimal mit den katholischen Pfadfindern ins Zeltlager gefahren. Wir lernten Pfadfindertugenden, uns im Wald zu orientieren. Die Katholiken mussten bei Tisch immer beten, aber wir Evangelischen, zwar eingeladen mitzubeten, mussten nicht beten. Mein Betreuer trug mich durch den Bayrischen Wald und erzählte mir die Legende von Sankt Christopherus, der nur dem Mächtigsten dienen wollte, er fand dann, der Mächtigste sei das Jesuskind. Das erzählte mir der fromme Mann, als er mich auf seinen Schultern trug, er hatte in der Hand einen langen Wanderstab. Und so geschah es, dass mich Sankt Christopherus auf den Schultern trug und ich war das Jesuskind. Später konvertierte ich in der Sankt-Christopherus-Kapelle zur Katholischen Kirche. Heimlich las ich im Tagebuch meines Betreuers, er beschrieb mich als vernünftig.
      Mit meinen Freunden beim Indianerspielen im Wald gab es einmal eine Auseinandersetzung, da ich als zu vernünftig angesehen wurde, zu wenig abenteuerlustig. Man sagte mir, ich solle nicht predigen: Du predigst wieder mal das Wort zum Sonntag. Ja, ich habe später wiedergefunden meine Neigung zum Predigen. Mancher Frau bin ich damit schon lästig geworden. Ich wollte gar einmal evangelischer Pfarrer werden. Aber der evangelische Pfarrer riet mir davon ab.
      In der Grundschule hatten wir zum Religionsunterricht eine Kinderbibel bekommen. Ich erinnere mich noch gut, dass mich die Geschichte von der Berufung des Knaben Samuel im Tempel so lebendig ansprach, als spräche Gott nicht zu Samuel, sondern zu mir: Torsten, Torsten! – Rede, Herr, dein Knecht hört! – Die zweite Szene aus der Kinderbibel war das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter. Ja, das Hören auf Gott, der Glaubensgehorsam, muß sich auswirken in der Nächstenliebe.
      Als ich zwölf Jahre zählte, nahm mich meine Kindheitsfreundin Dörte mit in die Freie Evangelische Gemeinde, eine protestantische Freikirche calvinistischer Prägung. Dort nahm ich an der Kinderbibelstunde teil. Das Fräulein Marie gab uns den Unterricht. Ich erinnere mich an das Baby Moses und seine Schwester Mirjam. Als ich als Erwachsener die Bibel wieder fand und gläubig wurde an Christus, las ich zuerst die fünf Bücher Moses und liebte darin vor allem Mirjam. Damit begann meine Marienverehrung, mit der Verehrung der Schwester Moses, Mirjam. Dann erinnere ich mich an die Geschichte von Josef im Brunnen. Ich liebte vor allem Benjamin, weil er seinen Bruder Josef nicht verraten und verkauft hatte. Josef war ja eine Jesus-Gestalt, und ich wollte gern der Benjamin-Bruder des Josef-Jesus sein. So, als ich in der englischen Sprache unterrichtet wurde, nannte ich mich Benjamin. Daran erinnerte ich mich wieder, als ich den großen englischen Renaissance-Poeten Benjamin Jonson so außerordentlich liebte, den Musenpriester seiner Göttin Charis. Schließlich erinnere ich mich an den jungen David im Kampf mit dem Riesen Goliath. Unvergesslich war mir David, so dass ich später, als ich wahnsinnig geworden war, das erste Buch Samuel nachdichtete in Versmaß und Reim, so heilte mich David von meinem Wahnsinn.
      Ich las die germanischen Götter- und Heldensagen und war begeistert von Siegfried. Aber Kriemhilds blutige Rache war mir ganz zuwider, ich verabscheute den Krieg. Dagegen Gudrun, die irische Prinzessin, von einem friesischen Häuptling gefreit, von einem Burgunder entführt, von Friesen und Dänen befreit, sie war mir sehr lieb.
      Meine musikalische Mutter hatte für meine musikalische Erziehung gesorgt. Zuerst lernte ich Volkslieder auf der Flöte zu spielen, dann nahm ich Klavierunterricht und spielte am liebsten das Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach, schließlich brachte ich mir selber das Gitarrespielen bei. In meiner Jugend sollte dann die Gitarre mit den „blue notes“ der afroamerikanischen Klageliebeslieder meine Begleiterin sein.
      Ich war ungefähr dreizehn Jahre alt, als ich mich eines Abends in der romantischen Dämmerung vor einem weißen Heft niedersetzte und es mit meinem ersten poetischen Erguß voll schrieb. Ich zeigte es meinen Eltern, fand aber kein Echo. So soll es mir wohl mein Leben lang ergehen, dass der Geist mich inspiriert, ich dichte, aber es kommt aus der Welt kein Echo auf meine Dichtkunst zurück.
      Mit fünfzehn Jahren ward ich schließlich konfirmiert. Mein Vater hatte mir gesagt, ich bekäme auch Geschenke, wenn ich nicht zur Konfirmation ginge, ich bräuchte nicht wegen des Geldes zur Konfirmation gehen. Meine Großmutter vertraute mir ihre Bibel an, die sie zur Hochzeit vom evangelischen Pfarrer von Baltrum bekommen hatte. Nach dem Tode meiner Großmutter ging die Bibel ganz in meinen Besitz über, sie ist nun Bestandteil meines Hausaltares. Ich bekam ein evangelisches Gesangbuch. Noch heute lese ich gerne diese reformatorische Poesie. Im Konfirmationsunterricht diskutierten wir über Liebe und Freundschaft und meditierten über die hungernden Kinder von Afrika. Ich lernte das Vaterunser auswendig. Bei der Konfirmationsfeier nahm ich das erste Mal an einem evangelischen Abendmahl teil. Als der Pfarrer mir den Kelch mit dem Wein reichte, kniete ich vor dem Kelch und bekam Nasenbluten. Christi Blut – mein Blut!



ZWEITES KAPITEL

„...dass doch die strenge Welt
Den Vorurteilen Maß verleihe,
Daß sie zumindest mir verzeihe,
Was in der Jugend ich gefehlt.“
(Puschkin)


1

Ich kann es nicht erklären, aber als ich eines Morgens in meiner Jugendzeit erwachte, stand ich ohne allen Glauben da. Es war, als hätte ich nie von Christus gehört. Nun musste ich mich also nach einer Weltanschauung umschauen, die mir als sinnstiftender Leitfaden durchs Lebenschaos dienen könnte. Wo die Wahrheit fehlt, da tritt die Ideologie an die Stelle. Christus ist die Wahrheit, aber die Ideologie ist der Antichristus. Es war die Zeit, da das kommunistische Russland und das kapitalistische Amerika in einem Wettstreit sich befanden, wer mehr Atombomben besäße. Sie brachten die Welt an den Rand eines Dritten Weltkriegs, eines Atomaren Winters. Dagegen erhob sich in den westlichen Demokratien die Friedensbewegung, die dagegen im Staatssozialismus Osteuropas keine Meinungsfreiheit fand. Die Fahne der Friedensbewegung war eine blaue Fahne mit der weißen Taube des Friedens, ihre Protestform waren Ostermärsche und andere friedliche Demonstrationen. Es sammelte sich ein Haufen von liberalen Christen, Demokraten, Naturfreunden und Sozialisten und waren sich einig im Gegensatz zur konservativen Regierung Westdeutschlands, die sich an die Seite Amerikas stellte. In dem bunten Haufen der Friedensbewegung begegnete ich den Marxisten, die mich zur kommunistischen Ideologie verführten.
      Ich las das Manifest der Kommunistischen Partei von Karl Marx und Friedrich Engels und eine Schrift von Lenin über den Imperialismus. Die angeblich wissenschaftliche Gesetzmäßigkeit der Geschichte, die zuletzt in das irdische Paradies des Kommunismus münden sollte, faszinierte mich. Ich ward Kommunist und schloß mich der Kommunistischen Partei Westdeutschlands an, einer Marionette der Kommunistischen Partei Russlands. Hier wurde denn planmäßig ein Jugendlicher in seiner Unwissenheit zum leninistischen Ideologen ausgebildet. Ich studierte den dialektischen Materialismus, die kommunistische Philosophie, entsprechend meinem Fassungsvermögen, von der kommunistischen Ökonomie verstand ich nichts. Was mich und meine Jugendfreunde aber vor allem faszinierte, das war die Revolutionsromantik. Das ist verständlich. Ich hörte einmal den Spruch: Wer in seiner Jugend kein Kommunist gewesen, der ist herzlos, und wer im Alter immer noch ein Kommunist ist, der ist ein Narr.
      Die Revolutionsromantik verklärte die russische Revolution von 1917 als eine welthistorische Wende, eingeleitet von dem großen Menschheitsbefreier Lenin, der mit seiner kleinen Schar Revolutionäre die zaristische Tyrannei zertrümmerte, die Weltrevolution einleitete, die den allgemeinen Weltfrieden und das irdische Paradies herbeiführen wird. Im Gegensatz zur Philosophie des Kommunismus, da die Geschichte von Produktivkräften und Klassen bewegt wird, stellte sich in dem realen Kommunismus ein historischer Personenkult her, der pseudoreligiöse Züge trug. Dieser Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, war der Pseudo-Messias, eigentlich der Anti-Christus. Seine Kirche war die Partei. Seine Bekehrung des Herzens war die Revolution, seine Waffe nicht die barmherzige Liebe, sondern der revolutionäre Haß, sein Ziel nicht das Himmlische Paradies in Gemeinschaft mit Gott, sondern das irdische Paradies ohne Gott. Aber das durchschaute ich nicht, sondern ich war blind vor Bewunderung für dieses Idol. Er war mein Götze.
Niemand hatte mir von Fatima in Portugal berichtet, wo die Mutter Christi erschien vor drei armen Hirtenkindern und bat, für die Bekehrung Russlands zu beten, Russland dem Unbefleckten Herzen Mariens zu weihen, da sonst die Kommunisten Russlands ihre Irrlehre über die ganze Welt verbreiten würden und es nach dem Ersten Weltkrieg zu einem Zweiten Weltkrieg kommen würde. Aber am Ende wird sich Russland zu Christus bekehren, dann wird Mariens Herz triumphieren, dann wird Russland das Volk sein, in dem Gott am höchsten verherrlicht werden wird.
Zur Zeit der politischen Friedensbewegung in Europa und Amerika, erschien in der Herzegowina die Mutter Christi als Königin des Friedens und der Versöhnung und rief die Welt zum Gebet auf: Tut Buße, betet, betet, betet, denn der Friede kommt nicht von den Staatsmännern, sondern der Friede beginnt, wo das Herz Frieden schließt mit Gott. Empfangt den Frieden von Gott in eurem Herzen und dann tragt den Frieden Christi in die Welt. Die Welt braucht Frieden, darum betet!
Aber davon machte mir keiner Mitteilung, und ich weiß auch nicht, ob ich es hätte hören wollen. In mir war wenig Sinn für Innerlichkeit, Gebet, sondern alles in meiner Jugendkraft drängte zur Aktion, zum Kampf. Aber ich interessierte mich auch für die Philosophie. Ich hörte vom utopischen Sozialismus aus Frankreich, von Utopien wie dem Utopia von Thomas Morus und dem Staat Platons. Aber ich meinte in meiner Kurzsichtigkeit, die Wahrheit hätte erst mit Karl Marx begonnen. Dabei war Karl Marx ein schlechter Philosoph, der seine schlechte Philosophie mit politischen Parolen übertünchte. Ich interessierte mich für Lenins Gedanken über die Dialektik Hegels. Da war ja bei Hegel die Welt in einen klappernden Dreiklang geteilt, da auf die These die Antithese folgte, und aus These und Antithese ergibt sich die Synthese, kurz, der Urkommunismus der historischen Vorzeit als These wurde abgelöst von der Antithese der Klassengesellschaften, das heißt, der Sklaverei, dem Feudalismus und dem Kapitalismus, und zuletzt ergibt sich aus historischer Gesetzmäßigkeit und gemäß der dialektischen Gerechtigkeit die Synthese des Kommunismus, da der Urkommunismus auf einem höheren Niveau wiedererscheint. Allerdings, obwohl diese historische Gesetzmäßigkeit die Notwendige Heilsgeschichte des Kommunismus zwangsläufig einleitet, muß sich dieses Gesetz doch gewaltsam in der Revolution Bahn brechen. Und mit dem historischen Ziel des irdischen Paradieses ist der ganze Rote Terror historisch gerechtfertigt. Wo gehobelt wird, da fallen Späne. Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert.
Zuletzt, als das goldene Haus der kommunistischen Ideologie wegen seiner offenbaren Fehlerhaftigkeit schon kurz vorm Einstürzen war, erschien noch einmal der Neomarxist, der Philosoph Ernst Bloch mit seinem Utopischen Marxismus und begeisterte noch einmal mein junges Herz mit einer Zukunfts- und Hoffnungsphilosophie, die poetisch ausgedrückt, doch auch im irdischen Paradies des Kommunismus die letztendliche Erfüllung aller Sehnsüchte und Träume des ganzen Menschheitsgeschlechts sah.
Wie aber ist es in der Weltrevolution dem Don Juan und dem Ewigweiblichen ergangen? Meine Jugendliebe begann mit Hedda, deren Mutter Lenin verwarf und treu zum Zaren hielt. Da musste ich mich abwenden, so wendete ich mich Ursula zu, der Schwester des Marxisten, der mir das Kommunistische Manifest gegeben hatte. Aber als ich in die Kommunistische Partei eingeführt worden, begegnete mir die Kommunistin Sonja, die ich einen Winter liebte, bis sie an meinen Genossen überging. Ich heulte wie ein sibirischer Wolf den Mond an. In der Friedensbewegung lernte ich dann Kathi kennen, eine Feministin, die mir als Antigone erschien, die Frau, die dem Vater Staat trotzte und sich auf das Urgesetz der Gerechtigkeit berief, das Naturrecht, das als Recht der Mütter erschien. Asche auf mein Haupt! In Sack und Asche tu ich Buße! Ich demonstrierte für das Recht der Frauen, ihre eigene Leibesfrucht im gesegneten Mutterschoß zu töten! Aber als der Kommunismus zusammenbrach, erschien mir der Engel Annegret, mein Gretchen aus Faust, der Tragödie Erstem Teil, die eine Christin war, für sie schrieb ich die Weihnachtsgeschichte aus dem Lukas-Evangelium um, da nicht Christus der Herr geboren war, sondern Gretchen die Frau! So hatte mich das Ewigweibliche begleitet vom Zaren zu Lenin, von Lenin zu den Müttern, von den Müttern zu Christus!
Meine kommunistischen Freunde Volker, Werner und Thomas trafen sich regelmäßig mit mir, um Propagandatexte zu schreiben. All mein poetisches Talent, das sich vor Hedda noch in Liebesgedichten ergossen, verschwendete sich nun an politische Pamphlete. Aber mit meinem Freund Erich kehrte langsam die Poesie zurück. Er übersetzte Liebeslieder der Afroamerikaner, er machte langsam eine Wandlung von der Anbetung der Ikone des Antlitzes Che Guevaras, des kubanischen Revolutionärs, zu einem Lesen der Heiligen Schrift. Er las mir eines Tages die Apokalypse des Johannes vor, ich konnte es nicht ertragen, denn es galten all die Gerichte mir! Dennoch war nun eine Bibel in meinem Haus, und so nahm ich nicht mehr Lenins Propaganda zum literarischen Vorbild, sondern Lukas, den Minnesänger der Madonna. Bis sich aber der Madonnen-Minnesang durchsetzte, war es noch ein langer Weg.
Ich hatte ja nicht allein Lenin zum literarischen Vorbild, sondern drei Große der Kommunistischen Literatur, ich studierte die Gesammelten Werke von Wladimir Majakowski, Berthold Brecht und Pablo Neruda. Majakowski wäre ein großer Dichter geworden, wenn er Lilja und seinem Herzen gefolgt wäre, aber so ist er zu einem großen Schreihals und leninistischen Phrasendrescher geworden. Berthold Brecht hat in seiner Jugend Schweinereien gedichtet und sich dann einer unpoetischen Agitation mit erschreckend unmenschlichen Zügen zugewendet. Pablo Neruda hat mich am längsten fasziniert, er hat ein ungeheures poetisches Talent. Aber all der Reichtum seiner sprachlichen Bilderwelt überdeckt doch nur die innere Leere eines irdischen Materialismus, der ohne Hoffnung ist. Zuletzt bewegte mich die Poetische Konfession von Johannes R. Becher, der mir meine Berufung zum Poeten bewusst machte. Er versuchte, eine kommunistische Klassik zu schaffen. Klassik kann aber nur aus dem christlichen Abendland entstehen, aus dem Gott Israels, der in Christus Mensch geworden ist, verherrlicht mit der Kunst der griechischen Schönheit. Die kommunistische Poesie ist Poesie ohne Gott, Poesie ohne den Ewigen, darum auch keine ewige Poesie. Die wahre Poesie an ihrem Ursprung war Gottesdienst, Gebet! Des Künstlers edelste Eigenschaft heißt Gott. Gott ist das Wort, und ohne das Wort Gottes sind alle menschlichen Worte hohl und bedeutungslos. Der wiederkehrende Christus wird alle diese Machwerke mit dem Hauch seines Mundes wegbrennen!
      Ich war einige Male im kommunistischen Ostdeutschland. Aber wirklich beeindruckend war der Urlaub in Grünheide bei Berlin, da ich mit den Parteiveteranen in einem Waldhaus wohnte. Es war im Herbst, da der Wald überall nach Pilzen roch. Schwäne sah ich auf dem Waldteich und Rehe im Wald. Ich zog mich oft in mein Zimmer zurück und las Bücher aus der öffentlichen Bücherei. Das Besondere war nun, dass ich einen Band mit Gedichten von Hölderlin gefunden und eine typographisch schöne Ausgabe des Hohenliedes Salomos. Nie vergesse ich den Vers von Hölderlin: Ich habe unwandelbare Liebe dir geschworen, Genius der Wahrheit! Hier bin ich der wahren Poesie begegnet, der Poesie, die mehr als Kunst, die Prophetie ist. Hier fand ich einen neuen Zugang zur Bibel, über die Poesie, denn die Schönheit des biblischen Liebesliedes überzeugte mich absolut. So wollte ich dichten.
      Vom humanistischen Gymnasium aus unternahm ich auch zwei Reisen ins schöne Prag. Mich beeindruckte schwer die Theyn-Kirche und das Goldene Gässchen, der Hradschin und die Aposteluhr. Prag ist so schön, dass ich nicht sagen kann, ob ich Prag schöner fand oder Venedig! Ich bin einige Tage in Paris gewesen, aber Paris ist eine gewaltige Weltstadt, Venedig ein Zaubermärchen, aber Prag ist Mystik. Ich sah auf der Karlsbrücke den Heiligen Nepomuk, den Zeugen des Beichtgeheimnisses.
      Mit meinen Eltern und meinem Bruder fuhr ich nach Marokko. Ich war wirklich in Afrika! Stimmt es, dass Afrika der Kontinent ist, da die Menschheit geschaffen worden ist? Ich badete im Atlantik und ich war in der Wüste, ich sah die Berber, die Nomaden und das Atlas-Gebirge. Ich sah die Verehrung für den König von Marokko überall gegenwärtig und hörte den Gebetsruf von den Moscheen. Ich sah die Bettelkinder mit Rosenblüten Rosenmosaiken legen. Ich trank den Pfefferminztee von Marokko, rauchte das Haschisch von Marokko und wies einen Schuhputzer zurück, der mir seine junge Schwester als Hure anbot. Ich war allein in die Stadt Tarudant gereist und traf dort im Teehaus einen jungen Studenten, der von mir den Schnee beschrieben haben wollte und der die europäische Philosophie studierte. Die schönen Eindrücke der freundlichen Marokkaner bewahrte mich vielleicht später vor einer vorurteilsmäßigen Verurteilung des Islam. Ich sah hier eine humane islamische Kultur.
      Aber nun will ich das Jahr 1989 beschreiben. Es war in mancher Hinsicht ein bedeutsames Jahr. Es begann mit einem unvergessenen Traum. Ich steig eine Wendeltreppe hinan in einen Raum, der von bunten Schleiern durchwoben war. Ich fand aber keinen Ausgang. Plötzlich tat sich ein Loch im Boden auf und ich glitt hinab in einen tunnelartigen Schlauch, der nahezu endlos schien, aber schließlich kam ich heraus und landete in einer Schaukel, die an einem großen Baum hing, der stand in einem lichtgrünen Garten. Da erschien eine Weiße Dame, eine Lichtgestalt, eine schlanke Licht-Jungfrau. Ich weiß nicht, ob es die Jungfrau Maria war oder meine Schutzengelin oder meine Muse oder meine Psyche? Sie las mir aus einer Buchrolle harmonische Gesänge vor. Dann führte sie mich in ein Haus mit labyrinthischen Irrgängen. Es war dort ein Gedränge von Menschen, vor allem von Männern, aber die Weiße Dame führte mich lächelnd hindurch bis in ein Schulzimmer, da sie meine Lehrerin ward und mich unterrichtete. Sie war wie eine Hirtin und ich folgte ihr wie ein demütiges Lamm.
      Dann lernte ich ein Mädchen namens Marion kennen. Es war nach der Aufführung des Laientheaters vom Gymnasium, da die Lysistrata des Aristophanes gespielt wurde. Ich sah Marions Augen und war unsterblich in ihre Seele verliebt. Wir lernten einander kennen und fingen an, mit Maskenspielen und poetischen Texten gegen die Hybris der modernen Menschen anzukämpfen, die künstlich den Menschen schaffen will, den Mutanten. Wir verbreiteten auf Flugblättern Texte aus der Johannes-Apokalypse.
      Einmal saß ich auf dem Balkon meiner Wohnung und las das Gedicht Friedensfeier von Hölderlin, da Christus gefeiert wird als der letzte und größte der griechischen Götter. Da schien mir aus der goldenen Sonne am lichtblauen Himmel sich eine weiße Hand zu mir herabzuneigen und mich zu segnen, ein himmlischer Friede erfüllte mich. Die folgenden Jahre studierte ich die Gesammelten Werke von Hölderlin, immer erinnerte er mich an den himmlischen Christus.
      Ich las auch den Heinrich Ofterdingen von Novalis, und was ihm die Blaue Blume und Mathilde (Sophie) gewesen, das war mir Marion. Sie erschloß mir das Geheimnis der Poesie. Zu der romantischen Sophiologie von Novalis trat die russische Sophiologie von Alexander Blok. Als ich im Frankenland auf einem Kulturfestival war, las ich die Verse an die Schöne Dame. Dort feiert Blok seine Muse und Dame als die Ikone der Jungfrau Maria, als die russische Venus, leidenschaftslos und rein, als Himmelskönigin, als die Hagia Sophia von Russland. Die Bilder der Diotima von Hölderlin, der Mathilde von Novalis und der Schönen Dame von Blok flossen zu einer neuen Person zusammen. Nun beschloß ich, als Dichter zu leben. Von erster Rilke-Lektüre beeinflusst, begann ich, meine ersten Sonette zu schreiben.
      Aber auch die Weltgeschichte unternahm einen Schritt. Der Kommunismus in Russland und Osteuropa brach zusammen. Das deutsche Volk im kommunistischen Ostdeutschland forderte die Freiheit und bald auch die deutsche Einheit. Auch in Ostfriesland erschienen Flüchtlinge aus dem sozialistischen Ostdeutschland. Sie kamen mit der Philosophie Nietzsches vom Willen zur Macht, vom Übermenschen. Sie genossen nun die Freiheit des Westens, Drogen kaufen zu können. Der hungrige Materialismus des Kommunismus wurde durch den satteren Materialismus des Kapitalismus ersetzt.
      Ich aber war in einem poetischen Traum der Liebe. Ich las vom Matriarchat auf Kreta und vom Kult der Großen Göttin. Mir begegnete zum ersten Mal Virgil. Ich las Goethes Diwan und so verschmolz Marion auch mit der westöstlichen Suleika. Ich las die Liebespoesie des jungen Klopstock und die ersten drei Gesänge des Messias! Poesie, nicht von einem Menschen gedichtet, Poesie, von einem Seraph gesungen! Ich las zum ersten Mal das Tao Te King des Lao Tse und war für mein Leben begeistert von dieser unsterblichen Weisheit. Dann schlug ich die Bibel auf und las von dem Ruf des Herrn an Hesekiel: Prophezeie, Prophet, und sprich zum Odem: Komm, Odem, hauche die Getöteten an, dass sie auferstehen in der Auferstehung des Fleisches! Und siehe, es kam der Odem, der Geist Gottes, und blies die Toten an, und ich sah, und siehe, was ich sah, das war die Auferstehung des Fleisches!


2

Ich zog nach Oldenburg in Oldenburg und begann, in der Universitätsbibliothek autodidaktisch antike Literatur zu studieren. Ich las die griechischen Lyriker, am liebsten Sappho, aber auch Alcäus, Altmann, dann mit Begeisterung Pindars Hymnen in der Übersetzung Hölderlins, Theokrits Idyllen, Daphnis und Chloe, den Roman, las ich mit Genuß, las die drei großen Tragiker, ich wandte mich der Odyssee zu, die ich mit gläubigem Sinn las, denn die Tochter Zeus’ Athene verehrte ich wie eine lebendige Göttin der Weisheit, die mir den Weg des Lebens weisen könne, ich fühlte mich durch Homer prophetisch angesprochen, aber auch die Aphrodite-Kypris der Sappho ehrte ich mit gläubigem Sinn. Die Mediceeische Venus von Botticelli schmückte mein Zimmer und ich verehrte sie wie eine Ikone der göttlichen Schönheit. Ich las die Theogonie und die Werke und Tage von Hesiod, die Ilias, und wendete mich dann den Römern zu, Vergils Hirtengedichten, Georgica und Äneäis, Lukrez’ Lehrgedicht, Horaz’ Oden und Satiren, Catulls Liebesgedichten, Ovids Metamorphosen und Liebeslyrik. Ich ahmte die antiken Versmaße nach, vor allem den Hexameter und die Odenstrophen. Ich begann dann, den Orient zu entdecken und altägyptische Hymnen zu lesen und das Gilgamesch-Epos. Dabei verehrte ich die Isis als eine Göttin der Mysterienreligion und begehrte die Ishtar als eine Göttin der Lust und Liebe. Es hatte sich das Christentum in mir noch nicht durchgesetzt, und ich ahnte das Göttliche in Gestalt eines ewigweiblichen Schönheit, Liebe und Weisheit. Ich suchte die Große Göttin des Heidentums und studierte den heidnischen Feminismus mit seiner Theorie vom goldenen Zeitalters des Matriarchats. Im Tiefsten war dies Studium Ausdruck meiner Sehnsucht nach der Mutterliebe Gottes, nach der göttlichen Gestalt der Hagia Sophia, doch das erkannte ich noch nicht, ich liebte zu sehr die Mythen von der Liebesgöttin, ja, ich betete sogar einmal ein Gebet zur Göttin Venus. Aber unmerklich wurde ich auch zum Sohn-Geliebten der Großen Göttin geführt, und wer ist das in der Theorie des neuheidnischen Feminismus? Es ist in Wahrheit der gehörnte Bock, der da ist Luzifer und Satan.
      In den drei Jahren meines neuheidnischen Götzendienstes lebte ich intensiv vom Studium zweier großer Dichter, nämlich Hölderlins und Rilkes. Hölderlin studierte ich bis in die Entwürfe und Manuskripte, sein Schwanken zwischen Dionysos und Christus brachte auch meine Suche zum Ausdruck, denn ich liebte die Antike, ich liebte die griechischen Götter, aber es war in mir auch ein Gedenken an Christus immer lebendig, wenn auch nicht gläubig, aber doch von Kindheit an vertraut war mir der Name und die Liebe Christi. So musste ich mich eines Tages entscheiden, ob ich die Göttin Isis oder dem Gottmenschen Jesus Christus nachfolgen wollte. Auch Rilkes makellos-schöne Lyrik hielt mir den Gedanken an die Engel, die Jungfrau Maria, die Propheten und Heiligen, Jesus Christus und den lieben Gott im Herzen und Geiste wach. Hölderlin und Rilke waren für mich mehr als nur außerordentliche Meister der deutschen Muttersprache, sie waren für mich spirituelle Führer auf dem spirituellen Weg eines Gottsuchers.
      Meine Liebe zu den griechischen Göttern wurde auch schön befriedigt durch die Renaissance-Poesie, vor allem der Brite Ben Jonson und Ariostos Rasender Roland führten mich ein in die Kunst der Renaissance. Ben Jonson stellte mir nun einerseits die Götterwelt der Antike vor, aber eben durchdrungen und geläutert von einem wahrhaft gläubigen christlichen Geist. Die reine Venus von Ben Jonson ist eben nicht die Ishtar der Heiden, sondern es ist gewissermaßen eine christliche Liebesgöttin. Der Orlando Furioso aber führte mich in die Ritterwelt und den Minnedienst des Mittelalters ein, hier geisterten in einem zauberhaften Märchenwald die alten Götter gemeinsam mit den Heiligen und der Jungfrau Maria des katholischen Glaubens. Ich war eben nicht Christ, aber ich war auch nicht reiner Heide, sondern ich feierte fröhlich den Synkretismus, die Mischung aus Christus und Dionysos, die Mischung aus Maria und Venus, die Mischung aus den Engeln und den Göttern.
      Tiefer führte mich dem wahren Christus aber die Lektüre Dostojewskis entgegen, vor allem der Idiot von Dostojewski, der reine Tor, Fürst Myschkin, malte mir den russischen Christus, den Christus der Erniedrigten und Beleidigten, den schönen Menschen vor die Augen der Seele. Dostojewski schenkte mir herzliche Liebe zu Christus wieder, die nicht über die Theorie vermittelt wurde, sondern durch die Sprache des Herzens, des Mitgefühls und der wahren Liebe.
      Ich suchte eigentlich Führung von oben, von den Himmlischen, von den Geistern, von den Engeln. Ich suchte prophetische Orakel in Pindars Weissagungen, ich suchte Texte der Wahrsagung, ich suchte divinatorische Mittel. So meditierte ich das Schafgarbeorakel des I Ging, indem ich fünfzig Schafgarbestengel nach einer gewissen Gesetzmäßigkeit von einer Hand in die andere ablas. Dabei stand ich am Ende meiner stillen Zeit vor zwei Menschen, vor Adam und vor Jesus. Ohne jemals von der Theologie gehört zu haben, die Jesus den Neuen Adam, den Letzten Adam nennt, habe ich es in meiner Stille erkannt, ich meine, mit Hilfe der Gnade, die mir in der Taufe eingegossen worden. Aber ich suchte dann auch die Tarot-Karten-Wahrsagung auf, und kam nur in eine innere Unruhe, in keine Gewissheit, keinen inneren Frieden. Immer häufiger musste ich die Karten befragen und bekam nur ungewisse Antworten. Dazu die Auslegung der Karten von verschiedensten Ideologien begleitet wurde. Schließlich bekannte der Ausleger der Tarot-Karten, die ich verwandte, dass er aus dem Geheimnis des Antichristen sei und die Zahl 666 auf ihn anzuwenden sei. Christus erlöse uns alle aus der Gewalt des Satans!
      Ich suchte dann Erkenntnis höherer Welten, geistiger Wesenheiten, die ich nach den poetischen Worten Hölderlins die Himmlischen nannte. Ich studierte den Okkultismus der Anthroposophie, den neuheidnischen Synkretismus. Hier wurde behauptet, dass das sogenannte Christus-Mysterium dasselbe sei wie das Isis-Mysterium. Christus sei Osiris und Maria sei Isis. Es fand in dieser Pseudo-Theosophie eine unglaubliche Religionsvermischung statt. Was hat aber Christus mit Belial gemein? Ich wollte aber nun wissen, was das Christus-Mysterium sei. Wer war Jesus und wer war Christus? War Christus der Christus-Sonnengeist? Gab es wirklich zwei Jesusknaben, von denen der eine die Reinkarnation Buddhas, der andere die Reinkarnation Zarathustras war? Wer war Jesus? Ist Christus gekreuzigt worden oder hat der Christus den Jesus vor der Kreuzigung verlassen? Warum hat Jesus sein Blut vergossen? Hat Jesus sein Blut in die Aura der Erde gegossen, um die Erde wieder mit der Sonne zu verschmelzen? Und Jahwe! (Heilig, heilig, heilig ist der Herr!) War Jahwe ein Mondgott mit sieben Elohim-Göttern? Da legte ich mir die Bibel zu und begann, im Neuen Testament zu lesen. Aber meine Stunde war noch nicht gekommen.
      In Oldenburg lernte ich eine Gruppe von Frauen kennen, die sich alle aus Berlin kannten und aufs Land ziehen wollten. Ich kam aus Ostfriesland und wollte in die Stadt, sie kamen aus Berlin und wollten aufs Land, so trafen wir uns in Oldenburg. Evi, als ich sie das erste Mal sah, schien mir die Inkarnation der Göttin der Mysterien und der Weisheit, ich kniete vor ihr und betete sie an. Don Juan lebte in einem Harem unter der Obhut des Ewigweiblichen.
      Wenn ich an meine damaligen Reisen zurückdenke, erscheint es mir, ich war eine Zeit lang in Mohammeds Paradies, wie es der Prophet denen verheißt, die sich bedingungslos dem Allbarmherzigen und Allweisen unterwerfen. Die Provence, die Weinberge am Ufer der Ardeche, schienen mir ein Garten der Venus, da Prozessionen des Dionysos hindurchzogen. Die schöpferische Fruchtbarkeit der Natur, die Herrlichkeit des Sternenhimmels, der Segen der Himmlischen, die Fülle von weißem Brot und rotem Wein, die Süßigkeit von Milch und Honig, die Gesänge von Sappho, Ben Jonson und Hölderlin und ein Wonneweib im Bett, das war der irdische Paradiesaufenthalt. Dann auf den Bergen des Herzens ausgesetzt zu sein und doch nicht allein, sondern unter dem hundertjährigen Hirten und seiner Herde zu wandeln, in der Hirtenhütte von Brot und Wein zu leben unter der Aufsicht der Madonna, auf den Spitzen der Gipfel zur Gottheit zu beten, zur Erhabenen Taube der Schönen Liebe, das war das irdische Paradies, da der Himmel liebevoll die Erde berührte in einer heiligen Hochzeit! In Polens freien Wäldern zu zelten, an dem Ufer der San an der Grenze zur Ukraine unter der Aufsicht des Adlers zu leben und die Geliebte und Schönheit in Person in einem Zelt zu meiner Seiten liegen zu sehen, das war der Himmel der Huris! Da sah ich Evi am Feuer sitzen in einem weißen Kleid, eine weiße Dame, eine Madonna!
      Ich war inzwischen zum Geisterseher geworden. In einer ländlichen Hütte im ostfriesischen Emden las ich ein Buch über die Große Mutter, eine Freundin studierte das Alte Testament, ich trat in der Nacht vor die Hütte, da sah ich an einem kleinen Kanal, den ich Lethe nannte, den Schatten Hölderlins. Er stand dort im schwarzen Anzug und lüftete den Hut und grüßte mich freundlich. Auf dem Gipfel der Pyrenäen in der Hirtenhütte sah ich am oberen Ende der Treppe Sappho stehen, die trug ein langes weißes Kleid mit einem goldenen Gürtel und hielt in den Händen eine goldene Harfe. Auf dem baskischen Friedhof zu Füßen der Pyrenäen sah ich meinen Schutzengel, der mit den Haupt bis in die Wolken reichte. An einem verborgenen Waldteich in Oldenburg saß mir gegenüber auf der anderen Seite des Teiches Marina Zwetajewa in einem rot- und blau-purpurnen Gewand und schaute mich liebevoll an. Auf dem Jüdischen Friedhof von Oldenburg vor der Weißen Kapelle sah ich in der Sylvesternacht des Jahres 1991 die Madonna in einem blauen Mantel und einem roten Kleid, sie segnete mich.
      Es reißt mich eben hin, etwas über die ernste Musik zu sagen. In meiner Kindheit liebte ich über alles den Weihnachtschoral: Tochter Zion, freue dich, jauchze laut, Jerusalem! Als ich dem freiwilligen Tode entgegenschritt, sang ich dieses Lied! Ich sagte schon, dass ich bei meinem Klavierspiel besonders das Notenbüchlein an Anna Magdalena Bach liebte, vor allem das Air. Ich habe mit meinen kommunistischen Jugendfreunden auf unseren kleinen ostfriesischen Parteitagen immer die Vier Jahreszeiten von Vivaldi gehört, es war so ganz das Jauchzen der Jugendvitalität. Ich hörte in meiner Jugend gerne die Mondscheinsonate und die Appassionata von Beethoven und die Neunte Symphonie mit der Ode an die Freude, dies hörte ich zur Wiedervereinigung Deutschlands. Als ich in poetischer Minne in Marion verliebt war, hörte ich die Winterreise von Schubert, diese stille Melancholie war mir sehr gemäß. Noch schwermütiger ergriff mich die Symphonie von Gustav Mahler, genannt das Lied von der Erde, nach Texten von Li Tai-Bo, dem Größten aller chinesischen Dichter. Es war dies die Trunkenheit der Schwermut, die nur genießen kann, wer dieses herben Wein bis auf den Grund getrunken hat. In innerer Zerrissenheit zwischen zwei Frauen, einer rein ideelen und einer sinnlichen Liebe, hörte ich die Klaviermusik von Schumann. Als meine Oma gestorben war, konnte ich eine Zeit lang nur noch Johann Sebastian Bach hören. Meine erste bewusste christliche Weihnacht nach meiner Bekehrung feierte ich mit dem Weihnachtsoratorium: Jauchzet, frohlocket! Die holdselige Baptistin Inka erfüllte mich mit einer süßen Schwärmerei, die ganz dem Ton der Zauberflöte Mozarts entsprach. Und als einmal die Fröhlichkeit einer neuen heiteren Minne unter den günstigen Bedingungen einer treuen Freundschaft über mich kam, in Evis Frühling, da jubelte ich Schuberts Lieder an die Schöne Müllerin! Aber über allem schwebt Schuberts Ave Maria! (Der evangelische Theologe Karl Barth sagte: Die Engel musizieren zur Ehre Gottes Johann Sebastian Bach und zur Freude der Engel Mozart, aber ich möchte hinzufügen, die Engel musizieren zur Wonne der Jungfrau Maria Franz Schubert.) Aber das war nur eine Abschweifung.
      Puschkins Gedichte habe ich erst sehr viel später in einer guten deutschen Nachdichtung erfasst, aber ich war tief beeindruckt von einer prosaischen Übersetzung des Eugen Onegin, denn seine Muse Tatjana war ganz das Ebenbild und die Schwester meiner Muse. Ich las mit meiner Freundin den Doktor Schiwago und liebte die unerreichbare Lara. Ich liebte die Orakel von Marina Zwetajewa und legte allerlei unter, sie inspirierte mich immer zu einer rein geistigen Liebe. Anna Achmatowas Poem ohne Held, dieses mystische Geraune einer Seherin, sprach mir wie die Stimme Gottes ins Gewissen. Alles pries die rein geistige Liebe, die Abwendung von der Sinnlichkeit, den Idealismus und die Hohe Minne.
Ich sah meine eigene Seele, meine Psyche oder Anima, in diesen poetischen Werken und identifizierte sie mit einem Mädchen, wie sie in meiner Erinnerung sich immer mehr verklärte. Ja, sie verklärte sich letztlich so sehr, dass sie dem Original in keiner Hinsicht mehr ähnlich sah und sich zuletzt in die Jungfrau Maria auflöste. Psychologen nennen das Anima-Projektion, da der Mann sein eigenes Unbewusstes in weiblicher Gestalt verkörpert sieht in Träumen, in Märchen und Gedichten, und diese weibliche Psyche auf eine lebendige Frau wie auf eine Leinwand projiziert. Darum ist es auch so tragisch, wenn diese Frau dann die Liebe nicht erwidert, es ist dann nämlich, als ob der Mann seine Seele verschenkt habe und diese ihm nicht zurückgeschenkt werde in der Gegenliebe, und dem Mann so die eigene Seele und damit der Sinn seines Lebens verloren gegangen ist. Solch ein Liebesunglück kann dann zum Selbstmord führen.
In meinen Träumen träumte ich von meiner Psyche, meiner inneren Weiblichkeit, die die Psychologen die Anima des Mannes nennen. Sie sah einem Mädchen ähnlich, aber sie wandelte auch wie eine himmlische Göttin Diana oder die Jungfrau Maria durch meine Seele, die war Donna Laura und Donna Beatrice aus Florenz, sie war eine Frühlingsgöttin, eine Weiße Dame und eine Fee Morgana, sie war eine jungfräuliche Lichtgestalt und sah aus, als wenn eine strahlende Sonne sich in einer reinen weißen Schneelandschaft widerspiegelt. Und diese Anima rief mich, sie rief mich hinan (Das Ewigweibliche zieht uns hinan!), hinan in einen Spiegelraum, hinan in ein Gartenparadies, hinan zu Gott! Es war die Anima, das Ewigweibliche in mir, die mich in inneren Träumen hinanzog zu Gott. Aber vielleicht kann man auch sagen: Es war die Himmelskönigin Maria, die mir in inneren Visionen begegnete und mich zu Christus und dem lebendigen Gott führte. Ich allerdings gab der inneren Frau damals nicht den Namen Maria, sondern hielt sie für ein ostfriesisches Mädchen.
Nun begann die Agonie meiner geliebten Großmutter. Im Sommer 1992 hörte ich sie mich eines Nachts rufen, ich dichtete ihr in jener Nacht eine Seligsprechung. Im September 1992 besuchte ich sie für sieben Tage allein in ihrem Haus. Wir waren ganz allein und sie erzählte mir von ihrer Kindheit auf Baltrum. Ich dichtete in den Nächten in ihrer Wohnung die große „Elegie um meine Muse“ von Ben Jonson nach, die Seligsprechung der Muse, Dame und keuschen Geliebten des großen christlichen Dichters, in der er ihren Eingang in die himmlische Welt Christi besang. Meine Großmutter kündete mir ihren nahe bevorstehenden Heimgang an. Mit Liebe entließ sie mich wieder in das Leben. Zu Sylvester 1992 sah ich sie noch einmal für einen Augenblick, aber ich war mir meiner tiefen Sündhaftigkeit so bewusst, dass ich die Nähe dieser meiner wahren Mutter kaum ertragen konnte in dem Augenblick, da sie schon an die Pforte des Himmels anklopfte. Ich war erbärmlich und wie vernichtet. Im Januar 1993 hörte ich vor einer pietistischen Gemeinde eine alte Dame sagen: Ich denke in letzter Zeit so oft an den Tod! In jener Nacht sah ich in Oldenburg den Mond so riesengroß und so nah an der Erde, als ob ich den Himmel offen sähe, im gleichen Augenblick hörte ich den Todesruf eines Uhus, prophetischer Vogel! Daraufhin fuhr ich wieder nach Hage in Ostfriesland, musste aber auf dem Weg umkehren. In Oldenburg wieder angekommen erreichte mich die Nachricht von der Erlösung meiner Großmutter. Sie hatte kurz vor ihrem Sterben gesagt: „Ist das Torsten, der da singt?“ In meiner jähen Verzweiflung schlug ich das Neue Testament auf und las: „Denn er selbst, der Herr, wird, wenn der Befehl ertönt, wenn die Stimme des Erzengels und die Posaune Gottes erschallen, herabkommen vom Himmel, und zuerst werden die Toten, die in Christus gestorben sind, auferstehen. Danach werden wir, die wir leben und übrig bleiben, zugleich mit ihnen entrückt in die Luft, dem Herrn entgegen; und so werden wir bei dem Herrn sein allezeit. So tröstet euch mit diesen Worten untereinander.“ (Paulus’ Erster Brief an die Thessalonicher 5, 16-18)



DRITTES KAPITEL

„Ich zählte etwa zwölf Jahre, als die Mutter verstarb. Ich begriff, was ich verloren hatte, und so kniete ich in meiner Traurigkeit vor einer Statue der Mutter Gottes nieder und bat sie unter Tränen, von nun an meine Mutter zu sein. Ich glaube, dass diese vielleicht einfältig anmutende Bitte mir viel geholfen hat, denn immer wieder, auch später, habe ich die Jungfrau gefunden, wenn ich mich ihr anvertraute. Sie hat mich darüber hinaus zu sich zurückgeführt.“
(Heilige Teresa von Avila)

In der Nacht vor dem Begräbnis meiner Großmutter saß ich in ihrer Wohnung und trauerte um sie. Ich fand in ihrem Bücherschrank ein Heft über eine evangelische Diakonin namens Mutter Eva. Darin erzählte Mutter Eva, dass sie in allen Trübsalen ihres Lebens immer Trost gefunden habe in der Wendung der Psalmen: „Aber du, Herr!“ Als ich das las, da betete ich auch: Aber du, Herr! Plötzlich spürte ich eine geistige Gegenwart in dem Zimmer, ich wunderte mich noch, dass ein so heiliger und reiner Geist es nicht verschmähte, in diesen von Rauch erfüllten Raum zu kommen, da wusste ich plötzlich, dass Christus vor mir stand! Ich kann es nicht erklären, wie, ich sah ihn nicht, ich hörte ihn nicht, aber ich wusste mit Gewissheit, dass Christus vor mir stand! Da fiel ich auf mein Angesicht zu Boden und betete Gott an, und es war, als zöge in mich der Heilige Geist ein und betete in mir Gott an, den Gott der Allmacht, den Gott der Weisheit, den Gott der Liebe! Ich erhob mich von meinem Gebet und war Christ! Ich glaubte an den lebendigen Christus, ich wusste, dass Jesus lebt, ich glaubte an den lebendigen Gott, den allmächtigen und allwissenden Gott, der mich liebt!
      Auf der Begräbnisfeier meiner Großmutter sprach der Pfarrer, meine Oma hätte sich bei ihm das Tedeum gewünscht. Als wir nun sangen: Großer Gott, wir loben dich! Da war es mir, als sänge meine Großmutter mit und als sänge sie es mir vor, damit ich ihr geistiges Testament verstünde und empfange, ich solle fortan rein zum Lobe Gottes leben!
      Das war am fünfundzwanzigsten Januar Neunzehnhundertdreiundneunzig.
      Gott nahm mich nun in die Zucht des Gesetzes. Ich vertiefte mich in die fünf Bücher Moses und erkannte den wunderbaren Arm des rettenden Gottes, ja, es war auch mein Exodus, ich zog aus Ägypten aus, aus dem Ägypten der Katzengöttin Isis und des hundeköpfigen Totengottes, ich zog aus der Sklaverei der Sünde aus und ließ mich von Gott führen zum Berg Gottes, dass der Herr mir dort sein Gesetz offenbare, damit ich lebe nach den Weisungen Gottes und so dass ewige Leben erbe. In meiner subjektiven Wahrnehmung der Mosesbücher spielte die Prophetin Mirjam eine herausragende Rolle. Nicht allein, dass sie als Schwester des kleinen Moses seine Rettung durch die ägyptische Prinzessin beobachtete, sondern sie sorgte auch dafür, dass Moses eine Amme fände und gestillt würde. Nicht allein Aaron war Moses zugesellt als Prophet, sondern auch Mirjam war eine Prophetin, zu der Gott in Träumen und Visionen sprach. Sie war Mirjam Prophetissa. Sie war auch die Paukenschlägerin, die das Lied des Moses mit den Töchtern Israels sang, die große Siegeshymne der Befreiung! Als Gott Mirjam mit Aussatz schlug, wartete das ganze Volk der Kinder Israel sieben Tage, bis Mirjam wieder aufgenommen wurde, denn ohne Mirjam zogen die Kinder Israel nicht weiter. Ich begleitete Mirjam auch noch zu dem Berg ihres Heimgangs in die Versammlung der Ahnen. Mirjam war Maria, deren Liebe ich in den Büchern Moses von Gott empfing.
      Ostern beging ich in Köln, noch mit meinen heidnischen Freundinnen, aber dort verließ ich sie auch und begab mich in die absolute Einsamkeit, ich wandte mich von allem ab, was irdisch, weltlich und fleischlich war, um Gott allein zu lieben, Gott in seinem Wort zu suchen. In Köln am Rhein erfuhr ich in mir die Auferstehung Christi, ich phantasierte von drei Meermädchen auf dem Vater Rhein, das waren die drei Marien, die zum Grabe Christi eilten wie in einem mittelalterlichen Mysterienspiel, und sahen, dass das Grab Christi leer war, denn er ist nicht bei den Toten, sondern er ist wahrhaftig auferstanden! Da goß der Heilige Geist mir die Liebe zu Maria Magdalena ein. Ich stand im ersten Ostern meines bewussten Christseins vor dem Dom von Köln.
      Zu Corpus Christi des Jahres suchte ich meine Jugendliebe auf, die inzwischen im Teuteburger Wald lebte, nahe dem Marienwallfahrtsort Herford in einem kleinen Dorf namens Heiligenkirchen zu Füßen des Denkmals Hermanns des Cheruskers, in der Nähe der Kultstätte der Externsteine. Ich wollte noch einmal in ihre Augen schauen. Es war, als unternähme ich eine Wallfahrt zur Madonna, zur heiligen Maria vom Walde. Ich ließ mich führen von den Orakeln Goethes in seinem Zweiten Faust. Ich las die großen Hymnen an die Mater Gloriosa, und ich meinte, nun in Marion die leibhaftige Mater Gloriosa zu schauen. Als ich in der Nacht in Heiligenkirchen ankam, kam mir Marion entgegen, stand vor mir in der dunklen Nacht im Teuteburger Walde in einem langen weißen Seidenkleid, die langen kastanienbraunen Locken fielen ihr auf die Schulter, mit großen Augen wie Doppelmonden schaute sie mich an und nahm mich in die Arme. Ich übernachtete in einem Zelt auf einer Waldlichtung und wurde am Morgen von den Röhren eines Hirsches geweckt, und da ich die Augen auftat, sah ich zwei Rehzwillinge, Kitze einer Hindin, neben mir stehen. Über mir rauschte die weiße Taube der Liebe auf. Ich traf mich mit Marion und wir fuhren zu den Externsteinen. Diese waren in heidnisch-germanischer Zeit eine Kultstelle der Sonnenanbetung, heute treffen sich auch linke und rechte Neuheiden wieder an dieser Kultstätte. Aber in christlicher Zeit wurde die Kultstätte zu einem Passionsmysterium umgestaltet, da die Kreuzabnahme Christi durch Maria Magdalena und Josef von Arimathia dargestellt war und die Grabeshöhle Christi gezeigt wurde. Maria Magdalena und Josef von Arimathia, die Jesus vom Kreuz abnahmen, das waren Josef und Maria, das war das keusche Paar einer christlichen Minne, die sich liebten im Zeichen Christi. Dann kehrte ich wieder in meine Oldenburger Einsiedelei zurück, voller Liebe, Glaube und Hoffnung.
      Aber inzwischen hatte mich auch die evangelische Armut erfasst, und ich hatte kein Geld mehr und nichts zu essen. Ich las gerade eine Lebensbeschreibung der seligen Agnes von Böhmen, einer Nonne aus dem Orden der heiligen Klara, der mystischen Weggenossin des heiligen Franziskus. Die selige Agnes sprach von dem Lob der evangelischen Armut und von dem Vertrauen, alles von der Vorsehung Gottes zu erwarten. Mein Vater hatte mir einen kostbaren Lammfellmantel geschenkt mit goldenen Knöpfen, aber ich fühlte mich nicht würdig, ein weißes Lammfell zu tragen. Ich verschenkte den kostbaren Mantel an die Caritas und legte mir einen gebrauchten braunen Ledermantel zu, das war meine Kutte der evangelischen Armut. Dann ging ich zur Universität und bettelte vor den Studenten um etwas Geld für ein Mittagsessen. Drei Monate war ich ohne Einkommen und die Vorsehung Gottes versorgte mich mit allem Notwendigen, ja, sogar mit dem Unnützen wie dem von mir so geliebten Tabak.
      Alle meine poetischen Schriften häufte ich auf einer Wiese auf und entzündete ein Feuer, ich verbrannte alles, was ich zur Ehre der falschen Götter geschrieben, alles, was die freie Liebe verherrlicht. Ich wollte ganz neu beginnen, als Dichter zu Christi Ruhm zu schreiben.
      Nun begann ich das Studium christlicher Literatur. Es scheint zufällig, was ich als erstes las, und doch ist es Führung durch Gottes Geist gewesen. Zuerst studierte ich die Göttliche Komödie von Dante. Dantes Lehrstuhl lehrte mich, der Weg des Menschen sei ein Weg durch die Hölle, durch das Reinigungsfeuer bis ins Paradies zur Schau der dreifaltigen Liebe. Dabei wird der Mann von der Frau Weisheit geführt. Zur letzten Schau Gottes geführt zu werden, braucht der Mann die Fürsprache der Jungfrau Maria, die dem Thron Gottes am nächsten steht. Dann las ich den ganzen Messias von Klopstock, der das Evangelium des gekreuzigten und auferstandenen Christus in seraphischer Poesie verherrlicht. Nun las ich die Bekenntnisse des heiligen Augustinus, die nicht nur voll sind von Buße über Sünde und Götzendienst, sondern auch voll der Erkenntnis des wahren Gottes, des Herrn. Dann las ich das Leben unseres armen Herrn und Heilandes Jesus Christus von Anna Katharina Emmerich. Diese katholische Selige hatte Visionen vom Leben Jesu, die von Clemens Brentano aufgezeichnet worden sind. Es war die Weihnachtszeit, da ich die Visionen von der lichtvollen Geburt des göttlichen Kindes aus der reinen Jungfrau las und gewissermaßen schaute. Dann begann ich das Buch Von der Gnadenwahl von Jakob Böhme zu lesen, das mit einer Entfaltung der Lehre der Dreieinigkeit Gottes beginnt. Es war mir diese mystische Theosophie aber zu hoch, ich konnte sie noch nicht begreifen. Ich warte noch heute auf die Stunde der Erleuchtung, dass ich Jakob Böhme erfassen kann. Dann las ich frühchristliche Apokryphen und begann nun selbst christlich zu dichten. Als erstes dichtete ich ein Poem vom Heimgang der seligen Jungfrau Maria nach einem apokryphen Text, der einem Jünger des Apostels Johannes zugeschrieben wird. Dann dichtete ich die apokryphe Erzählung über Thekla nach. Diese frühchristliche Heilige lebte in Ikonium und hörte die Predigt des Apostels Paulus und entschloß sich, jungfräulich als Braut Christi zu leben, wofür sie mit dem Leben bezahlte als Märtyrerin der Jungfräulichkeit.
Die Jungfräulichkeit und Keuschheit war mein Ideal. Ich wusste inzwischen durch die Lektüre der Paulusbriefe, dass ich nicht zur Unzucht der freien Liebe bestimmt sein konnte, ich suchte die Keuschheit, ich ehrte die Jungfräulichkeit als Lebensweise der Ganzhingabe an den Bräutigam Christus, aber ich wusste nicht, dass ich zur Jungfräulichkeit berufen sei.
      Inzwischen verwirrte sich mein Geist. Durch den Verlust meiner Großmutter in dem mütterlich-liebenden Fundament meines Lebens erschüttert, als sei die Wurzel meines Lebens ausgerissen, flüchtete ich mich vor den Schmerzen in eine Phantasie- und Traumwelt. Der okkulte Hellsehergeist ließ mich nicht, und ich begann, Stimmen zu hören, die mir absonderliche Befehle gaben. Was war die Ursache meines eintretenden Wahnsinns? War mein Wahnsinn eine Flucht vor der Totentrauer? War es eine Erschütterung durch die Begegnung mit dem allerheiligsten Gott? War es ein Werk Satans, aus dessen Fesseln ich befreit worden, aber der sein Opfer nicht lassen wollte? Ich weiß es nicht.
      Ich las in der Bibel, dass eine Stimme, die Stimme eines Engels, hinter mir ertönen werde, die mich lenken würde, den Weg nach rechts oder nach links einzuschlagen. Ich ging eines Tages in der Weihnachtszeit in die Innenstadt von Oldenburg und hörte nun eine gebietende Stimme, die ich für die Stimme eines Engels hielt, die gebot mir, rechts herum zu gehen, dann wieder links herum. So kam es, dass ich im Frost des Winters um einen Laternenpfahl immer im Kreis ging, einige Male rechts herum, wobei ich bei jedem Schritt betete: Gott Israels! Dann einige Male links herum, wobei ich betete: Herr Zebaoth! Das nahm aber kein Ende, ich kreiste so den ganzen Tag und die ganze Nacht um den Laternenpfahl herum. Am nächsten Morgen waren alle meine Gliedmaßen steifgefroren, ich humpelte zum Café im Bahnhofsgebäude und trank einen Tee und aß ein Brot. Dabei gebot mir die Stimme, das Brot zu teilen, wie eine Hostie, und das Geteilte wieder zu teilen, bis ich schließlich nur noch Krümel auf dem Teller liegen hatte. Dabei hörte ich Chöre von Engeln in meinem Hirn Halleluja und Hosianna singen.
      Dann trat eines Nachts mein Vermieter, ein Okkultist, in mein Zimmer, bestreute mich mit Tabakasche, lästerte Christus als Abgott und Schwächling, und jagte seinen schwarzen Hund auf mich, der den Namen eines indischen Götzen trug. Er warf mich aus meiner Wohnung. So verlor ich über Nacht all meinen Besitz, alles, was ich mitnehmen konnte, war das Neue Testament. Ich wanderte durch die Nacht, bis ich am Morgen meinen Bruder aufsuchte. Seine Frau wickelte gerade ihr erstgeborenes Kind in Windeln. Es war mein Auszug die Flucht der heiligen Familie nach Ägypten gewesen. Es war die Szene im Haus meines Bruders eine lebendige Krippenszene. Meine Eltern nahmen mich vorübergehend auf, bis ich im neuen Jahr eine Wohnung im ostfriesischen Norden am Schwanenteich beziehen konnte. Dort verlebte ich den blühenden Wahnsinn meiner Psychose.
      In der Osterzeit fand ich in meiner Bibel die Texte der Weisheit, da mir besonders liebenswürdig die Gestalt der göttlichen Weisheit im vierundzwanzigsten Kapitel des Buches Jesus Sirach entgegenschwebte wie eine christliche Göttin aus dem Munde des Allerhöchsten vom Himmel herabkommend! Nun wusste ich nicht von der Theologie der Hagia Sophia, aber mir schien diese Frau Weisheit die Jungfrau Maria zu sein, und so besang ich die Maria-Sophia des Jesus Sirach wie eine christkatholische Göttin.
      Ich ging oft am Schwanenteich spazieren, da ich die schwarzen Trauerschwäne vor allem liebte. In meiner Schwermut, ja geistigen Umnachtung, zog es mich nicht so sehr hin zu dem strahlenden Weiß der Höckerschwäne, als vielmehr zu dem elegischen Schwarz der Trauerschwäne. Sie schienen mir auch ein Symbol meines Seelenzustandes. In der Tiefenpsychologie wird auch die Natur von der Seele des Menschen beseelt und so wird die Natur selbst zu einem Ausdruck und Spiegel der menschlichen Seele. Meine Seele sah einem schwarzen Trauerschwan gleich.
      Zu Ostern besuchte ich noch einmal meine Jugendliebe in Heiligenkirchen. Ich hatte wie der Richter Gideon gebetet zu Gott, der Sonne zu befehlen, still zu stehen über dem Tal Ajalon. Aber Gott erhörte meine Gebete ganz anders in seinem unergründlichen Ratschluß. Denn auf dem Weg kam ich in stürzende Regengüsse und wurde umzückt von flammenden Blitzen, da ich zum Messias schrie um Rettung vor dem Blitzstrahl, ich übernachtete in einer Hütte unter strömendem Regen und kam am Morgen auch noch in einen Hagelschlag von harten weißen Körnern des Gerichts. Da trat Marion aus dem Haus und sagte mir mit gnadenlos-bösen Worten, sie wolle mich nie wieder sehen! Ich pilgerte voller Schmerzverzweiflung zu den Externsteinen, zum Kreuz Christi, zum Heiligen Grab, und schrie: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen! Dann begab ich mich wieder in meine ostfriesische Einsiedelei, wobei auf dem Heimweg das schönste Frühlingswetter war und eine heitere Sonne am Himmel mich liebkoste. So macht Gott das Wetter zum Zeichen.
      Nachdem ich meine Großmutter verloren hatte und nun auch noch meine Jugendliebe verloren hatte, war ich absolut einsam auf der Erde und ohne Liebe. Ich hatte meine Seele ganz hingegeben und verströmt, aber sie war mir nicht zurückgeschenkt worden, sondern böse Minnefeindschaft hatte mich zerschmettert. Da stieg in mir der Gedanke an den Selbstmord auf. Ich dachte, wenn ich mich selbst erlösen würde durch einen freiwilligen Tod, selbst erlösen würde von diesen Lebensschmerzen, die mir unerträglich erschienen, so gäbe Gott mir wohl Gelegenheit, im Fegefeuer die Sünde des Selbstmords zu büßen. Da kaufte ich mir ein Messer, um mir selbst das Leben zu nehmen. Aber ich sah immer Menschen auf der Straße mit verbundenen Armen, und in meinem Innern klang der Reim: Gefunden und verbunden! Gefunden und verbunden! So dass ich dachte, ich würde nicht sterben, sondern gerettet werden. Das schien mir aber ein unerträgliches Unglück zu sein. Diesen Reim nutzte der Satan, der Menschenmörder von Anfang, später aus, indem er mir die Bibel aufschlug.
      Ich dachte nie darüber nach, ob ich evangelisch oder katholisch sei, es existierte dieser Unterschied für mich gar nicht, er trat nicht im geringsten in mein Bewusstsein. Es gab für mich nur die Urgemeinde des Evangeliums. Eines Tages kam ich an der katholischen Ludger-Kirche vorüber, da gerade die Messe begann, so nahm ich daran teil und feierte meine erste Heilige Messe und meine heilige Erstkommunion. Der Priester erhob die Hostie und sprach zur Gemeinde: Kostet und seht, wie freundlich der Herr ist! Da schmeckte ich die Liebe des Herrn. Und als ich aus der Kirche trat, war mir zumute, als schwebte ich einen Meter über dem Boden, ich war so verzückt von der himmlischen Speise, dass ich mich selbst verwandelt fühlte in ein überirdisches Wesen. Ich habe diese Verzückung meiner Erstkommunion nie vergessen. Desgleichen habe ich später nie, weder bei einem lutherischen noch bei einem calvinistischen Abendmahl gespürt, so dass mir die Hostie der Eucharistiefeier im Innern immer heilig blieb.
      Am fünften Mai geschah es mir, dass ich mein Bewusstsein verlor und, während mein Körper auf dem Sofa liegen blieb, im Geist eine Reise in den Himmel antrat. Da kam ich durch Scharen von Seligen und himmlischen Geister, die alle wie wohltätige Schatten im Himmel sich bewegten. Ich wusste aber nicht den Weg zum höchsten Ziel, da trat unsichtbar mein Schutzengel zu mir und sagte mir seinen Namen, Mahanajim, und sprach zu mir: Halte dich nur immer am Namen des Messias fest! Dann führte mein Schutzengel Mahanajim mich zur Himmelstür, die dunkel und verschlossen war, aber als ich eben davor stand, öffnete sich die Himmelstür, und ich sah durch einen Spalt das unzugängliche Licht, in dem Gott wohnt. Die Tür öffnete sich weiter und ich sah in dem unzugänglichen Licht, in dem Gott wohnt, das Antlitz Christi, das Heilige Antlitz des gekreuzigten Christus! Dann kehrte ich, wie aus dem Weltall der Erde wieder entgegenschwebend, in meinen Körper zurück.
      Als ich wieder mich auf der Erde in meinem Körper befand, war mein Schutzengel bei mir in meiner Wohnung. Es war aber eher eine Schutzengelin, die ich wie meine himmlische Schwester liebte, meine Himmelsschwester Mahanajim. Sie erschien mir in der Größe eines Menschen, mit langen goldenen Locken, einem lieblich-schönen, feminin-zärtlich lächelnden Antlitz voller Güte, ein langes weißes Lichtgewand tragend, das wie weiße Seide aus Licht an ihr hinunterfloß, an Stelle der Arme rauschte es wie große weiße Flügel, unter denen sich doch Hände befanden, die einmal ein goldenes Schwert in der Hand hielten, ein anderes Mal schwörend die Hand auf die Heilige Schrift legte. Um die Lenden war sie gegürtet wie mit einem Hauch seraphischer Glut. Als sie mich verließ, hörte ich in meinem Innern die milde Stimme meiner himmlischen Schwester: Wir sehen uns im Himmel wieder! Von da an wandte ich meine Liebe meiner Himmelsschwester, meiner Schutzengelin Mahanjim zu.
      Ich fühlte mich aber plötzlich ganz sonderbar wie ein Chinese. Ich tauchte mit meiner Phantasie ganz in das China der Literatur ein. Ich las den Jugendroman namens Der Traum der Roten Kammer, ich las die Lyrik des Buches der Lieder aus den Jahr Tausend vor Christus, ich las die Lyrik der Tang-Dynastie, vor allem Du Fu und Li Tai-Bo, ich las das Tao Te King (Wen der Himmel retten will, den rettet er durch Liebe!), ich las das Wahre Buch vom Südlichen Blütenland von Dschuang Dse und die Gespräche des Konfuzius. In den Wolken sah ich die Zeichen des I Ging und versuchte die Sprache der Wolken mit Hilfe des I Ging zu deutschen. In meiner Poesie versetzte ich mich auch nach China und verpflanzte das von mir so überaus geliebte erste Buch Samuels von der bedrängten Jugend Davids mit poetischer Phantasie nach China. Mit einer überschäumenden Phantasie verwandelte ich mein ganzes Leben in das Leben eines Chinesen zur Blütenzeit der Poesie.
      Aber ich las auch gerne die englischen Dichter. Lord Byron gab mir vor allem den Lebensgenuß, in seinem Childe Harold sah ich zum ersten Mal die Schönheit der Huris, in die ich mich unsterblich verliebte. In seinem Don Juan kam ich gar mit Don Juan selbst in solch einen islamischen Harems-Himmel. John Milton allerdings entrückte mich in den Garten Eden, da ich die göttliche Schönheit der Eva sah! Edmund Spenser entführte mich mit seiner Fairy Queene aber dagegen in die Hölle, da ich die Dame Luzifera sah! Ich lebte immer weniger auf der Erde, die Erde war nur ein Blütentraum von China vor zweitausend Jahren. Ich lebte mit einem Bein in Paradiesvisionen und mit dem andern Bein in der Hölle. Ich war wirklich ausgespannt auf dem Kreuz der Erde, auseinander gerissen zwischen Himmel und Hölle!
      Ich las noch einmal in den Bekenntnissen des heiligen Augustinus, vor allem den Schluß, da er die Schöpfungsgeschichte der Genesis geistlich deutete auf das Himmelreich Christi. Da erkannte ich und diese Erkenntnis sollte mich nicht mehr verlassen, dass der Schöpfungsbericht nicht naturwissenschaftlich zu deuten ist, sondern geistlich interpretiert werden will auf Christus hin.
Es fügte sich auch, dass mir die Vita des Seligen Heinrich Seuse in die Hände kam, die ich aus dem Mittelhochdeutschen streckenweise ins Hochdeutsche übertrug. Da sah ich ihn in einer Verzückung, da sah ich ihn hören die Texte der Ewigen Weisheit aus dem Alten Testament, so schön, dass er sich verliebte in höfischer Minne in diese göttliche Frau Weisheit. Er diente Frau Weisheit in hoher Minne, er betete sie an als seine Herrin und Gottheit! Dann erkannte er in der göttlichen Frau Weisheit plötzlich den gekreuzigten Christus und erkannte die Notwendigkeit, dem Gekreuzigten gleichgestaltet zu werden und mitgekreuzigt zu werden mit Christus. Eben diese Frömmigkeit sollte später, als ich Katholik geworden, der Haupt- und Grundzug meiner Spiritualität werden.
Mein erstes Buch über Maria beschrieb das Marienleben nach den Evangelien und den Apokryphen und kam dann zu sprechen auf die Herzverwundung der heiligen Teresa von Avila durch den Feuerpfeil eines Engels, durch den Feuerpfeil der Liebe Christi! Diese unerträglichen Schmerzen der Herzverwundung rissen Teresa aber hin zu der höchsten Verzückung! Ich ahnte, dass ich selbst in dieser Zeit etwas ähnliches erlebte, eine Herzverwundung durch den gekreuzigten Christus! Dann pries das Marienbuch die Erscheinung der Mutter des einzig-wahren Gottes und immerwährenden Jungfrau Maria vor dem Indianer Juan Diego. Es ist sehr bedeutsam, dass mit diesem Marienbuch zwei Samenkörner des Himmelreichs in mich gesät worden sind, die später mehr und mehr aufblühen sollten, nämlich die Spiritualität des Karmel-Ordens und die Verehrung der allerheiligsten Ikone der Jungfrau von Guadelupe als meiner ewigen Geliebten! Inspiriert von diesem Marienbuch schrieb ich ein Poem der Liebe zu Maria, die ich als Immaculata besang, wie ich mich später in Lourdes der Immaculata verloben sollte, und als Maria Sulamith, wie ich später als Dichter Maria immer wieder besingen würde mit den poetischen Worten des Hohenliedes Salomos, denn Maria ist die Sulamith des neuen und ewigen Bundes!
Ich nahm noch einmal an einer Heiligen Messe teil, da ich in mir die Stimme Christi hörte: Ich will dir einen neuen Namen geben! Da bildete sich in meinem Geist aus dem heidnischen Namen Torsten der Name meines Christseins Peter Torstein. Sankt Petrus war mein Patron, ich liebte ihn wie einen Vater. Der Name Torsten bedeutet ja Steinhammer des Donnergottes Thor, aber die Thor-Heiligtümer der Germanen sind in der Christianisierung Germaniens von den Aposteln auf Petrus umgeweiht worden. Torsten Namenstag ist übrigens, wie ich später erfuhr, am 22. Februar, an Petri Stuhlfeier, da Petrus Ex Cathedra das Dogma der Wahrheit verkündet. Petrus steht ja der Überlieferung nach auch am Himmelstor. Sein Name bedeutet Fels, oder auch Stein. Petrus schrieb in seinem Brief, die Christen seien lebendige Steine im Haus Christi. So bedeutete als mein neuer Name Tor-Stein das Himmelstor und den Eckstein, der Christus ist. Nun bedeutete mir das Schriftwort etwas: Du bist ja nach dem Namen des Herrn genannt.
In meinen Träumen sah ich oft die Jungfrau Maria, die mich immer unglaublich liebevoll tröstete wie eine Mutter und wie eine himmlische Freundin. Sie war wirklich die Trösterin der Betrübten, ja, mehr noch, die Trösterin der Heimgesuchten, der Desolaten! Ich träumte auch einmal, wie ich durch eine Sphäre von Feuer hindurch hinaufgerissen wurde und an der Brust der heiligen Magdalena getröstet wurde. Sankt Maria Magdalena stand mir auch bei wie eine lebendige Freundin im Himmel, wie eine Schwester in Christus. Ich pries ihr Leben in einem Poem nach der Goldenen Legende. Ich pries sie als die mystische Geliebte Christi, und ich sollte sie in meinem Leben noch oft besingen.
(...)
Vorausgreifend will ich folgendes sagen. Drei Jahre später war ich auf einer evangelischen Konferenz, da wurde die Ikone des Heiligsten Angesichts Christi des Gekreuzigten gezeigt als das wahre Antlitz des wahren Gottes, da wurde der Vers aus dem Propheten Hesekiel gepredigt: „Ich aber ging an dir vorüber und sah dich in deinem Blut liegen und sprach zu dir, als du so in deinem Blut dalagst: Du sollst leben! Ja, zu dir sprach ich, als du so in deinem Blut dalagst: Du sollst leben und heranwachsen: wie eine Lilie auf dem Felde mach ich dich!“ Das war Christi Wort an mich, über meinen damaligen Selbstmordversuch. Ein Jahr später hörte ich einen chinesischen Propheten evangelisch-charismatischer Richtung, er sprach: Und damals wollte der Feind dich ermorden! Aber der Heilige Geist beschloss, es war noch nicht die Zeit deines Todes, und der Heilige Geist führte dich heraus! Ja, und zehn Jahre später las ich ein Wort der Gottesmutter Maria an ein Seherkind von Fatima: „Du aber bleibst noch einige Zeit hier. Jesus möchte sich deiner bedienen, damit die Menschen mich erkennen und lieben.“ Dies Wort gab mir dann auch den Sinn meines Überlebens an.
Ich kam in die Psychiatrie. Der Psychiater fragte, ob ich mir noch einmal das Leben nehmen wolle. Ich sagte: Gott will, dass ich noch leben, ich will solange leben, wie Gott es will.
Meine frühere Freundin Karine erneuerte die Freundschaft, indem sie mir auf meine Bitte hin ein Bild der Sixtinischen Madonna schenkte, dass meiner Vision in jener gefährlichen Nacht glich. Von da an verehrte ich allezeit die Sixtinische Madonna, auch als Protestant.
Ein evangelischer Pastor der Sankt-Ansgari-Kirche, meiner Taufkirche, ermutigte mich, mich der Weisheit Christi auszuliefern, denn Christus habe den Ärzten Weisheit geschenkt, zu heilen. Ich verbrachte ein halbes Jahr in der Psychiatrie, in einem Dämmerzustand, und dichtete als eine Art Gebet um Heilung das erste Buch Samuel von den Leiden Davids in Strophen nach. Dieses Poem ist kein Kunstwerk, es ist der Schrei einer gequälten Seele aus der Tiefe, ein Exorzismus, ein Gebet um Heilung vom Wahnsinn. David spielte mir mit seiner Harfe vor und heilte mich von dem bösen Geist, den Gott mir zur Strafe meiner Sünden geschickt. Aber Gott schlägt uns Wunden, aber er heilt uns auch wieder. Mein Heiland heilte mich von meinem Wahnsinn! Heilig, heilig, heilig bist du, Jehowah Zebaoth!
Nach der Entlassung aus der Psychiatrie galt ich als geheilt. Die Hölle hatte sich geschlossen, aber, ach, der Himmel auch. Ich fand mich wieder auf der platten, nüchternen, öden Erde. Ich wohnte bei einer alten krebskranken Frau und ging täglich auf dem nahegelegenen Friedhof spazieren. Manchmal nahm mich mein einziger Freund Enno zu einem längeren Spaziergang an die Nordsee mit.
Ich hatte mit meinen Halluzinationen auch die Marien- und Heiligenverehrung verloren und den Glauben an das Wunder des heiligen Messopfers. Es schien mir dies alles mehr einer kranken Phantasie als einem wirklichen Himmelreich entsprungen zu sein. Nur der Verstand wollte noch Christus erkennen, der rationale Verstand eines Mannes. So nahm ich ein Jahr lang Glaubensunterricht bei einem evangelikalen Pastoren, der mir die Grundlagen des fundamentalistischen Glaubensbekenntnisses didaktisch beibrachte. Später wechselte ich aus der engen Freikirche zur liberaleren lutherischen Gemeinde über, da der evangelische Pastor mir die lutherischen Heiligen Luther und Melanchthon als Meister und Freunde vorstellte.
Meine einzige tiefere geistige Speise war ein Buch mit Texten der deutschen Mystik. Ich las Texte von Heinrich Seuse, Meister Eckard, Johannes Tauler, Hildegard von Bingen und Mechthild von Magdeburg. Und besonders die Liebespoesie der gottseligen Mechthild von Magdeburg begeisterte mich.
Sagte ich: Begeisterte mich? Ach, es war keine Begeisterung in mir, es war der Geist und die Inspiration von mir gewichen, und in gewissem Sinne das Leben selbst. Ich lebte wie im Staub ein Wurm, die nackte Existenz. Es war die Grabesruhe Christi, sie währte drei Jahre.
Kaum konnte mich Venedig erregen. In einer Reisegruppe machte ich Urlaub im Südtirol und sah einen Tag die Zauberstadt. Ja, ich saß in dem schwarzen Schwan einer Gondel und sah Maria della Miracoli, ich sah Maria della Salute und San Marco. Aber alles erfuhr ich mit einer inneren Freudlosigkeit einer verödeten Seele.
Ich war auf der kanarischen Insel La Palma, ich sah die Santa Maria von Columbus, ich sah die Kirche El Salvator von La Cruz, ich sah auf der Bergesspitze die Kapelle Unserer Lieben Frau vom Schnee und stand am Rand des Vulkans des heiligen Antonius. Und mir wäre zumute gewesen, wie Empedokles, meine Schuhe auszuziehen und mich in den Krater zu stürzen.
Ich las nun viel. Ich las auf La Palma den Don Quichote und in Venedig die Brüder Karamasow, in meiner alten Totenkammer las ich die Gesammelten Werke von Thomas Mann. Ich las den ganzen Shakespeare in der Übersetzung von Wieland. Zuletzt kam ein Herbst, der wie der Tod selbst aussah, ein kranker Nebel schlich mit kranker Schwermut und ekelhafter Bitterkeit der schwarzen Melancholie um die nackten Skelette der toten Bäume. Da besuchten mich meine beiden Freundinnen Evi und Karine aus Oldenburg. Ich schöpfte Hoffnung. Ich wollte nach Oldenburg ziehen. Norden, das war, wie Rilke von Paris geschrieben: Hierher also kommen die Leute um zu leben? Ich meine, es stürbe sich hier eher. Norden war der Friedhof meines Lebens. Aber Christus schenkte mir die Auferstehung und ein neues Pfingsten. Evi und Karine hatten mich wie zwei Marien in meine Auferweckung, in meine Erweckung geführt.
Ich zog also nach Oldenburg und wohnte in der Nähe von Evi und Karine, die zusammen in einem Bauernhaus in einem romantischen Paradiesgärtlein lebten. Dort lernte ich eine russische Protestantin kennen, die mich in ihre Freikirche einlud, eine charismatische Pfingstgemeinde. Ich besuchte die Gemeinde, es war eine Gemeinde von jungen Studenten und Studentinnen, die Studentinnen war blühend jung und schön, ich meinte, in dem Paradies des Propheten zu sein. So schloß ich mich der Gemeinde an.
In der Gemeinde lernte ich auch einen Chinesen kennen, Rong-Ji, der mein Freund wurde. Wir sprachen über Li Tai-Bo, er gab mir chinesische Lyrik in englischen Nachdichtungen, die ich ins Deutsche übersetzte. Dann bat er mich, ihm bei seiner Doktorarbeit in der Pädagogik zu helfen. Er referierte mir in den folgenden drei Jahren über die Vater-Sohn-Beziehung im klassischen Konfuzianismus und ihre Parallelen zum Christentum, und ich formulierte seinen Vortrag in deutscher Sprache. Ich lernte viel über Konfuzius, Menzius, das Buch der Riten und Sitten, das Shi Ging, das I Ging. Ich lernte den konfuzianischen Begriff des Tao kennen, der als ein sittliches Weltgesetz vom Himmel stammte. Ich lernte über das chinesische Altertum, über die Verehrung Shang-Di’s, des Allerhöchsten, bei Mo Ti, über die Geschichte des Christentums in China von dem nestorianischen Alopen an bis zu dem Jesuitenmissionaren Matteo Ricci und Johann Adam Schall von Bell und bis zu den protestantischen Bewegungen des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts. Ich hörte von einer stets wachsenden Untergrundgemeinde in China und von großen Kraftwirkungen des Heiligen Geistes in China, bis hin zu Totenauferweckungen!
Evi bat mich ausdrücklich, in Zukunft auch sie als ein Freund zu besuchen. Wir begannen über Gott und die Welt zu sprechen, das heißt, über Jesus und die Kunst. Sie war sehr schön, eine Paradiesfrau in ihrem blühenden Paradiesgarten.
Ich lernte auch den evangelischen Christen Mark kennen, der ein großer Liebhaber der Bibel war und mich in seinen Hauskreis einlud, gemeinsam das Evangelium zu studieren. Dort lernte ich Inka kennen, eine engelgleiche Jungfrau, die Verlobte war, Jungfrau und Braut, festhielt an der Keuschheit vor der Ehe. Sie hatte geistige Kämpfe mit Dämonen zu kämpfen und war von schweren Leiden sehr vergeistigt. Sie war sehr schön und fein und zart und transparent. Ich schwärmte für sie und schrieb ihr ein Gedicht in chinesischer Sprache, in dem ich sie Meh-Meh nannte, Schwesterchen, rein wie Schwan und Jade. Sie sprach, sie nähme meine Gedichte als Liebesgedichte Jesu an sie.
In der Pfingstgemeinde hatte ich Erwachsenentaufen erlebt, da ich die Gegenwart des intensiv angerufenen Heiligen Geistes erlebte. Ich streckte mich auch nach dem Heiligen Geist aus und wollte meine Kindstaufe erneuern in einer Wiedertaufe. Ich traf mich allmorgentlich mit Rong-Ji zur Anbetung Gottes an einem See, da wir Psalmen beteten und Anbetungslieder sangen. So bereitete ich mich auf die Wiedertaufe vor, denn ich hoffte, wie bei Jesu Taufe, würde sich auch über mir der Himmel auftun, der Heilige Geist auf mich herabkommen und Gott mich liebes Kind nennen und Gottes Wohlgefallen! Eines Morgens begann ich mitten im Gebet in einer mir unbekannten Sprache zu beten, die Zungenrede ward mir als Charisma geschenkt. In der Wiedertaufe widersagte ich dem Satan und allen seinen Werken und versprach vor der sichtbaren und unsichtbaren Welt, Jesus Christus nachzufolgen. Dann ward meine eine Taufe im Namen des Vaters, Sohnes und Heiligen Geistes erneuert. Die Gruppe von Freunden am See sang ein chinesisches Anbetungslied: Fels, Fels, mein Fels ist Jesus! In der Gemeindeversammlung überkam mich spontan die Gabe der Predigt.
Mit einem Freund fuhr ich im Sommer nach Süddeutschland. Wir besuchten eine christliche Familie an der Teck. Ich sah das Schloß der Hohenzollern von Süddeutschland, ich sah das Schloß Lichtenstein mit den Totenmasken von Goethe und Schiller und das Schlafgemach mit dem Gemälde der Himmelfahrt Mariens, ich war auch im Turm von Tübingen, in dem Hölderlin die zweite Hälfte seines Lebens gelebt hatte. Ich sah dort die Handschrift Hölderlins, das Gedicht Hälfte des Lebens in seiner Original-Handschrift.
Ich las die Gesammelten Gedichte von Hermann Hesse, der in seiner Jugend seine Jugendgeliebte als eine Art Beatrice verklärt, der dann die Ewige Mutter besang und im Alter Buddha und Christus zu vereinen suchte. Diese Lyrik erinnerte mich wieder an das Ewigweibliche, an die Sehnsucht nach der Ewigen Mutter. Der Protestantismus kennt ja keine metaphysische Weiblichkeit. Man spottete über den Begriff Mutter Kirche, über die Theologie als Mutter der Wissenschaften, einige Protestanten hatten Aversionen gegen die Verehrung der Mutter Christi. Gott war Vater und Sohn.
Ich schrieb Liebesgedichte an Inka, da ich zum Schluß meiner Passion eine Vision besang, da mir Jesus vom Himmel her erschien und an seiner Seite eine strahlende Jungfrau. Wer war diese Jungfrau? War sie die himmlische Jerusalem, die bräutliche Gemeinde Christi, oder war sie Inka im Himmel?
Mit Mark und Inka fuhr ich zu einem Seminar über die Apokalypse des Johannes. Der Lehrer war ein evangelikaler Fundamentalist, der die katholische Kirche als Hure Babylon bezeichnete, aber Vorsicht, sie habe noch eine Schwester, das sei die evangelische Kirche. Aber in irgendeinem Zusammenhang sprach der Lehrer von der siebenten Königin. Ich sah in Inka die siebente Königin der Apokalypse, eine apokalyptische Jungfrau, die himmlische Jerusalem, die Braut Christi, die Frau des Lammes!
In einer evangelikalen Studentengemeinde hielt ich einen Vortrag über Rudolf Steiners gnostisches Christus-Bild. Mein Freund Mark sprach von meiner Lehrbegabung.
Ich war begeistert von Gott und wollte allein zur Ehre Gottes dichten. Ich wollte nach dem Vorbild John Miltons und Klopstocks allein geistliche Dichtung dichten und begann einen Zyklus von evangelischen geistlichen Sonetten.
Inspiriert von dem Schriftwort: „Wir hörten von ihr in Ephrata...“, begann ich einen evangelischen Roman über die Jungfrau Maria zu schreiben. Zwar lehnte ich die katholischen Dogmen der Unbefleckten Empfängnis, der Himmelfahrt Mariens und der Fürsprecherin ab, ohne sie aber auch nur zu kennen, dennoch lebte in mir noch Liebe zur Jungfrau und ich sehnte mich danach, in dem für wahr gehaltenen evangelischen Glauben doch auch die Mutter Jesu lieben zu können und preisen zu dürfen. Es machte mir große Freude, von der Schönheit Mariens zu singen in poetischer Prosa. Mich inspirierte die Sixtinische Madonna, die meine Zimmerwand schmückte, aber mich inspirierte Evi, mein Abglanz der Madonna, der Madonna als der Schönen Madonna.
Ich beschäftigte mich nun mit christlicher Psychologie. Zuerst lernte ich die Lehre von den Temperamenten kennen, die alte antike Lehre von den Humoren. Ich erkannte, dass ich stark vom melancholischen Humor beeinflusst war, dass in mir ein Übermaß an schwarzer Galle war. Aber die Lehre, dass gerade dass melancholische Temperament die Voraussetzung für künstlerische und philosophische Begabung ist, war doch wieder ein Trost.
Ich lernte im Schwarzwald Mirjam kennen, die eine Katholikin war und Nonne werden wollte. Sie sang mir katholische Marienlieder vor. Ich erinnerte mich an meine Marienverehrung zu Beginn meines Christseins und fühlte eine Mutterheimat und das Herz der Geliebten Frau, und was ich verloren hatte, als ich aufhörte, Maria zu verehren. Es war das Herz des Christentums die Liebe, aber das Herz des Katholischen die Zärtlichkeit, und diese Zärtlichkeit und Süßigkeit der Mutterliebe Mariens hatte ich verloren.
Als ich aus dem Schwarzwald zurückkehrte, sah ich Evi vor mir sitzen auf einem Sessel, den dreijährigen Sohn auf dem Schoß. Evi hatte lange schwarze Haare und trug ein feines Seidenkleid, ein weißes Seidenkleid mit eingewobenen Blumenmustern. Der Sohn spielte auf ihrem Schoß mit ihrem Haar, sie neigte sich mit süßester Mutterliebe ihrem geliebten Kinde zu. Da traf mich der Blitz der Liebe, der Feuerpfeil Amors, da schlug Eros seine Fackel in meine Seele!
Ich schrieb den Marienroman zuende. Mein Herz loderte in der Liebe zu Evi. Das letzte Jahr des zweiten Jahrtausends ging zuende. Meine evangelische Maria war gepriesen. Die Welt sprach davon, ob Russland das dritten Jahrtausend mit einem Atomkrieg beginnen würde? Die Christen sprachen davon, ob Christus jetzt wiederkommen wird? Ich stand in der Flamme der Liebe, ich liebte in meiner leidenschaftlichen Besessenheit Evi mehr als Jesus! Ich liebte sie, als sähe ich in ihr die Schönheit Gottes! Ja, sie glühte und glänzte in der Glorie Gottes, dass sie mir eine himmlische Göttin der Schönheit schien, es war mir, als, indem ich vor ihr kniete in anbetender Minne, ich kniete vor dem femininen Antlitz Gottes! So begann das dritte Jahrtausend.
Das Jahr 2000 begann damit, dass ich ins Fegefeuer eintrat, ich meinte, nach Dantes Lehrstuhl, in den siebten Kreis des Fegefeuers, da die Sinnlichkeit der Minnesänger gebüßt wird. Ein katholischer Priester sagte, man könne das Fegefeuer auch schon auf Erden haben. Heinrich Seuse schrieb, die Schwermut als Gemütskrankheit sei ein Fegefeuer auf Erden, und wer auf Erden schon in dem Feuerofen der Trübsal purgiert würde, der käme nach seinem Tode schneller zu Gott. Man muß mir nicht sagen, es gäbe kein Fegefeuer, ich weiß, ich war schon darinnen und bin es noch!
Die protestantisch-charismatische Frömmigkeit half mir nicht in den großen Liebesschmerzen, in der Nacht der Trauer. Hier wurde der Auferstandene gefeiert, alle bezeugten, dass Jesus sie froh und fröhlich gemacht, es war das Kreuz und der Gekreuzigte ein Gedanke an Jesus vor zweitausend Jahren, da er gelitten, damit sie nun fröhlich sein können. Ich aber spürte etwas vom gegenwärtigen Kreuz, vom Schicksal Hiobs, des Predigers Salomo und des lamentierenden Jeremias. Ich übersetzte Koheleth und Lamentationen, sowie das Hohelied ins Deutsche. Ich suchte nach einer neuen geistlichen Heimat, nach einer Form des Christentums, die auch im Leiden trägt. Da studierte ich die christlichen Konfessionen in ihren Bekenntnissen.
Ich hörte dann eine Predigt des Papstes Johannes Pauls des Zweiten und war beeindruckt von diesem weltumspannenden katholischen Glauben, dem Gedenken an die Heiligkeit, vor allem beeindruckte mich die Verehrung der Märtyrer des zwanzigsten Jahrhunderts.
Durch Zufallsfügung fiel mir eine Schrift des katholischen Schriftstellers Reinhold Schneider in die Hände. Besonders die Aussage, dass das Leben für Christen geradezu umgekehrt schwerer sein könne als das heitere Leben der Hedonisten, da der Christ täglich sein Kreuz auf sich nähme, beeindruckte mich. Ich studierte nun die Schriften von Reinhold Schneider. Seine tiefe Schwermut, seine Schau der Tragik des Lebens, seine Vision vom Königtum Christi als einem Königtum der Schmach und Ohnmacht, seine absolute Erhöhung des Kreuzes und seine Betrachtung über die dunkle Nacht der Seele nach der Weisheit des heiligen Johannes vom Kreuz, das machte mich katholisch.
Ich besuchte wieder einmal eine Heilige Messe und nahm auch an der Kommunion teil, da ich glaubte, das lebendige Herz Jesu in der Hostie zu speisen. Ein halbes Jahr lang nahm ich sonntäglich an der Heiligen Messe teil und kommunizierte, bis ich den Priester ansprach und mich von ihm in die katholische Kirche führen ließ.
In der Weihnacht hatte ich eine Vision der Madonna, die am Himmel über mir schwebte, ähnlich der Sixtinischen Madonna. Ich las am Ende des Jahres das Buch die Ewige Frau von Gertrud von LeFort, der katholischen Schriftstellerin, die in ihrer Bestimmung des Wesens der Frau und Mariens als der Ewigen Frau von der heiligen Karmelitin Edith Stein beeinflusst war. So wie mir durch Reinhold Schneider Johannes vom Kreuz begegnete und mir das Kreuz Christi predigte, so begegnete mir durch Gertrud von LeFort die heilige Edith Stein und predigte mir Maria. Maria war Tochter, Mutter und Braut Gottes, Tochter des Vaters, Mutter des Sohnes, Braut des Heiligen Geistes, sie war der Inbegriff der Kirche, ja, Stellvertreterin der ganzen Menschheit und der ganzen Schöpfung. Die Dichterin pries Maria auch als Muse der großen christlich-abendländischen Kunst, denn die Ewige Frau inspiriere den wahren Dichter durch die irdische Muse, die ersehnte oder geistige Braut, die wiederum Stellvertreterin der Jungfrau-Mutter Maria im Leben des schöpferischen Mannes sei.
Das Jahr 2000 schloß, als ich die Hymne an die himmlische Schönheit des anglikanischen Renaissance-Poeten Edmund Spenser übersetzte, die man auch eine Hymne an Sapientia nennen könnte. Die Sapientia war schön wie die Aphrodite Urania der Griechen, war schön und rein wie die Jungfrau Maria, sie glich der Weltseele, und war doch als Tochter Gottes der Sohn Gottes, Christus. Maria hatte mich also zur Hagia Sophia geführt. Maria, Urania, Sophia, das war der Weg den ich nun gehen wollte. Das war der Weg, den Maria mich führte, den Weg der Urania der platonischen Philosophie und, im Geist der christlichen Theosophie, der HAGIA SOPHIA.
Die Hagia Sophia lehrte mich im ersten Jahr des Dritten Jahrtausends folgende Schritte:
1. Studium der katholischen Dogmatik und der Lehrentscheide der Päpste
2. Studium der katholischen Mariologie
3. Weihe an das Unbefleckte Herz Mariens
4. Wallfahrt und Lebensbeichte
5. Mystische Verlobung mit der Jungfrau Maria
6. Firmung und Aufnahme in den Schoß der Kirche
7. Kommunion mit der eucharistischen Christus-Sophia.


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