BIBLISCHE POESIE
Deutsch von Peter Torstein Schwanke
übersetzt mit Hilfe
des Hebräisch-englisch-Wörterbuches der Online-Bibel,
unter Zuhilfenahme
verschiedener deutscher Übersetzungen.
Oldenburg in
Oldenburg, im Jahre 2000
DAS BUCH QOHELETH -
DER RUF DER WEISHEIT
I
1) Worte des Weisheitslehrers, Sohnes Davids, Königs in
Jeruschalajim.
2) Hauch, Hauch, spricht der Weisheitslehrer; Hauch, Hauch,
alles ist Hauch!
3) Welchen Gewinn zieht der Mensch aus seiner Arbeit, die er
unter der Sonne wirkt?
4) Eine Generation vergeht, eine Generation kommt auf; die
Erde besteht bis in lange Zeiten.
5) Die Sonne geht auf, die Sonne geht unter, sie keucht zu
ihrer Region, von dort wieder aufzubrechen.
6) Es wandert der Wind nach Süden und wendet sich nach
Norden, der Wind wendet sich im Kreis zurück.
7) Die Flüsse wandern ins Meer, doch wird das Meer nicht
voll. Zur Region, von wo die Flüsse ausgehn, gehen sie
zurück.
8) Alle Worte sind so ermüdend! Nichts vermag ein Mensch zu
sagen! Der Augen Schauen ist nie befriedigt, der Ohren Lauschen nie
zufrieden.
9) Was gewesen, das wird sein. Was getan ward, das wird
getan werden. Es gibt nichts Neues unter der Sonne.
10) Ist ein Ding, von dem zu sagen wäre: Siehe, das ist neu?
Es ist bereits gewesen in den alten Zeiten, die vor uns waren.
11) Erinnerung gibt es nicht mehr an die Früheren, an die
Späteren wird man sich nicht erinnern bei den Nachkommen.
12) Ich, Weisheitslehrer, war Jisraels König in
Jeruschalajim.
13) Ich gab mein Herz hin, zu suchen und zu untersuchen mit
Weisheit die Taten, die man tut unter der Sonne. Üble Jobs hat
Gott den
Menschenkindern gegeben, sich damit zu quälen.
14) Ich sah die Werke, die getan werden unter der Sonne:
Alles Hauch und vergebliches Seufzen des Geistes!
15) Was krumm ist, kann nicht gerade gemacht werden. Gezählt
werden kann nicht das Fehlende.
16) Ich sprach in meinem Innern: Weise ward ich und
bedeutend und reicher als die, die vor mir gewesen in Jeruschalajim;
mein Herz
ward voll vielfältigster Weisheit, und Wissen erkannt ich.
17) Mein Herz gab ich hin, Weisheit weise zu erkennen, zu
erkennen Wahnsinn und Unvernunft. Ich lernte aber die Kenntnis,
daß auch dies
vergebliches Seufzen des Geistes ist.
18) Wo vielfältige Weisheit ist, da ist vielfältiges Weh.
Wer mehr lernt, muß mehr leiden.
II
1) Ich sprach in meinem Innern: Auf! ich will versuchen,
froh zu sein und Gutes zu sehen.
2) Aber siehe, auch das ist Hauch. Ich erklärte dem Lachen:
Du bist närrisch! und dem Jubel: Was schaffst du?
3) Mein Herz versuchte, meinen Leib zu laben mit Wein: Möge
mich dabei mein Herz mit Weisheit lenken! Unvernunft wollt ich fassen,
bis ich
sah, was den Menschenkindern gut ist und was sie tun sollen alle Zeiten
ihres
Lebens unter dem Himmel.
4) Ich tat herrliche Taten und baute Häuser und pflanzte
Weingärten,
5) schuf Gärten und Parkanlagen und pflanzte fruchtbare
Bäume mit vielerlei Früchten,
6) schuf Teiche, daraus zu tränken mit Wasser den Wald der
wachsenden Bäume,
7) besaß Diener und Hausmädchen und Kinder des Hauses, hatte
reicheren Besitz an Rinderherden und Schafherden als alle, die vor mir
gewesen
in Jeruschalajim,
8) sammelte Silber und Gold und seltene Schätze von den
Königen und Provinzen, legte mir Sängerinnen und Sänger
zu und die Wonne der
Menschensöhne: einen Harem von Konkubinen.
9) Herrlicher ward ich als alle, die vor mir gewesen in
Jeruschalajim; und meine Weisheit stand mir bei.
10) Wonach es meinen Augen verlangte, das nahm ich, und
verwehrte meinem Herzen keine Lust. Möge mein Herz nur
fröhlich sein, bei aller
Arbeit, denn das sei mein Anteil in meiner Mühsal.
11) Ich wandte mich zu den Werken, die meine Hände
geschaffen, all die Arbeit hatte mir Mühe gemacht. Siehe, das war
Hauch und
vergebliches Seufzen des Geistes und war kein Gewinn mir unter der
Sonne.
12) Und ich wandte mich, zu schauen nach der Weisheit, nach
Wahnsinn und Unvernunft. Was kann der Mensch tun, der nach dem
König kommt? Nur
das, was bereits getan ward.
13) Ich sah, daß die Weisheit besser ist als die Unvernunft,
wie das Licht besser als die Finsternis.
14) Der Weise hat Augen im Kopf, der Narr geht in der
Finsternis. Jedem geschieht sein Schicksal.
15) Da sprach ich in meinem Innern: Also geschieht das
Schicksal dem Narren, besser ist da weise sein. Da sprach ich in meinem
Innern:
Das ist auch nur Hauch.
16) Nicht immer erinnert man sich an den Weisen, wie auch an
den Narren nicht. Bald schwinden die Tage ins Vergessen. Es stirbt der
Narr
seinen Tod, der Narr wie der Weise.
17) Da haßte ich mein Dasein! Die Taten waren böse, die
unter der Sonne getan wurden. Alles ist Hauch und vergebliches Seufzen
des
Geistes.
18) Ich haßte meine Mühsal, der ich mich mühsam
abmühte
unter der Sonne. Alles muß ich lassen einem Menschen nach mir.
19) Weiß man, ob er ein Weiser oder ein Narr sein wird? Er
wird doch herrschen über meine Arbeiten, die ich weise erarbeitet
habe unter
der Sonne. Das ist auch nur Hauch.
20) Da wandte sich mein Herz zur Verzweiflung über all die
Arbeit, die ich wirkte unter der Sonne.
21) Da war ein Mensch, der seine Arbeit mit Weisheit und
Kenntnissen und Geschicklichkeit tat, sie einem andern zum Erbteil zu
lassen,
der sie nicht erarbeitet hat. Das ist auch nur Hauch und ein gewaltiges
Übel.
22) Was wird dem Menschen von all seiner Mühsal und dem
Streben seines Herzens, der er sich abmüht unter der Sonne?
23) Alle Tage hat er Schmerzen und Mühe und Übellaune. In
der Nacht, da liegt sein Herz mit Mißmut nieder. Das ist auch nur
Hauch.
24) Es ist gut dem Menschen, zu essen und zu trinken und
seine Seele Gutes sehen zu lassen bei all der Arbeit. Dies sah ich,
daß solches
aus Gottes Händen kommt.
25) Denn wer kann essen und wer kann genießen ohne ihn?
26) Er gibt dem Menschen, der ihm gefällt, ihm gibt er
Weisheit und Kenntnisse und Freude. Aber dem ihn Verfehlenden gibt er
Geschäftigkeit, zu sammeln und anzusammeln und doch es zu geben
einem, der Gott
gefällt. Auch das ist Hauch und vergebliches Seufzen des Geistes.
III
1) Alles zu seiner Zeit! Jeder Plan unterm Himmel hat seine
Gelegenheit.
2) Die Schwangerschaft hat ihre Zeit und der Tod hat seine
Zeit. Das Pflanzen hat seine Zeit und das Ausreißen des
Gepflanzten hat seine
Zeit.
3) Die Zerstörung hat ihre Zeit und die Heilung hat ihre
Zeit. Das Zerbrechen hat seine Zeit und das Bauen hat seine Zeit.
4) Das Weinen hat seine Zeit und das Lachen hat seine Zeit.
Die Trauer hat ihre Zeit und der Tanz hat seine Zeit.
5) Das Steinewerfen hat seine Zeit und das Steinesammeln hat
seine Zeit. Die Umarmung hat ihre Zeit und das Fernsein von Umarmung
hat seine
Zeit.
6) Das Suchen hat seine Zeit und das Verschwinden hat seine
Zeit. Das Bewahren hat seine Zeit und das Wegwerfen hat seine Zeit.
7) Das Zerreißen hat seine Zeit und das Nähen hat seine
Zeit. Das Stillesein hat seine Zeit und das Sprechen hat seine Zeit.
8) Die Liebe hat ihre Zeit und der Haß hat seine Zeit. Der
Krieg hat seine Zeit und der Friede hat seine Zeit.
9) Man tut wie ein Arbeiter, aber hat doch keinen Gewinn
dadurch.
10) Ich sah die Jobs, die Gott den Menschenkindern gab, daß
sie sich damit quälen.
11) Er macht es alles schön, schön zu seiner Zeit. Er gab
die Ewigkeit in ihren Sinn. Nicht kann der Mensch erfassen das Werk,
das Gott
geschaffen von Anfang bis Ende.
12) Da wußte ich, da ist nichts Besseres, als voll Freude zu
sein und Gutes zu tun im Leben.
13) Jeder Mensch soll essen und trinken und Gutes sehen bei
seiner Arbeit, denn das ist ein Geschenk Gottes.
14) Ich sah, daß alles, was Gott tut, für lange Zeit
besteht; nichts kann man hinzufügen, nichts kann man hinwegnehmen.
Dies alles
tut Gott, auf daß man ihn respektiere und ehre.
15) Was war, das ist nun, und was sein wird, das war schon.
Gott verlangt nach dem Kommenden.
16) Ich sah unter der Sonne Gerichtssäle, dort herrschte
Bosheit, und sah Hallen der Gerechtigkeit, dort herrschten Boshafte.
17) Da sprach ich in meinem Innern: Gott wird den Gerechten
richten, den Gerechten und den Schuldigen. Denn jeder Plan und jede Tat
hat
seine Zeit.
18) Ich sprach in meinem Innern: Es ist wegen der
Menschenkinder, daß Gott sie reinigt, und daß sie erkennen
mögen, daß sie wie
Tiere sind.
19) Der Menschenkinder Schicksal ist wie das der Tiere:
jenen der Tod und diesen der Tod, sie haben alle Einen Atem, so
daß der Mensch
dem Tier nicht überlegen ist. Denn alles ist Hauch und ein
Schicksal.
20) Es geht alles an Einen Ort, denn alles ist aus Staub und
kehrt zum Staub zurück.
21) Wer weiß vom Atem des Menschen, daß er aufsteigt, und
vom Atem des Tieres, daß er zur Erde sinkt?
22) Darum: ich sah, daß es nichts Schöneres gibt, als
daß
ein Mensch sich freue bei seiner Arbeit, denn das ist sein Anteil. Wer
wird ihn
dahin bringen, zu schauen, was nach ihm sein wird?
IV
1) Ich wandte mich und sah die Unterdrückung, die unter der
Sonne geschah. Siehe, da waren Tränen der Unterdrückten und
kein Trost. Die
Hände der Unterdrücker waren zu mächtig, darum war kein
Trost.
2) Da rühmte ich die Toten, die schon tot sind, mehr als die
Lebenden, die noch leben.
3) Besser als beiden geht es dem Nochnichtseienden, der
nicht schaut des Bösen Taten, die unter der Sonne getan werden.
4) Ich sah die Mühsal und den Erfolg bei allen Werken, und
daß jeder Mensch auf den andern eifersüchtig ist. Das ist
auch nur Hauch und
vergebliches Seufzen des Geistes.
5) Ein Narr legt die Hände in den Schoß und frißt sein
eigenes Fleisch.
6) Besser eine Handvoll in aller Ruhe, als beide Hände voll
mit Mühsal und vergeblichem Seufzen des Geistes.
7) Ich wandte mich und sah die ganze Sinnlosigkeit unter der
Sonne.
8) Da ist einer allein, kein Anderer bei ihm, er hat keine
Kinder und keine Geschwister; aber seine Mühsal ist ohne Ende,
seine Augen
werden nimmer satt des Reichtums: Für wen denn arbeite ich,
für wen denn fehlt
meiner Seele das Gute? - Das ist auch nur Hauch und ein übles
Geschäft.
9) Besser zwei als einer, darin liegt ein schöner Lohn für
die Arbeit.
10) Stürzt einer, so hilft ihm sein Gefährte auf. Ach
über
den, der allein ist! Wenn er stürzt, ist kein Anderer, der ihm
aufhilft.
11) Auch, wo zweie liegen, da wirds warm; kanns aber einem
Einsamen warm werden?
12) Einen kann man überwinden, aber zweie leisten
Widerstand, und ein dreifaches Band zerreißt nicht so schnell.
13) Ein armer Junge, der weise ist, der ist besser als ein
alter König, der närrisch ist und sich nicht raten
läßt.
14) Einer kommt aus dem Gefängnis und wird König, und ein
zum König Geborener wird arm.
15) Ich sah die Lebenden unter der Sonne wandeln mit dem
Jungen, der aufstehn und an des Andern Stelle treten sollte.
16) Schließlich war des Volkes, das ihm nachging, kein Ende.
Doch seine Nachkommen hatten an ihm keine Freude. Das ist auch nur
Hauch und
vergebliches Seufzen des Geistes.
V
1) Achte auf deine Füße, wandelst du zum Tempel Gottes. Nahe
dich, zu lauschen, und spende nicht Narrenopfer, denn Narren wissen
nicht, was
sie Böses tun.
2) Sei nicht schnell mit der Zunge. Laß deines Geistes Rede
nicht hasten, Worte hervorzubringen vor Gott, denn Gott ist im Himmel,
du aber
auf der Erde, drum mach du wenig Worte.
3) Viele Träume kommen durch viele Mühsal. Wo viele Worte
sind, da schwatzen Narren.
4) Schwörst du Gott einen Schwur, so zögere nicht, ihn zu
halten. Er hat ja keine Freude an Narren. Was du schwörst, das
halte auch.
5) Besser, keinen Schwur zu schwören, als den Schwur nicht
zu halten, den du schworest.
6) Gewähre deiner Zunge nicht, dein Fleisch in die Irre zu
führen. Sag dem Engel nicht: Es war ein Versehen. - Gott
könnte zornig werden
über deine Stimme und die Werke deiner Hände vernichten.
7) Wo viele Träume sind, da ist viel Nichtigkeit und viel
Gerede. Du aber ehre Gott!
8) Siehst du Unterdrückung der Armen und Raub der
Gerechtigkeit in den Provinzen, wundre dich darüber nicht. Es ist
ein Hoher
über den Hohen, der sie beaufsichtigt, und es sind Höhere
über ihnen, die auf
Gerechtigkeit achthaben.
9) Das ist ein Gewinn für ein Land, wenn der König sich
kümmert um die Felder, auf denen gearbeitet wird.
10) Wer Silbermünzen liebt, wird nimmer satt an
Silbermünzen; wer den Reichtum liebt, nicht des Einkommens. Das
ist auch nur
Hauch.
11) Wo des Guten viel wird, da werden es Viele fressen.
Welchen Gewinn hat der Eigentümer, wenn er es nicht behalten kann
und nicht
anschaun mit den Augen?
12) Wer dient, dem ist süß der Schlaf, ob er viel oder wenig
gegessen. Des Reichen Sattheit aber gibt ihm nicht die Ruhe des
Schlafes.
13) Es ist eine böse Krankheit, die ich sah unter der Sonne:
Reichtümer, aufgehäuft zum Unheil des Eigentümers.
14) Jene Reichtümer zerrinnen bei bösen Geschäften.
Zeugte
der Reiche einen Sohn, so hält der ein Nichts in Händen.
15) Nackt kam er aus seiner Mutter Schoß, und nackt, so wie
er gekommen, geht er dahin.
16) Welchen Gewinn denn brachte seine Arbeit, die er für den
Wind gewirkt hat?
17) Alle Tage im Finstern, aß er mit viel Ärger und Zorn und
Krankheit.
18) Ich sah für gut und schön an, wenn einer ißt und
trinkt
und sieht Gutes bei aller Arbeit, die er wirkt unter der Sonne, in den
Tagen
seines Lebens, die Gott ihm gibt, denn das ist sein Anteil.
19) Dem Menschen, dem Gott reiche Schätze gibt und die
Fähigkeit, davon zu zehren und seinen Teil zu nehmen, daß er
voller Freude ist
bei aller seiner Arbeit, dem ist dies ein Geschenk Gottes.
20) Er bedenkt nicht die Kürze seiner Lebenszeit, weil Gott
ihm Glück des Herzens schenkt.
VI
1) Es ist ein Übel, welches ich unter der Sonne sah, das ist
groß bei den Menschen:
2) Da gab Gott einem Menschen Schätze, Reichtum und Ruhm,
seiner Seele fehlte nichts von alledem, wonach ihn verlangte, und doch
gab Gott
ihm nicht die Fähigkeit, dies alles zu genießen; ein Fremder
konsumierte das
Seine. Auch das ist ein Hauch nur und eine böse Krankheit.
3) Zeugte ein Mensch auch hundert Kinder und hätte viele
Jahre zu leben, viele Tage und Jahre, aber seine Seele wäre nicht
zufrieden mit
dem Guten, auch würde ihm kein Grabmal werden; über solchen
Menschen sag ich:
eine Todgeburt ist besser dran.
4) Wie ein Hauch kommt sie und geht in die Nacht, ihr Name
wird von Nacht verborgen,
5) auch sah sie nicht den Sonnenaufgang und wußte nicht von
der Sonne; diese hat mehr Ruhe, diese hat mehr Frieden als Jener.
6) Lebte er auch zweimal tausend Jahre, nichts Gutes sehend,
so geht doch alles schließlich an Einen Ort.
7) Alle Arbeit des Menschen ist für seinen Schlund, aber die
Seele ist nie befriedigt.
8) Was hat ein Weiser Besseres als ein Narr? Das was ein
Armer hat, der recht zu wandeln weiß vor den Lebenden.
9) Besser das, was vor Augen ist, als der Seele ziellose
Sehnsucht. Jenes ist denn auch nur Hauch und vergebliches Seufzen des
Geistes.
10) Das was sein wird, ist bereits mit Namen genannt.
Bekannt ist bereits, was ein Mensch sein wird. Er kann nicht streiten
mit dem,
der ihm zu mächtig ist.
11) Es gibt zuviele sinnlose Dinge. Welchen Gewinn hat ein
Mensch dadurch?
12) Wer weiß, was gut und schön für den Menschen zu
seinen
Lebzeiten ist, für die Tage seines Daseins in der Nichtigkeit, das
er verbringt
wie ein Schatten? Wer macht dem Menschen bekannt, was nach ihm sein
wird unter
der Sonne?
VII
1) Ein guter Name ist besser als erlesenes Öl. Der Tag des
Todes ist besser als der Tag der Geburt.
2) Besser ist es, ins Haus der Totenklage zu gehen, als ins
Haus, da man feiert; in jenem ist das Ende des Menschen, das nehme sich
zu
Herzen der Lebende.
3) Trauern ist besser als Lachen, denn durch Traurigkeit
wird das Herz gebessert.
4) Das Herz des Weisen ist im Haus der Klage, das Herz des
Narren im Haus der Lustigkeit.
5) Besser ist es, zu hören auf die Ermahnung des Weisen, als
zu lauschen den Liedern der Narren.
6) Das frivole Spottgelächter der Narren klingt wie des
Brennholzes Knistern unter den Kochtöpfen. Es ist sinnlos.
7) Unterdrückung macht den Weisen verrückt.
Bestechungsgeschenke verderben die Gesinnung.
8) Der Ausgang einer Rede ist feiner als der Anfang. Ein
Geist der Geduld ist besser als ein Geist des Stolzes.
9) Sei in deinem Geist nicht schnell zum Zorn, denn Zorn
sitzt im Herzen des Narren.
10) Sage nicht: Warum waren die früheren Zeiten besser als
diese? Du fragst dies nicht in Weisheit.
11) Weisheit ist schön mit einer Erbschaft, das ist Gewinn
für die, welche die Sonne sehen.
12) Die Weisheit schattet schützend, auch Silbermünzen
schatten schützend, aber der Vorteil der Klugheit ist, daß
Weisheit ihrem
Besitzer Leben spendet.
13) Schau auf die Werke Gottes! Wer ist mächtig, das zu
begradigen, was Gott gekrümmt hat?
14) Zur schönen Zeit, da laß es dir gutgehn. Die üble
Zeit
sieh so an, daß Gott sie zu dem Schluß geschaffen hat,
daß der Mensch nicht
kennen kann das Kommende.
15) Manches sah ich in den Tagen meiner Nichtigkeit. Da ist
ein Gerechter in seiner Gerechtigkeit vernichtet worden, aber ein
Schuldiger
lebte lang in seiner Bosheit.
16) Sei nicht zu gerecht und nicht zu weise, damit du nicht
einsam wirst.
17) Sei nicht so sehr boshaft und sei kein Narr, damit du
nicht sterben mußt vor deiner Zeit.
18) Gut ist, das eine zu fassen und das andere nicht aus den
Händen zu lassen. Wer Gott in Ehrfurcht begegnet, entgeht dem
allem.
19) Die Weisheit macht den Weisen mächtiger als zehn
Mächtige aus der Stadt.
20) Auf der Erde ist kein Mensch so gerecht, daß er nur
Gutes tut und nie fehlgeht.
21) Gib deine Aufmerksamkeit nicht allen gesprochenen
Worten, damit du nicht das Fluchwort deines Dieners hören
mußt.
22) In deinem Herzen weißt du, daß auch du oft Andern
fluchtest.
23) Dies alles hab ich mit Weisheit geprüft. Ich sagte: Ich
will die Weisheit gewinnen,- aber sie blieb distanziert.
24) Was distanziert ist, das ist in weiter Ferne und von
geheimnisvoller Tiefe. Wie soll ichs ergründen?
25) Ich wandte mein Herz, zu suchen und kennenzulernen und
zu erforschen die Weisheit und die Vernunft. Ich wollte wissen von der
Dummheit
der Falschen und dem Unverstand der Idioten.
26) Ich fand heraus, daß bitterer als der Tod eine Frau ist,
deren Herz wie Fessel und Fangnetz ist und deren Hände Ketten
sind. An wem Gott
Gefallen hat, der wird vor ihr gerettet; aber der Unreine wird durch
sie
gefangen.
27) Siehe, dies fand ich heraus, spricht der
Weisheitslehrer, eins ums andere, und ich fand Vernünftiges.
28) Was meine Seele suchte und nicht fand: Unter Tausenden
fand ich Einen Mann, aber eine Frau fand ich nicht unter ihnen.
29) Siehe, allein fand ich heraus, daß Gott den Menschen zur
Aufrichtigkeit geschaffen, aber die Meisten suchen viel nach
Erfundenem.
VIII
1) Wer gleicht dem Weisen? Wer kann die Worte deuten? Die
Weisheit eines Menschen läßt sein Antlitz leuchten, die
Härte seines Gesichtes
wird verwandelt.
2) Bewahre die Worte des Königs, tu dies wegen des
Gottesschwures.
3) Geh nicht so rasch von seinem Angesichte fort, beharre
nicht auf bösen Worten, denn er schafft, was ihm gefällt.
4) Das Wort des Königs ist eine Macht. Wer darf zu ihm
sagen: Was tust du da?
5) Wer die Weisung beachtet, wird keine bösen Worte
kennenlernen. Der Geist des Weisen kennt Zeit und Gericht.
6) Für jeden Plan gibt es Zeit und Gericht. Die Bosheit des
Menschen ist groß.
7) Er kennt nicht das Kommende; und wer macht ihm bekannt,
wann es kommen wird?
8) Der Mensch hat über den Wind keine Macht, er kann den
Wind nicht bändigen, er hat auch über die Todesstunde keine
Macht, aus diesem
Kriege gibt es keine Entlassung. Die Bosheit rettet den Bösen
nicht.
9) Das alles sah ich. Mein Herz gab ich hin an alle Werke,
die gewirkt werden unter der Sonne. In dieser Zeit beherrscht ein
Mensch den
andern zu seinem eigenen Unheil.
10) Darum: ich sah Boshafte, die begraben wurden und fuhren
dahin, sie gingen fort von heiliger Stätte und wurden vergessen in
der Stadt;
auch das ist Sinnlosigkeit.
11) Weil nicht rasch ein Richtspruch gesprochen wird über
die bösen Taten, darum sind die Herzen der Menschenkinder voll
davon, Böses zu
tun.
12) Wenn auch ein Unreiner böse Taten tut und lebt doch
lang, so weiß ich dennoch, daß es wohlergehen wird denen,
die Gott
respektieren, die ehren seine Person.
13) Aber dem Boshaften wirds nicht wohlergehen, auch sollen
seine Tage nicht lange währen, sondern fliehen wie ein Schatten,
denn er gibt
Gott die Ehre nicht.
14) Dies ist eine Sinnlosigkeit auf der Erde: Gerechte
werden geschlagen, als täten sie Taten der Boshaften; Schuldigen
aber
geschieht, als hätten sie der Gerechten Werke vollbracht. Da sagte
ich: Auch
das ist nichts als ein Hauch.
15) Darum rühmte ich die Freude. Nichts Schöneres gibt es
unter der Sonne für den Menschen, als zu essen und zu trinken und
sich zu
freuen. Dies möge sich zu ihm gesellen, bei aller Mühsal in
der Zeit seines
Lebens, das Gott ihm gibt unter der Sonne.
16) Mein Herz gab ich hin, kennenzulernen die Weisheit. Ich
bemerkte die Geschäftigkeit auf der Erde und daß Tag und
Nacht der Schlaf den
Augen eines Menschen flieht.
17) Ich sah die Werke Gottes alle. Ein Mensch kann das Werk
nicht ergründen, das gewirkt wird unter der Sonne.
18) Wenn ein Mensch sich auch müht, es zu untersuchen, er
wird seinen Grund nicht finden. Und selbst wenn der Weise spricht: Ich
weiß! -
so hat er doch die Macht nicht, es zu fassen.
IX
1) Dies liegt mir am Herzen, daß ich erkläre: Der Gerechte
und Weise und sein Werk liegt fest in Gottes Händen. Die
Persönlichkeit des
Menschen kennt wahrlich nicht die Liebe und wahrlich nicht den
Haß im
Vorhinein.
2) Das selbe Schicksal für alle: für den Gerechten und
für
den Schuldigen, für den Guten und Reinen und für den
Unreinen, für den
Opfernden und für den Garnichts-Opfernden. Wie es dem Guten
ergeht, so ergeht
es dem Frevler; wie es dem Schwörenden geht, so auch dem, der
Angst hat vorm
Schwur.
3) Es ist ein Übel mit allem, was getan wird unter der
Sonne; da ist Ein Schicksal für alle. Die Herzen der
Menschenkinder sind voll
des Bösen. Wahnsinn wohnt in ihren Seelen ihr ganzes Leben lang,
und
schließlich müssen sie sterben.
4) Darum: für den, der mit dem Lebendigen eins ist, gibt es
Hoffnung. Denn ein lebender Hund ist mehr wert als ein toter Löwe.
5) Die Lebenden wissen: sie müssen sterben. Die Toten wissen
nichts mehr. Sie bekommen keinen Lohn mehr, niemand erinnert sich mehr
an sie,
sie sind in Vergessenheit geraten.
6) Vorzeiten schwand ihre Liebe und ihr Haß und ihre
Eifersucht, sie haben keinen Anteil mehr an den alten Zeiten und an
dem, was
getan wird unter der Sonne.
7) So wandle auf deinem Weg und iß dein Brot mit Freude und
trink deinen Wein mit freudigem Herzen, denn Gott hat schon lang an
deinem
Werke Wohlgefallen.
8) Deine Kleidung möge immer reinlich sein und deinem Haupt
nie Salbe mangeln.
9) Genieße das Leben mit dem Weibe, das du liebst für alle
Zeiten deines nichtigen Daseins, welches Gott dir gab unter der Sonne,
alle
Zeiten deiner Eitelkeit. Denn das ist dein Anteil am Leben, bei aller
Arbeit,
die du unter der Sonne schaffst.
10) Was deine Hände zu schaffen finden, das schaffe mit
Kraft. Da ist keine Vernunft und kein Werk, nicht Wissen noch Weisheit
im Grab,
dahin du wandelst.
11) Ich wandte mich und sah unter der Sonne: das Wettrennen
wird nicht dem Schnellen, die Schlacht nicht dem Starken, die Speise
nicht dem
Weisen, der Schatz nicht dem Verständigen und die Grazie nicht dem
Schönen;
sondern Zeit und Schicksal geschehen.
12) Der Mensch kennt seine Stunde nicht. Der Fisch wird
gefangen im bösen Netz, der Vogel in die Schlinge gelockt, und die
Menschenkinder
werden bestrickt in der bösen Zeit, die jäh hereinbricht.
13) Diese Weisheit sah ich unter der Sonne, diese erhabene:
14) Da war eine kleine Stadt mit wenigen Menschen; da kam
ein mächtiger König und umrundete sie und baute riesenhafte
Belagerungstürme
gegen sie.
15) Gefunden ward in ihr ein armer, ein weiser Mann, der das
Dorf hätte retten können durch seine Weisheit, aber niemand
dachte an diesen
armen Mann.
16) Da sprach ich: Weisheit ist besser als Macht, aber
Weisheit des Armen verachtet man und hört auf seine Worte nicht.
17) Das Wort des Weisen wird vernommen in der Stille. Das
ist besser als das Brüllen eines Herrschers inmitten von
Dummköpfen.
18) Weisheit ist besser als Rüstung des Krieges, aber schon
ein einziger Irrender kann viel Gutes zerstören.
X
1) Tote Fliegen fermentieren und machen stinkend die Salbe
des Apothekers, so ist der Einfluß der Torheit auf den Ruhm der
Weisheit.
2) Das Herz des Weisen ist an seiner rechten Seite, das Herz
des Narren ist an seiner linken Seite.
3) Wenn des Narren Herz auf seinem Irrweg wandelt, fehlt ihm
Weisheit, und seine Rede verrät den Narren.
4) Erhebt sich der Geist des Herrschenden gegen dich,
verlasse deine Stelle nicht, denn innere Ruhe wehrt dem Angriff.
5) Da ist eine Misere, die ich sah, das ist die Ignoranz der
Regierenden.
6) Ein Narr sitzt an hoher Stelle, ein Reicher wohnt in den
Niederungen.
7) Diener sah ich auf hohen Rossen reiten und Prinzen wie
Sklaven über die Erde gehen.
8) Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein. Wer eine
Mauer durchbricht, wird von einer Schlange gebissen.
9) Wer Steine wegträgt, den wird es schmerzen. Wer Bäume
fällt, gefährdet sich.
10) Wenn das Eisenschwert stumpf wird und keiner die
Schneide schleift, dann braucht der Benutzer mehr Kraft. Weisheit
wäre da ein
reicher Gewinn.
11) Ein Meister der Zunge bringt nicht mehr Gewinn als eine
Schlange, die vor der Beschwörung zubeißt.
12) Die Worte aus dem Mund des Weisen sind voller Anmut,
aber die Lippen des Narren vernichten ihn selbst.
13) Seiner Rede Anfang ist Albernheit, seiner Rede Ausgang
übler Wahn.
14) Ein Narr macht große Worte. Aber ein Mensch kennt das
Kommende nicht, und wer macht ihm bekannt, was später sein wird?
15) Des Narren Mühe macht ihn müde, und er weiß nicht
einmal
in die Stadt zu gehen.
16) Weh dem Land, dessen König ein Knabe ist und dessen
Fürsten am frühen Morgen schon tafeln!
17) Gesegnet das Land, dessen König ein Edler ist und dessen
Fürsten zu rechter Stunde speisen und sich nicht betrinken!
18) Durch Faulheit verfallen Gebäude, und wegen der trägen
Hände tropft es durchs Hausdach.
19) Sie haben Brot zum Lachen, der Wein läßt die Lebenden
jauchzen. Das Geld ist ihnen Antwort auf alle Fragen.
20) Fluche nicht dem König in deinem Herzen, und dem
Wohlhabenden fluche nicht in deinem Schlafzimmer, denn die Vögel
der Lüfte
lassen deine Worte wandern, die Eigentümer von Schwingen machen
deine Stimme
bekannt.
XI
1) Sende deine Brote übers Meer, du wirst sie wiederfinden
nach langer Zeit.
2) Gib eine Portion an sieben Leute oder acht, denn du weißt
nicht, welches Unheil noch über die Lande kommt.
3) Wenn die schwarzen Wolken voll sind, dann entleeren sie
sich im Regenschauer überm Lande. Wenn die Bäume
stürzen, so fallen sie nach
Süden oder Norden; aber wohin ein Baum gestürzt ist, dahin
ist er gestürzt.
4) Wer auf die Winde achtet, wird nicht säen; und wer auf
die Wolken achtet, wird nicht ernten.
5) Du weißt die Wege des Windes nicht und nicht wie die
Glieder gestaltet werden im Schoß der Schwangeren, so auch kannst
du Gottes
Werk nicht ergründen.
6) Am Morgen säe die Saat aus, am Abend laß ruhen die
Hände.
Du weißt nicht, ob reifen wird dies oder das und ob eines davon
auch gut sein
wird.
7) Das Licht ist lieblich, und den Augen ist es angenehm,
die Sonne zu sehen.
8) Lebt lang ein Mensch, lebt viele Jahre, dann mög er sich
allezeit freuen und sich erinnern der dunklen Stunden, derer viele
waren, und
daran denken, daß das Kommende nur ein Hauch ist.
9) Freu dich, junger Mensch, freu dich deiner Jugend! Deine
Seele soll jubeln in deiner Jugendzeit. Wandle den Weg deines Herzens,
wandle
nach deiner Augen Verlangen. Wisse, daß Gott dich für alles
vor seinen
Richterstuhl wird kommen lassen.
10) Wende Mißmut ab von deinem Herzen, und tu ab das Böse
von deinem Fleisch. Die schwarzen Haare der Kindheit und Jugend
verschwinden
wie ein eitler Hauch.
XII
1) Denk an deinen Schöpfer in den Tagen deiner Jugend, bevor
die unangenehme Zeit hereinbricht und die Jahre dich schlagen,
über die du
sagen wirst: Ich hatte kein Verlangen danach;
2) bevor die Morgenröte und das Tageslicht und Mond und
Sterne dunkel werden und schwarze Wolken nach dem Schauer wiederkommen;
3) bevor die Zeit ist, da die das Haus hüten zittern, da die
Starken gebeugt gehn, da die Müller die Schinderei beenden, weil
ihrer wenige
wurden, da die Fensterguckerinnen trübe werden,
4) da die Pforten der Pfade geschlossen werden, da
verstummen die Stimmen der Mühlen, da man mit den Liedern der
Lerchen erwacht,
wenn sich neigen der Sangestöchter Singstimmen,
5) da man sich fürchtet vor der Felsenhöhe und auf der
Straße erschrickt, da zwar die Mandelbäume blühen und
die Grashüpfer süß sich
beladen und die Kapernbeeren der Wollust aufbrechen - aber der Mensch
geht
dahin, wo er lange wird wohnen müssen, wo die Weinenden stehen am
Wegesrand;
6) bevor zerreißt die Silberschnur und zerbeult der Goldkrug
und zerscherbt der Topf an der Quelle und zerbricht das Schöpfrad
am Brunnen.
7) Denn der Staub muß zur Erde zurück, von wo er genommen.
Aber der Geist kehrt zu Gott, der ihn gegeben.
8) Leere Nichtigkeiten! spricht der Weisheitslehrer, das
alles ist nichts als ein sinnloser Dunst!
9) Und mehr noch lehrte der Weisheitslehrer Weisheiten,
lehrte das Volk viel Wissenswertes und erwog und untersuchte und reihte
eine
Menge Sprichwörter.
10) Der Weisheitslehrer suchte, bis er schönste Worte fand,
da schrieb er wahrhaftig Worte der Wahrheit.
11) Die Worte der weisen Männer treiben an wie ein Sporn und
sitzen fest wie ein Nagel. Sie wurden gepflanzt von den Meistern der
Sammlungen, weitergegeben von einem Hirten.
12) Laß dich durch diese Sprüche weiterhin ermahnen, mein
Kind. Des vielen Büchermachens ist kein Ende, das viele Studieren
ermüdet das
Fleisch.
13) Lausche dem erlauchten Schluß der Sprüche: Ehre Gott und
bewahre seine Weisungen! Das ist Alles dem Menschen.
14) Denn Gott wird alle Werke vor seinen Richterstuhl kommen
lassen, sie seien gut oder böse, und auch die verborgenen.
DAS LIED DER LIEDER
Der Sang Schelomohs.
Schulammyth:
Küsse mich mit deines Mundes Küssen. Denn dein Lieben ist
besser als Wein.
Die Töchter
Jeruschalajims:
Es duften deine Öle lieblich, dein Namen ist wie
Balsamen-Salbe ausgeschüttet. Darum lieben dich die Mädchen.
Schulammyth:
Zieh mich zu dir, so eilen wir. Der König zog mich in sein
Zimmer.
Die Töchter
Jeruschalajims:
Wir jubeln über dich und freuen uns an dir. Wir erinnern uns
an deine Liebe lieber als an Wein. Die Gerechten lieben dich.
Schulammyth:
Ich bin schwarz und sehr schön, ihr Töchter Jeruschalajims,
wie die Zelte Qedors, wie die Draperien Schelomohs. Schaut mich nicht
an, daß
ich so schwärzlich bin: die Sonne hat mich so angeschaut. Meiner
Mutter Söhne
brennen wegen mir. Sie setzten mich zur Gärtnerin der Weinberge,
aber meinen
eigenen Weinberg hab ich nicht gepflegt. - Sprich zu mir, du, den meine
Seele
liebet, wo du ruhest, wo du liegst am Mittag, daß ich nicht irren
muß bei den
Herden deiner Genossen.
Schelomoh:
Weißt du es nicht, du Schönste der Frauen, so geh hinaus zu
den Spuren der Schafe und füttere deine jungen Ziegen bei den
Hirtenhütten. Du,
meine Geliebte, bist wie ein Roß vor Pharaos Wagen. Deine Wangen
sind so hübsch
mit den Strähnen, dein Hals mit dem Muschelkettchen.
Die Töchter
Jeruschalajims:
Wir wollen dir goldene Ringe gestalten mit silbernen
Perlentropfen.
Schulammyth:
Als der König sich zu mir wandte, gab meine Narde Aroma.
Mein Geliebter ist mir ein Bund Myrrhe, der zwischen meinen
Brüsten ruht. Mein
Geliebter ist mir ein Hennastrauch in den Weinbergen von Eyn Gediy.
Schelomoh:
So schön, meine Geliebte, du bist so schön, so schön
bist du.
Deine Augen sind Tauben.
Schulammyth:
Sehr schön, mein Geliebter, du bist sehr schön und lieblich.
Unser Lager ist grün. Zedern sind die Balken unseres Hauses, die
Bretter
Zypressen. - Ich bin eine Rose aus Scharon und eine Lilie im Tal.
Schelomoh:
Wie eine Lilie zwischen Dornbüschen, so ist meine Geliebte
inmitten der Töchter.
Schulammyth:
Ein Apfelbaum unter Waldbäumen ist mein Geliebter inmitten
der Söhne. Ich sitze im Schatten dessen, nach dem mich verlangt,
und seine
Frucht ist meinem Gaumen süß. Er lädt mich zum
Schaumwein in den Keller. Die
Liebe ist seine Fahne über mir. Er ruht mit mir bei Rosinenkuchen
und breitet
mich inmitten von Äpfeln. Ach, ich bin elend vor Liebe! Sein
linker Arm ruht
unter meinem Haupt, sein rechter Arm umfängt mich. Ich
beschwör euch, ihr
Töchter Jeruschalajims, bei den Gazellen oder den Hirschkühen
auf dem Lande,
daß ihr meine Liebe nicht aufstört noch aufwühlt, bis
sie selber es mag. Da ist
die Stimme meines Geliebten. Siehe, er kommt, über die Berge
springt er, über
die Hügel hüpft er. Mein Geliebter ist wie ein Gazellenbock
oder ein junger
Hirsch. Siehe, da steht er hinter der Mauerwand und starrt durchs
Fenster und
blickt durchs Fenstergitter. Mein Geliebter gibt Antwort und spricht
mir zu:
Schelomoh:
Erhebe dich, o meine Geliebte, o meine Schöne, und komm!
Sieh, es schwand die Regenzeit, die Schauer vergingen und sind fort.
Die Blüten
blicken umher auf der Erde, die Zeit ist gekommen, zu hören ist
die Turteltaube
im Lande. Die Feige hat Knospen entfaltet, die Weinstöcke geben
Aroma und
stehen in Blüte. Erhebe dich, o meine Geliebte, o meine
Schöne, und komm! Meine
Taube im Schlupfwinkel, in der Felsspalte, laß mich schauen deine
Erscheinung,
lauschen deiner Stimme, denn deine Stimme ist süß und deine
Erscheinung ist
schön. Fangt uns die Füchse, die kleinen Füchse, die die
Weinberge uns
zerstören, denn unsere Weinberge stehen in Blüte.
Schulammyth:
Mein Geliebter ist mein und ich bin sein, er weidet in den
Lilien. Wenn der Tag sich aushaucht und die Schatten fliehen, dann
wende dich
her und sei gleich einem Gazellenbock, mein Geliebter, oder gleich
einem jungen
Hirsch auf den Scheidehügeln von Bether. - In der Nacht, in meinem
Bett, da
schaut ich aus nach dem, den meine Seele liebet. Ich schaute aus nach
ihm, ich
fand ihn aber nicht. Ich wollte mich erheben und in der Stadt
umherstreifen,
auf den Plätzen und Straßen Ausschau halten nach dem, den
meine Seele liebet.
Ich schaute aus nach ihm, ich fand ihn aber nicht. Es fanden und sahen
mich die
Wachtmänner, die in der Stadt umherstreiften. Sahet ihr den, den
meine Seele
liebet? Kaum war ich an ihnen vorüber, da fand ich den, den meine
Seele liebet.
Ich fasse ihn und lasse ihn nicht und bring ihn zu meiner Mutter in der
Mutter
Haus, in das Zimmer derer, die mich einst empfangen.
Schelomoh:
Ich beschwör euch, ihr Töchter Jeruschalajims, bei den
Gazellen oder den Hirschkühen auf dem Lande, daß ihr meine
Liebe nicht aufstört
noch aufwühlt, bis sie selber es mag. Wer ist sie, die
heraufsteigt aus der
Wüste, wie eine Säule Rauches, wie Räucherwerk von
Myrrhe und Weihrauch und
aromatischem Puder des Händlers?
Die Garde Schelomohs:
Rund um den Diwan Schelomohs sind sechzig Mächtige von den
Mächtigen Jisraels. Schwerter tragen sie alle, Schwerter, und sind
unterrichtet
im Kampf. Ein jeder Mann trägt sein Schwert an seiner Seite, gegen
den Terror
der Nacht. Der König Schelomoh ließ sich eine Sänfte
bauen aus Holz vom
Libanon: die Säulen sind gefertigt aus Silber, die Stützen
aus Gold, die
Sitzkissen sind aus rotem Purpur. Geschmückt ist das Innere,
liebevoll
geschmückt, ihr Töchter Jeruschalajims. Töchter, kommt
heraus und schaut, ihr
Töchter von Zion, schaut den König Schelomoh mit dem Kranze,
mit dem ihn
kränzte die Mutter am Tag seiner Hochzeit, am Tage des Jubels
seines Herzens!
Schelomoh:
So schön, meine Geliebte, du bist so schön, siehe, sehr
schön bist du! Deine Augen unter deinem Schleier sind Tauben.
Deine Haare sind
eine Herde junger Ziegen, die am Berge Gilad lagern. Deine
Elfenbeinzähne sind
eine Herde geschorener Schafe, die aus dem Wasser heraufsteigen,
schön gepaart,
und keines fehlt. Deine Lippen sind eine scharlachrote Linie, dein Mund
ist
schön. Deine Schläfen unter deinem Schleier sind Scheiben vom
Granatapfel. Dein
Hals ist wie Davids Turm, Davids, gut gebaut: Waffen und tausend
Schilde,
Waffen und Schilde der Mächtigen hangen daran. Deine beiden
Brüste sind
Hirschkühe, sind Gazellen, die in Lilien weiden. Wenn der Tag sich
aushaucht
und die Schatten fliehen, wandle ich zum Myrrhenberge und zum
Weihrauchhügel.
Du bist schön, o meine Geliebte, ganz makellos! - Vom Libanon,
meine Braut, vom
Libanon komm, mit mir vom Libanon, komm herbei vom Gipfel des Amanah,
vom
Gipfel des Shenyr und Chermon, von den Lagerplätzen der Löwen
und den Bergen
der Leoparden. Du hast mir geraubt mein Herz, o meine Schwester, o
meine Braut,
mit einem einzigen Blick, mit einer gewissen Halskette deines Halses. O
wie
schön ist deine Liebe, meine Schwester, liebe Braut! Dein Lieben
ist besser als
Wein. Das Aroma deiner Öle übertrifft alle Balsamdüfte.
Deine Lippen, liebe
Braut, sind tropfender Wabenhonig. Milch und Honig sind auf deiner
Zunge. Der
Duft deines Kleides duftet wie der Duft des Libanon. O Schwester, o
Braut, du
bist ein verschlossener Lustgarten, ein verschlossener Brunnen, eine
versiegelte
Quelle. Deine Pflanzung ist ein Paradies von Granatapfelbäumen mit
köstlichen
Früchten, Henna und Narde, Narde und Safran, Kalmus und Zimt,
Weihrauchsträuchern und Aloe, Myrrhe und allerbestem Balsam. Eine
Quelle, eine
Welle lebendiger Wasser, die vom Libanon fließen, bist du.
Erwache, Nordwind,
und komm, du Südwind, und hauch in meinen Garten, daß meine
Balsamen tropfen.
Schulammyth:
Mein Geliebter, komm in den Garten und iß die köstlichen
Früchte.
Schelomoh:
In den Garten kam ich, liebe Schwester, o Braut, in den
Garten. Myrrhe und Balsam pflückt ich, Seim und Waben aß
ich, Milch und Süßwein
trank ich. - Eßt, meine Lieben, und trinkt, meine Gefährten,
und werdet trunken
vor Liebe!
Schulammyth:
Schlafend war ich, mein Herz jedoch war wach. Da war die Stimme
meines Geliebten:
Schelomoh:
Öffne, meine Geliebte, o Schwester, o Täubchen, o du
Vollkommene! Mein Haupt ist voll Nachttau, meine Locken voll
Nachttropfen.
Schulammyth:
Mein Unterkleid hab ich schon ausgezogen, sollt ichs
wieder
anziehn? Meine
Füße hab ich schon gebadet, sollt ich sie wieder
beschmutzen? - Mein Geliebter
streckte seine Hand durchs Loch der Pforte, meine Inneres war sehr
aufgewühlt.
Ich erhob mich, meinem Geliebten zu öffnen. Meine Hände
tropften von Myrrhe am
Riegel des Schlosses. Ich öffnete meinem Geliebten, tat ihm auf,
da hatte sich
abgewandt mein Geliebter, hatte sich abgewandt und war fortgegangen.
Meine
Seele war außer sich, als er gesprochen. Ich suchte ihn, ich fand
ihn aber
nicht, ich rief ihn, aber er gab keine Antwort. Mich fanden und
schlugen die
Wachtmänner, die umherstreiften in der Stadt, sie schlugen mir
Wunden, die
Wachtmänner auf der Mauer, sie raubten mir meinen Schleier. Ich
beschwör euch,
ihr Töchter Jeruschalajims: Findet ihr meinen Geliebten, dann
erklärt ihm, daß
ich elend bin vor Liebe, elend!
Die Töchter
Jeruschalajims:
Wie ist dein Geliebter inmitten der Lieben, o du Schönste
der Frauen? Wie ist dein Geliebter inmitten der Lieben, daß du
uns derart
beschwörst?
Schulammyth:
Mein Geliebter ist glühend und frisch, Erster unter
Myriaden. Sein Haupt ist reines Gold. Die Locken seines Hauptes sind
gelockt
wie Dattelrispen und schwarz wie Raben. Seine Augen sind Tauben an
Wasserbächen, sie sind in Milch gebadet, sie sitzen am Teichrand.
Seine Wangen
sind Gartenterrassen, wo Balsam blüht. Seine Lippen sind Lilien,
tropfend von
fließender Myrrhe. Seine Hände sind goldene Ringe mit gelbem
Jaspis. Sein
Inneres ist kunstreich geziertes Elfenbein mit eingelegtem Lapislazuli.
Seine
Beine sind Marmorsäulen auf Fußgestellen aus fein
geläutertem Gold. Seine
Erscheinung ist wie des Libanons erwählte Zeder. Sein Gaumen ist
Süßigkeit,
sein Mund begehrenswert. So ist mein Geliebter, mein Geliebter ist so,
ihr
Töchter Jeruschalajims.
Die Töchter
Jeruschalajims:
Wohin ist denn dein Geliebter gegangen, o du Schönste der
Frauen? Wohin hat sich dein Geliebter gewandt? Wir suchen ihn mit dir.
Schulammyth:
Mein Geliebter ging hinab zu den Gartenterrassen, zu den
Blumenbeeten, zu weiden im Garten und Lilien zu pflücken. Ich bin
meines
Geliebten und mein Geliebter ist mein, der in den Lilien weidet.
Schelomoh:
Du bist schön, o meine Geliebte, wie Tirzah, herrlich wie
Jeruschalajim, mächtig wie Heeresscharen. Wende deine Augen, wende
sie ab, sie
wühlen mich auf! Deine Haare sind eine Herde junger Ziegen, die am
Berge Gilad
lagern. Deine Elfenbeinzähne sind eine Herde geschorener Schafe,
die aus dem
Wasser heraufsteigen, schön gepaart, und keines fehlt. Deine
Schläfen unter
deinem Schleier sind Scheiben vom Granatapfel. Sechzig Königinnen,
achtzig
Konkubinen, Jungfraun ohne Zahl - aber Eine ist mein Täubchen,
meine
Vollkommene, der Mutter reine Tochter, Erwählte ihrer
Gebärerin. Töchter sahen
sie und lobten sie als Gesegnete, und Königinnen und Konkubinen
rühmten sie.
Wer ist sie, die niederschaut wie die Morgenröte, milde wie der
Mond und rein
wie die Sonne und herrlich wie der Sternenscharen?
Schulammyth:
In den Park hinab, in den Nußgarten ging ich, dort zu
schauen das frische Grün an den Bächen und ob die
Granatapfelbäume blühen und
die Weinstöcke treiben. Ich weiß nicht, wie mich meine Seele
setzte aufs
Triumphgefährt meines willigen Volkes.
Die Töchter
Jeruschalajims:
Komm wieder, komm wieder, Schulammyth! Komm wieder, komm
wieder, daß wir dich schauen!
Schulammyth:
Was wollt ihr sehen tanzen Schulammyth den Tanz im Lager von
Mahanajim?
Die Töchter
Jeruschalajims:
Schön sind deine Füße in den Sandalen, Prinzessin!
Deine
Schenkel biegen sich wie zwei Juwelenspangen, Werke der Hände
eines Künstlers.
Dein Schoß ist ein runder Kelch, dem nie der Mischwein mangelt.
Dein Leib ist
ein Weizenbündel, umkränzt von Lilien. Deine beiden
Brüste sind zwei Zwillinge
von Rehen oder Gazellenkitzen. Dein Hals ist ein Elfenbeinturm. Deine
Augen
gleichen den Teichen von Heschbon am Tor von Bath Rabbym. Deine Nase
gleicht
dem Türmchen auf dem Libanon, der sein Antlitz wendet gen
Dammaseq. Dein Haupt
gleicht dem Karmelberge. Die Haare deines Hauptes sind Purpur, ein
König liegt
in deinen Locken gefangen.
Schelomoh:
O wie schön und süß bist du, o freudenreiche Liebe!
Deine
hohe Gestalt gleicht der Dattelpalme. Deine Brüste gleichen den
Trauben des
Weines. Sprach ich: Die Dattelpalme will ich ersteigen, ihre Rispen
fassen.
Deine Brüste seien mir Trauben des Weinstocks, der Duft deines
Hauches sei mir
Duft von Äpfeln und dein Gaumen mir wohlschmeckender Wein, der
weich dem
Geliebten eingeht, die Lippen des Schlafenden lieblich bewegt.
Schulammyth:
Ich bin meines Geliebten, sein Verlangen ist nach mir. -
Komm, Geliebter, wandeln wir aufs Feld und schlafen unter Henna!
Früh auf zu
den Weinbergen, da zu schauen, ob der Weinstock gedeiht und die
Granatapfelbäume blühen. Dort will ich dir Liebe geben. - Die
Liebesäpfel geben
ihr Aroma. Vor unserm Tor sind viele köstliche Früchte, mein
Geliebter,
aufbewahrt hab ich dir frische, vorjährige hab ich dir aufbewahrt.
- Ach wärest
du mein Milchbruder, der am Busen meiner Mutter gesogen! Fänd ich
dich draußen,
ich wollt dich küssen, und niemand dürfte mich verachten. Ich
wollt dich führen
und bringen ins Haus meiner Mutter, die mich unterwiesen. Ich wollt
dich
tränken mit würzigem Wein und dem Süßmost meiner
Granatäpfel. - O, sein linker
Arm liegt unter meinem Haupt, sein rechter Arm umfängt mich.
Schelomoh:
Ich beschwör euch, ihr Töchter Jeruschalajims, daß ihr
meine
Liebe nicht aufstört noch aufwühlt, bis
sie selber es mag.
Die Brüder der
Schulammyth:
Wer ist sie, die heraufkommt aus der Wüste und sich an den
Geliebten anlehnt?
Schelomoh:
Unterm Apfelbaume hab ich dich aufgeweckt: deine Mutter hat
dich dort empfangen, deine Mutter hat dich dort empfangen und geboren.
Drück
mich wie ein Siegel an dein Herz, mich wie ein Siegel an deinen Arm.
Liebe ist
mächtig wie der Tod, und Eifersucht ist grausam wie die
Hölle. Der Liebe Flamme
flammt wie eine lichte Flamme Gottes!... Auch viele Wasser können
die Liebe
nicht auslöschen, noch Ströme sie ertränken. Gäbe
ein Mensch auch allen
Reichtum seines Hauses für die Liebe, so wär das doch
verachtenswert.
Die Brüder der
Schulammyth:
Unsere Schwester ist klein und hat noch keinen Busen. Wie
sollen wir tun der Schwester, wenn der Tag der Werbung kommt? Ist sie
eine
Mauer, bauen wir einen silbernen Mauerkranz auf ihr; ist sie eine
Pforte,
riegeln wir sie zu mit Zedernbalken.
Schulammyth:
Ich bin eine Mauer, meine Brüste sind Rundtürme. Ich ward in
seinen Augen eine, die Frieden fand. Schelomoh besitzt einen Weinberg
in
Baal-Hamon, und er gab den Weinberg an die Gärtner. Jeder Mann
bekommt für die
Früchte tausend Silbermünzen. Mein Weinberg ist vor mir. Dir,
Schelomoh,
tausend Silbermünzen; zweihundert den Gärtnern der
Früchte.
Schelomoh:
Im Garten Wohnende, lauschen laß mich deiner Stimme, auch
die Gefährten hören auf sie.
Schulammyth:
Eile, mein Geliebter, und sei wie ein Gazellenbock oder ein
junger Hirsch auf den Balsambergen!
LAMENTATIONEN
I
1) Wie sitzt die Stadt in Einsamkeit! Sie hatte einst viel
Volk, jetzt gleicht sie einer Witwe. Groß war sie inmitten der
Völker, eine
Prinzessin vieler Provinzen, doch nun ist sie versklavt.
2) Sie weint in den Nächten, Tränen strömen über
ihre
Wangen. Keiner ihrer Geliebten tröstet sie. Ihre Freunde sind
verräterische
Feinde geworden.
3) Jehuda ging in die Gefangenschaft der Misere und schwerer
Arbeit. Sie wohnt inmitten der Völker und findet keine Ruhe. Die
ihr nachjagen,
holen sie ein und fügen ihr elende Schmerzen zu.
4) Es weinen die Wege von Zion. Niemand kommt mehr zur
Versammlung. Trostlos traurig sind ihre Tore. Ihre Priester seufzen.
Ihre
Jungfraun jammern. Ah, sie ist sehr bitter!
5) Ihre Unterdrücker sind auf dem Gipfel ihrer Macht, ihre
Feinde haben Erfolg. Wegen der Menge ihrer Rebellionen hat Jahwe sie
traurig
gemacht. Ihre Kinder mußten in die feindliche Gefangenschaft
gehen.
6) Der Tochter Zion ist genommen alle Glorie. Ihre Prinzen
sind wie Hirsche, die nicht mehr die Weide finden. Sie müssen vor
dem Verfolger
hergehn ohne Kraft.
7) Jeruschalajim denkt in diesen Tagen an ihre Heimsuchung
und Ruhelosigkeit, sie erinnert sich daran, wieviel begehrenswerte
Kostbarkeiten aus des Altertums Tagen sie hatte, aber nun ist
niedergeschlagen
ihr Volk und in der Hand der Hasser, und niemand hilft ihr mehr. Ihre
Feinde
schauen auf sie herab und spotten über ihr Vernichtetsein.
8) Jeruschalajim sündigte Sünden, sie ist eine Unreine. Die
sie verehrten, verachten sie jetzt, sie sehen jetzt ihre
beschämende Nacktheit.
Sie seufzt und wendet sich ab.
9) Ihre Unreinheit klebt an ihrem Rock. Sie bedachte nicht
ihr Ende, es ist ja auch zu wunderbar. Sie ist niedergesunken und hat
keinen
Tröster. Ah weh, Jahwe, sieh auf meine Misere! Der Feind ist zu
mächtig.
10) Der Unterdrücker hat ausgebreitet seine Hände über
alle
ihre begehrenswerten Kostbarkeiten. Sie mußte zusehen, wie die
Heiden in ihr
Heiligtum eintraten, obwohl du geboten, daß diese nicht treten
dürften in die
Versammlung.
11) Ihr Volk seufzt sehr und verlangt nach Speise. Es gibt
seine Kostbarkeiten für Fleisch her, die Seele damit zu
stärken. Ah weh, Jahwe,
sieh und gewahre, wie wertlos ich wurde!
12) Ist es denn garnichts für euch, die ihr die Wege
vorüberzieht? Seht und betrachtet, ob da ein Schmerz ist wie mein
Schmerz, der
auf mich geworfen wurde! Ich machte Jahwe traurig am Tage seines
brennenden
Zornes.
13) Ein Feuer der Höhe sandte er in meine Gebeine und ließ
es darin herrschen. Er breitete meinen Füßen ein Fangnetz
aus, er hat mir den
Rücken zugewandt. Trostlose Traurigkeit gab er mir. Täglich
werde ich matter.
14) Meine Rebellion ist gebunden worden von seiner Hand und
als Schlinge an meinen Hals gekommen. Es taumelte meine Kraft. Der Herr
hat
seine Hand an mich gelegt, ich kann nicht mehr aufstehn.
15) Der Herr hat niedergetreten alle Mächtigen in meiner
Mitte. Eine Vereinigung hat er gegen mich einberufen, meine Jugend zu
vernichten. Der Herr hat die Jungfrau, die Tochter Jehuda, zertreten
wie in
einer Kelter.
16) Das beweine ich, und aus Auge und Auge strömen mir
Wasser nieder, denn der Tröster, der meiner Seele Linderung
verschaffen könnte,
ist fern. Meine Söhne sind trostlos traurig. Es herrscht der
Feind.
17) Zion breitet ihre Hände aus, doch ist kein Tröster da.
Jahwe hat rings um Jaaqob den Unterdrückern geboten: Jeruschalajim
soll sein
wie eine Unreine mitten unter ihnen.
18) Jahwe ist gerecht. Ich aber rebellierte gegen seinen
Mund. Hört, ihr Völker, und seht an meinen Schmerz! Jungfraun
und Jünglinge
gingen in die Gefangenschaft.
19) Meine Geliebten rief ich, sie aber betrogen mich. Meine
Priester und Ältesten in der Stadt sind dem Tode nah; sie suchen
Speise, die
Seele zu stärken.
20) Ah weh, Jahwe! Sieh, ich leide Qual! Meine Eingeweide
brennen, mein Herz windet sich bitter in meiner Mitte. Ich war so
rebellisch,
daß draußen das Schwert und drinnen im Haus das Sterben
mich meiner Kinder
beraubt.
21) Sie hören, wie ich seufze, und trösten mich nicht. Meine
Feinde hören von meiner Misere und jubeln. Das hast du getan.
Laß kommen den Tag,
den du ausgerufen, so wird es ihnen werden wie mir.
22) Laß ihr Böses vor dein Angesicht kommen und handle an
ihnen so, wie du an mir gehandelt wegen meiner Rebellion. Meiner
Seufzer sind
viele, und matt ist mein Herz.
II
1) O wie hat der Herr die Tochter Zion mit Zorn bewölkt! Er
hat niedergeschmettert die Schönheit Jisraels vom Himmel auf die
Erde, er hat
nicht mehr gedacht der Fußbank seiner Füße in der Zeit
seines Zornes!
2) Der Herr hat jeden Wohnsitz Jaaqobs ohne Mitleid
zerstört, er hat der Tochter Jehuda alle Hochburgen ruiniert und
sie in Rage
zerschmissen! Er entweihte den König und die Prinzen des Landes.
3) Alle Krafthörner Jisraels hat er in seinem brennenden
Zorn zerschlagen. Er hat seine rechte Hand auf den Rücken gewandt
vor dem Feind
und in Jaaqob Flammenspitzen des Feuers angezündet, die fressen im
Umkreis
umher.
4) Er hat den Bogen gespannt wie ein Feind, seinen rechten
Arm erhoben wie ein Gegner und alles geschlagen, was den Augen
begehrenswert
war, und seine heiße Rage wie Feuerflammen ausgeschüttet im
Zelt der Tochter
Zion.
5) Der Herr ist wie ein Feind geworden, und Jisrael ist
vernichtet. Er hat vernichtet ihre Zitadellen und zerstört die
Festungen. Er
hat der Tochter Jehuda Klagen und Kummer in Menge bereitet.
6) Er hat sein Tabernakel zerwühlt wie einen Garten und sein
Versammlungszelt zerstört. Jahwe hat in Zion Festversammlung und
Shabbat in
Vergessenheit geraten lassen. In seinem Zorn und Ärger verachtete
er den König
und die Priester.
7) Der Herr hat seinen Altar beiseite getan, sein Heiligtum
verabscheut er. Die Mauern ihrer Burgen hat er den Händen der
Feinde
ausgeliefert. Im Tempel Jahwe’s erklangen ihre Stimmen wie an Tagen der
Festversammlung.
8) Jahwe plante, die Mauern der Tochter Zion zu runinieren.
Er hat die Meßschnur gespannt. Er hat seine Hand nicht abgewandt,
bis er sie
verschlungen hatte. Die Festungswälle lamentieren zusammen, und
die Burgmauern
sind zu schwach.
9) Ihre Tore sanken in den Grund, ihre Riegel hat er
zerbrochen und zerstört. Ihr König und ihre Prinzen sind
unter den Völkern, wo
sie die Torah nicht finden. Ihre Propheten empfangen keine Visionen
mehr von
Jahwe.
10) Die Alten der Tochter Zion sitzen verstummt auf dem
Grund, sie werfen sich Staub auf die Häupter und haben
gegürtet ihr Sackleinen.
Die Jungfraun von Jeruschalajim lassen die Köpfe hängen zur
Erde.
11) Tränen erfüllen meine Augen. Meine inneren Organe sind
sehr aufgewühlt, meine Leber ist ausgeschüttet auf die Erde
wegen des Zerbruchs
der Tochter meines Volkes, da die Säuglinge und die Kinder auf den
Plätzen von
Schwäche überwältigt sind.
12) Ihren Müttern sagen sie: Wo ist Speise, wo ist Trank?
Auf den Plätzen der Stadt sind sie von Schwäche
überwältigt wie tödlich
Verwundete, an den Brüsten ihrer Mütter schütten sie
ihre Seelen aus.
13) O Tochter Jeruschalajim, womit soll ich dich
vergleichen? Was soll ich dir bezeugen? O Jungfrau, Tochter Zion, wem
bist du
gleich? Womit soll ich dich trösten? Dein Zerbruch ist riesig wie
ein
brüllendes Meer. Und wer wird dich heilen?
14) Deine Propheten schauten dir Hohles und Geschmackloses,
sie haben dir deine Verkehrtheit nicht entdeckt. Doch damit hätten
sie
abgewendet deine Gefangenschaft. Aber sie schauten dir nichtige
Sprüche über
deine Lasten und deine Verbannung.
15) Die Vorübergehenden schlagen die Hände zusammen über
dich, pfeifen dir nach, die Köpfe schüttelnd über die
Tochter Jeruschalajim:
Ist dies die Stadt, die man nennt: die vollkommene Schönheit, die
Freude der
ganzen Erde?
16) Alle deine Feinde zerreißen sich das Maul über dich und
pfeifen dir nach und knirschen mit den Zähnen und sprechen: Ha,
wir fraßen sie!
In der Tat ist dies der Tag, auf den wir gewartet, wir haben ihn
gefunden und
erblickt!
17) Jahwe vollbrachte seinen Plan. Er hat sein Wort, daß er
in alten Zeiten angeordnet, vollbracht. Ohne Mitleid riß er
nieder. Er ließ den
Feind sich freuen über dich und hat das gewaltige Horn deiner
Heimsuchung hoch
erhoben.
18) Ihr Herz schreit laut zum Herrn. O Mauer der Tochter
Zion, laß am Tag und in der Nacht die Schauer von
Trauertränen niederströmen
wie eines Stromes Fluten, gib nicht Ruh und laß nicht einhalten
deine Augäpfel!
19) Erhebe dich in der Nacht und weheklage und schütte dein
Herz wie Wasser aus vor dem Herrn zu Beginn der Nachtwache. Hebe deine
Hände zu
ihm auf für die Seelen deiner Kinder, die von Hunger
überwältigt sind an den
oberen Straßen.
20) O Jahwe, schau und gewahre, wen du mit so strenger Härte
behandeltest! Sollen denn die Frauen ihre Leibesfrüchte fressen,
die Kinder
ihrer zarten Fürsorge? Sollen Propheten und Priester denn im
Heiligtum des
Herrn ermordet werden?
21) In den Straßen, auf dem Boden liegen Jünglinge und Alte
darnieder. Meine Jungfraun und jungen Männer sind durchs Schwert
gefallen. Du,
du mordetest in der Zeit deines Zornes und hast niedergemetzelt ohne
Mitleid!
22) Du hast den Terror im Umkreis aufgerufen wie zu
Festzeiten, und niemand ist in den Zeiten des Zornes Jahwe’s entkommen
oder
überlebte. Die ich auf den Händen getragen und erzogen habe,
die hat der Feind
verschlungen.
III
1) Ich bin der elende Mann, der die Rute Seiner
überwallenden Rage sah.
2) Er führte mich und ließ mich gehen in die Dunkelheit und
nicht ins Licht.
3) Er wandte seine Hand gegen mich Tag für Tag.
4) Mein Fleisch und meine Haut ließ er altern, und meine
Knochen brach er mir.
5) Bitternis schuf er, und Härte schlug mich von allen
Seiten.
6) Im Dunkeln ließ er mich wohnen wie schon lang Gestorbene.
7) Mauern zog er auf gegen mich, daß ich nicht heraus kann,
er hat mich mit Eisenketten beschwert.
8) Wenn ich auch schreie und brülle, verschließt er sich
doch meinem Gebet.
9) Meine Wege verbaute er mit geschlagenen Quadern und hat
den Pfad meiner Füße verwirrt.
10) Er lag im Hinterhalt wie ein Bär und wie ein Löwe im
Verborgenen.
11) Er hat mich abseitige Wege wandeln lassen, er hat mich
zerrissen und trostlos traurig gemacht.
12) Er hat seinen Bogen gespannt und mich zum Ziel seiner
Pfeile gemacht.
13) Die Köcherkinder ließ er in meine Nieren dringen.
14) Ein Gelächter bin ich den Leuten und jeden Tag ihr
Spottlied.
15) Mit Bitternis hat er mich gesättigt und mit Wermut
getränkt.
16) Meine Zähne hat er zu Schotter zermalmt. Er trat mich in
die Asche.
17) Der Friede verwarf meine Seele. Ich hab alles Schöne
vergessen.
18) Da rief ich: Vergangen ist mein Leben und zunichte meine
Hoffnung auf Jahwe.
19) Mach dir doch bewußt, wie elend und ruhelos ich bin,
gedenke des Schierlingsbechers und des Schlangengifts!
20) Niedergesunken ist meine Seele.
21) Aber mein Herz wandte sich zur Hoffnung.
22) Das ist doch die Freundlichkeit Jahwe’s, daß wir noch
nicht ganz am Ende sind.
23) Sein Schoß ist erfüllt von Barmherzigkeit, die ist jede
Morgenröte frisch, und seine Treue ist gewiß.
24) Jahwe ist mein Anteil, spricht meine Seele, und ihn will
ich erwarten.
25) Jahwe ist gut dem, der auf ihn wartet, und der Seele,
die ihn sucht.
26) Es ist schön, Hoffnung zu haben, mit sehnsüchtiger
Erwartung in aller Stille, auf Jahwe’s Erlösung.
27) Es ist gut für einen Mann, in seiner Jugend sein Joch zu
tragen,
28) dem isoliert Wohnenden, stille zu sein, wenn er etwas zu
tragen hat.
29) Er lege seinen Mund in den Staub. Mag sein, da ist
Hoffnung.
30) Er lasse sich Ohrfeigen geben und sich mit Vorwürfen
sättigen.
31) Der Herr verbirgt sich nicht für immer.
32) Er mutet wohl Trübsal zu, aber er liebt auch innig mit
dem Reichtum seiner Güte.
33) Nicht von Herzen knickt er die Menschen und betrübt sie.
34) Daß man die Gefangenen des Landes mit Füßen tritt
35) und das Recht eines Mannes beugt im Angesicht des
Allerhöchsten
36) und eines Mannes Disput verwirft: sollte das der Herr
nicht sehen?
37) Wer sprach und es geschah, ohne die Worte des Herrn?
38) Das Unheil und das Gute, kommt es denn nicht hervor aus
dem Munde des Allerhöchsten?
39) Was beschweren sich die Menschen über ihr Leben? Klage
über seine Sünde der Mann!
40) Laßt uns untersuchen und erforschen unsre Wege, daß wir
umkehren zu Jahwe.
41) Herz und Hände laßt uns erheben zu Gott im Himmel!
42) Wir revoltierten und rebellierten, und du hast uns nicht
entschuldigt,
43) sondern überschattet mit Zorn und verfolgt und ohne
Mitleid geschlagen.
44) Mit Wolken hast du uns überschattet, und kein Gebet
drang hindurch.
45) Du hast uns zu Ausscheidung und Auswurf gemacht inmitten
der Völker.
46) Unsre Feinde zerreißen sich das Maul über uns.
47) Ruin! Zerbruch! Terror! Gräber!
48) Meinen Augen entstürzen Wasserbäche über den
Zerbruch
der Tochter meines Volkes.
49) Meine Augen quellen über ohne Aufhören, und es ist kein
Halten mehr,
50) bis Jahwe vom Himmel niederschaut und sieht uns wieder
an.
51) Meine Augen quälen meine Seele wegen der Töchter meiner
Stadt.
52) Die Feinde haben mich wegen nichts gejagt wie einen
Sperling.
53) Mein Leben haben sie fast in der Grube zuendegebracht
und Steine auf mich geworfen.
54) Sie haben mein Haupt mit Wassern überflutet, daß ich
rief: Ah, ich bin entzwei!
55) Da rief ich deinen Namen an, Jahwe, aus der Tiefe der
Grube.
56) Und du hörtest meine Stimme. Verschließe deine Ohren
nicht meinem hilferufenden Atmen!
57) Du kamst mir nah in der Zeit, da ich dich rief, und
sprachest: Hab keine Angst!
58) Du bemühtest dich, Herr, um den Streit meiner Seele und
erlöstest mein Leben.
59) Sieh, Jahwe, den Sturz meines Rechts, und schaffe mir
Gerechtigkeit.
60) Sieh an ihre Pläne und Rachetaten gegen mich,
61) Jahwe, und höre ihre Schandreden und Gedanken über mich,
62) die Lippen derer, die sich gegen mich erheben, und merke
auf ihre Künste gegen mich alle Tage.
63) Schau, wenn sie sitzen oder aufstehn, singen sie
Spottlieder über mich.
64) Wende dich, Jahwe, und vergelte ihnen nach den Taten
ihrer Hände.
65) Gib ihnen Blindheit des Herzens und deinen Fluch!
66) Verfolge sie mit Zorn und zernichte sie unter dem
Himmel, Jahwe!
IV
1) Das Gold ist schwarz geworden, das Reingold hat sich
gewandelt. Die Steine des Heiligtums wurden in die Gosse geworfen.
2) Die wertgeschätzten Kinder Zion, aufgewogen sonst mit
geläutertem Golde, sind nun den Tontöpfen gleichgeachtet, den
Werken der
Arbeiterhände.
3) Auch Schakale säugen ihre Brut an ihren Brüsten, und die
Tochter meines Volkes soll grausam sein wie ein Strauß der
Wüste?
4) Dem Säugling hängt die Zunge aus dem Munde vor Durst, und
die Kinder betteln um Brot, doch niemand teilt es ihnen aus.
5) Die einst Leckerbissen speisten, liegen nun trostlos in
der Gosse. Die einst Scharlachstoffe trugen, liegen jetzt im Mist.
6) Die Perversion der Tochter meines Volkes ist schlimmer
als die Sünde Sodoms, das in Einem Augenblick
überwältigt ward, und es rührte
sich keine Hand.
7) Ihre Geweihten waren reiner als Schnee und weißer als
Milch, ihre Glieder waren röter als Rubine, ihr auserlesener
Schmuck Saphire.
8) Nun aber ist ihre Gestalt ganz schwarz vor Finsternis,
und keiner erkennt sie mehr in der Gosse. Ihre Haut schrumpelt an ihren
Knochen, vertrocknet wie ein Galgenbalken.
9) Den vom Schwert Geschlagenen gings besser als den vom
Hunger Geschlagenen und jenen, die verschmachteten und durchbohrt
wurden vom
Mangel an Feldfrucht.
10) Die Hände einst barmherziger Frauen kochten ihre Kinder,
um sie zu fressen mitten im Ruin der Tochter meines Volkes.
11) Jahwe hat seine Rage vollendet, er hat seinen glühenden
Zorn ausgeschüttet und in Zion ein Feuer gelegt, das auch die
Fundamente fraß.
12) Die Könige der Erde hätten es nicht geglaubt und nicht
die Weltbewohner, daß der Feind und Gegner durchs Tor
Jeruschalajims kommen
würde.
13) Wegen der Sünden der Propheten und der Priester
Verkehrtheiten geschah es, die inmitten der Stadt das Blut der
Gerechten
vergossen.
14) Sie irrten zitternd durch die Gassen wie Blinde, mit
Blut besudelt, daß man ihre Kleidung nicht berühren mochte.
15) Man rief: Weg mit euch, Unreine, weg mit euch, und fasst
nichts an! Sie flohen und irrten umher, da sprach man bei den
Völkern: Sie
sollen nicht länger bleiben!
16) Jahwe’s Angesicht hat sie vertrieben, er wollte sie
nicht mehr sehen. Die Priester mochte man nicht mehr ertragen, und mit
den
Alten hatte man keine Barmherzigkeit mehr.
17) Unsre Augen schmachteten, aber nach nichtiger Hilfe. Wir
hielten Ausschau wie Wachtürme, aber nach einem Volk, das uns
nicht retten
wird.
18) Man jagte unsern Schritten nach, und wir durften nicht
auf unsern Marktplätzen wandeln. Da nahte unser Ende, die Zeit war
erfüllt,
unser Ende war nah herbeigekommen.
19) Die uns verfolgten, waren schneller als Geier am Himmel.
Im Gebirge jagten sie uns und lauerten uns auf in der Wüste.
20) Unser Atem, der Messias Jahwe’s, ward gefangen genommen
von der Grube.- Wir sprachen: In seinem Schatten wollen wir leben
inmitten der
Völker.-
21) Jauchze und sei fröhlich, du Tochter Edom, Bewohnerin
des waldigen Landes Uz: Der Becher wird zu dir kommen, und du wirst
werden
trunken und entkleidet!
22) Aber deine Verkehrtheit wird ein Ende haben, o Tochter
Zion, und er wird dich nicht länger führen ins Exil. Aber du
Tochter Edom,
deine Perversität wird er heimsuchen und wird deine Sünden
bloßstellen.
V
1) Denke daran, Jahwe, wie es uns geht. Schau und sieh unsre
Schande an.
2) Unser Erbbesitz ward den Fremden zugewendet und unsre
Häuser den Unbekannten.
3) Wir sind Waisen und ohne Väter, unsre Mütter sind Witwen.
4) Wasser trinken dürfen wir nur gegen Schekel, Holz kommt
nur gegen Geld.
5) Unsre Verfolger sind uns im Nacken. Haben wir uns müd
gearbeitet, gibt es doch keine Ruhe.
6) Wir mussten Mizraim und Aschur die Hand geben, damit wir
bekämen Brot zum Sattwerden.
7) Unsre Väter sind fehlgegangen und wurden zu Nichts. Wir
müssen nun ihre Verkehrtheiten tragen.
8) Sklaven beherrschen uns, und niemand zerschlägt ihnen die
Hände.
9) Wir holen unser Brot unter Lebensgefahr, im Angesicht der
Schwerter in der Wüste.
10) Unsre Haut glüht wie im Feuerofen vor brennendem Hunger.
11) Sie haben die Frauen in Zion unterdrückt und die
Jungfraun in den Städten Jehudas.
12) Die Prinzen wurden von ihrer Hand gehängt, die alten
Menschen wurden nicht geachtet.
13) Junge Männer mußten Mühlsteine schleppen, und die
Knaben
sollten stolpern beim Holztragen.
14) Es sitzen die Alten nicht mehr in Ruhe im Tor, die
Jünglinge nicht mehr bei den Musikinstrumenten.
15) Die Freude in unsern Herzen ist verschwunden, unsre
Tänze sind zu Trauerritualen geworden.
16) Die Krone unsres Hauptes ist gefallen. Ah weh, wir
sündigten so!
17) Unser Herz ist krank, unsre Augen dunkel geworden
18) wegen des Berges Zion, der desolat ist, und über den die
Schakale laufen.
19) Aber du, Jahwe, du thronst ewig auf deinem Thron, von
Epoche zu Epoche,
20) willst du uns für immer vergessen und uns unser Leben
lang verlassen sein lassen?
21) Bring uns, Jahwe, wieder zu dir und laß uns heimkehren.
Ja, erneuere unsre Zeit wie einst.
22) Oder verachtest du uns und zürnest du über uns zu sehr?