Eine kurze Einführung in die Geschichte Dersims

Für manche ist Dersim ein Land, eine Region mit eigener Sprache, Kultur und Geschichte. Für andere aber existiert Dersim mit seiner Eigenständigkeit nicht mehr: für türkische Politiker und Historiker besteht keinen Zweifel daran, daß Dersim türkisch ist. Schon 1903 schreibt z.B. der türkische Verwalter Arif Bey folgendes: ”Dersim ist ein alter Unterschlupf der Türken. Man trifft hier außer den Werken und Spuren der Türken keine andere Generation (Nation)”

Das Prinzip des Nationalismus der jungen nationalen Türkei Atatürks besagte: ”Alle, die in der Türkei leben, sind Türken.”

Der türkische Nationalist Naþit Hakký schrieb 1931: ”Muhammed ist Araber, aber die Dersimer sind echte Türken aus Horosan.”

Heute beanspruchen neben den Türken auch die kurdischen Nationalisten Dersim für sich und versuchen, eine sich von Kurden und Türken selbständig entwickelnde emanzipatorische und zivile Bewegung zu verhindern. Tatsache ist, daß Dersim ein Territorium ist, in dem Menschen wegen ihrer gemeinsamen Geschichte, Religion (Alevitentum) und Sprache vom osmanischen Reich bis heute angegriffen wurden. Trotz mehrerer Angriffe der osmanischen und türkischen Regierung konnte Dersim bis 1938 seinen Autonomiestatus -auch wenn begrenzt- bewahren.

Dersim ist ein Land vielfältiger Kulturen und Sprachen. Dersim liegt im nördlichen Flußtal von Euphrat und Tigris; im Nordwesten von Armenien, dem Norden von Kurdistan und im Osten der Türkei. Dersim hatte bis 1937-38 einen Autonomiestatus. Erst 1938 wurde Dersim durch eine militärische Unterwerfungskampange, die von Massakern und Deportationen begleitet war, in die türkische Verwaltung eingegliedert. Dersim ist alevitisch. Das Dersim-Alevitentum wird zwar zur liberalen vorislamischen und islamische Glaubensrichtung gezählt, distanziert sich aber stark vom Islam. Gegenüber den orthodoxen Sunniten in der Türkei stellen die Aleviten eine Minderheit dar. Verschiedene Quellen sprechen von verschiedenen Zeitpunkten des Ankommens indoeuropäischer Stämme in diesem Gebiet. Viele Historiker sind sich darüber einig, daß indogermanische Völker schon seit dem 2. und 3. Jahrtausend v. Chr. keine Fremdlinge mehr im Nahen Osten waren. Sie wanderten in das armenische Bergland ein, paßten sich den lokalen Verhältnissen an und übernahmen viele der lokalen Bräuche.

Einige Historiker, Sprach- und Gesellschaftswissenschaftler vertreten die Ansicht, daß die Dersimer, bzw. Dimili ursprünglich aus Deylam, südwestlich des Kaspischen Meeres, stammten. Mit dem Sieg der Seltschucken über das byzantischen Reich 1071 breiteten sich türkische Stämme in Anatolien aus. 1300 wurde das Osmanische Reich gegründet und 1453 eroberte der osmanische Herrscher Fatih Sultan Mehmet Konstantinopel. Mit der Eroberung von Istanbul begann die Ausdehnung des Osmanischen Reiches: Im Westen wurde Trazien, Mazedonien, Serbien, Bulgarien, Bosnien, Albanien, Griechenland, Ungarn und im Osten Syrien, Westarmenien, Kurdistan und Ägypten erobert. Es gelang den osmanischen Türken, bis vor Wien zu gelangen. Der osmanische Sultan Selim der Grausame kämpfte 1514 gegen das Safaviden Reich und siegte in Dhaldiran, westlich vom Euphrat. Dersim hatte in dieser Zeit ein Bündnis mit der politisch-religiösen Gemeinschaft der Safaviden, während die Kurden für die Osmanen Partei ergriffen. Die Osmanen begannen, die Kizilbas (Aleviten) wegen ihres alevitischen Glaubens auszurotten. Die Pforte forderte mit Nachdruck die Provinzgouverneure auf, die Kizilbas in ihren Regierungsbezirken ausfindig zu machen, sie einzukerkern.

Nach der Eroberung von Istanbul und mit dem Sieg über die Safaviden erklärte das Osmanische Reich Dersim als Territorium des osmanischen Reiches. Bis zur Gründung der türkischen Republik (1923) wurde Dersim aufgrund seines autonomen Status und alevitischen Glaubens mehrmals von sunnitischen Türken angegriffen. Dennoch gelang es dem Osmanischen Reich nicht, eine absolute Macht und Herrschaft über Dersim auszuüben. Der türkische Ultranationalist N. Hakki, der von der türkischen Republik beauftragt wurde, Berichte über Dersim zu schreiben, bestätigt dies: Dersim wurde im 15. Jahrhundert dem osmanischen Herrscher Fatih Sultan Mehmet angeboten... Während der Sultan Yavuz Selim gegen den persischen Herrscher Schah (Ismail) in Canldiran kämpfte, ließ er die Berge der Kizilbas nicht unerschüttert zurück. Seit dieser Zeit gehört Dersim zu unserer Geographie. Aber Dersim schließt uns mit einer unvergleichlichen Hartnäckigkeit seine Tür von innen

ab.

Die osmanische Regierung entwickelte gegen Ende des 19. Jh. Pläne, wie Dersim zu erobern wäre:

a) Dersim sollte angegriffen werden.

b) Das islamische Recht, die Scheria sollte als Rechtssystem eingeführt werden.

c) Das türkische Schulsystem sollte eingeführt werden.

e) Diejenigen, die sich wehrten, sollten deportiert werden.

Dersim konnte trotz mehrfacher militärischer Angriffe des osmanischen Reiches seinen selbständigen Status bis nach der Gründung der türkischen Republik bewahren. Dersim ist von den seit dem 11. Jahrhundert in der Region herrschenden Dynastien der Seldschuken, Karakoyunlu, Akkoyunlu und Safawiden, auch nicht bis in die 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts von den Osmanen, jemals direkt kontrolliert und verwaltet worden. Auch der Diplomat Molyneux-Sell, der 1911 in Dersim eine Reise unternahm bestätigt dies: Die Dersimler leisteten der Regierung weiter Widerstand, wollten der türkischen Regierung keine Steuer, keine Söldner geben. Das Osmanische Reich ging im Laufe des Ersten Weltkrieges mit aller Härte gegen die Armenier vor. Dersim war die einzigste Oase in der islamischen Welt, die sich weigerte, gegen die Armenier vorzugehen. Dersim hat sich nicht nur geweigert, gegen die Armenier zu kämpfen, sondern hat die Armenier gegen die Angriffe des türkisch/osmanischen Regimes geschützt. Der armenische Historiker Garu Sasuni sagt dazu folgendes: Die Dersimer ”hatten ein freundliches Verhältnis mit den armenischen Aktivisten. Während des Ersten Weltkrieges haben sie (die Dersimer) viele Armenier gerettet. ... Dersim ist eins der Heime, das die Armenier gerettet hat. ” (Die Armenier zu schützen, wurde mit Tod bedroht.)

Die Armenier wurden im Laufe des Ersten Weltkrieges, d.h. während des Verfallsprozeß des osmanischen Reiches und des nationalen Befreiungskrieges durch die Jungtürken und deren Nachfolger, den Kemalisten, weiter verfolgt. (1915 wurde von den Jungtürken in der Türkei die Ausrottung der Armenier angeordnet.) Die Kurden gehörten religiös zum osmanischen Reich, soweit sie Sunniten waren und kein entwickeltes national-kulturelles Bewußtsein besaßen. Viele der kurdischen Stämme standen im Dienste der türkischen Nationalisten und leisteten gemeinsam Widerstand gegen christliche Völker und die Dersimer. Die nationalitische Politik der Jungtürken und der Kemalisten der jungen Türkei bedrohte Dersim. Deswegen kämpfte Dersim unermüdlich gegen die nationalistische Politik der jungen Türkei. 1920-1937/38 kämpften Dersim- Milizen in West-Dersim, Kocgiri, und in Ost- und Zentral-Dersim gegen die nationalitische Politk Mustafa Kemal Atatürk`s. Dersim kämpfte gegen die Massendeportationen, gegen summerische Exekutionen, erdrückende Steuern, Zwangsrekrutierung zu den Arbeitscorps zum Bau von Straßen oder militärischen Einrichtungen. Dersim forderte die sofortige Zurückziehung aller türkischen Verwaltungsbehörden und die Anerkennung der Selbstverwaltung in Dersim. Der national revolutionäre Dichter Dersims, Ali Þer schrieb:

Es kamen viele Könige zur Welt,

Sie hofften alle, Dersim zu nehmen.

Es schleuderte alle herum.

Keiner konnte nehmen ein bißchen von Dersim.

Aufgrund seines selbständigen Status und Widerstandes gegen die nationalitisch/faschistoide Politik machte Dersim auch der jungen türkischen Republik Atatürks Probleme. Der türkische Gouverneur von Elazig, Fahri Bey, sagte: ”Dersim dient fremden Interessen. (...) Aus diesem Grund muß es biologisch vernichtet werden. (...) Man redet immer vom Gesetz. Ich verachte das Gesetz. Gesetz ist das, was zwischen meinen Lippen herauskommt. Die türkische Nation erwartet von den Dersimlern in moralischer und materieller Hinsicht nichts.”

Ministerpräsident Celal Bayar sagte: ”Dersim ist ein Staat innerhalb eines Staates. Bis jetzt (bis 1938 H.Ç.) wurde Dersim 48 mal angegriffen, aber es ist nie erobert worden. ” Mustafa Kemal Atatürk bemerkte: ”Die Dersim-Frage ist eine der wichtigsten Fragen in unseren inneren Angelegenheiten. Es ist notwendig, die Regierung mit umfassender und uneingeschränkter Autorität auszustatten, damit diese die innere Wunde, dieses abstoßende Krebsgeschwür um jeden Preis beseitigen und auslöschen kann.” Um dieses ”abstoßende Krebsgeschwür” auslöschen zu könne, vernichten die Türken das arme und unbewaffnete Volk 1938 total.

Dersim wurde erstmals in seiner Geschichte vollkommen erobert.

 

 

Der Ehrenpräsident von Dersim, Sey Riza und seine 6 Genossen wurden gehängt. Über 70.000 Menschen wurden -nach Schätzung der Überlebenden- getötet, vergast, abgeschlachtet. Die Überlebenden wurden zum Teil zwangsumgesiedelt. Die türkische Regierung setzte ihre Militäreinsätze nach der Eroberung Dersims massiv fort, um das ”Problem Dersim” endgültig zu lösen. Der damalige Ministerpräsidet, Celal Bayar, sagte dazu: ”Dersim ist ein Staat innerhalb eines Staates. Bis jetzt wurde Dersim 48 mal angegriffen, aber es ist nie erobert worden... Wir werden das sogenannte Dersim Problem mit Maßnahmen unseres Staates beseitigen. ...Unsere Armee wird deswegen eine militärische Übung in Dersim durchführen. Wir werden die Einwohner dieses Gebietes vertreiben und das Problem an der Wurzel lösen.”

 

Ihre Greueltaten dokumentierte die türkische Armee 1937 in ihren Dokumenten: ”Am 16 August 1938 bombardierte ein Flugzeug 500 Menschen mit ihrer Herde. (...) Die 41. Division des 7. Armeekorps vernichtete am 19. August 1938 im Munzur Suyu, Kalason und Sin-Gebiet 290 Banditen, die sich wehrten. In Mazgirt wurden ebenfalls 52 Banditen vernichtet, die von der versammelten Masse flüchten wollten. (...) Die 12. Division des 8. Armeekorps vernichtete in verbotenen Gebieten bei Durchsuchungen verschiedener Orte viele Banditen. Sie vernichteten nochmals 170 Banditen, die Widerstand geleistet hatten und setzten die Felder und Dörfer in dem Gebiet in Brand. (...) Die 14. Division vernichtet bei ihrer letzten Säuberungsakton 69 Personen und siedelte 381 Personen, Kinder, Frauen und Männer in den Westen um. (...) In der Zeit zwischen dem 6. und 15. September 1938 wurde nach einem Befehl der Armee die militärische Durchsuchungsaktion fortgesetzt. Die Armeekorps durchsuchten Höhlen, Steinhöhlen und jedes Loch, in dem sich eine Person verstecken kann. Bei der Durchsuchungsaktion wurden mit Hilfe von Artillerie- und Infantrietruppen die Höhlen angegriffen und viele Banditen vernichtet; gleichzeitig wurden auch viele Kinder und Frauen festgenommen. Dörfer, Häuser, Wohngebiete, soger Felder und Wälder wurden in Brand gesteckt. (...) Bei einer Durchsuchung eines Gebiets wurden innerhalb von 17 Tagen 7959 Personen getötet oder lebendig festgenommen.”

Mehmet Kangutan, einer der Überlebenden, sagte in einem Interwiew über die Verbrennung der Dörfer: ”Sie kamen in das Dorf und versammelten die Dorfbewohner in den Feldern. Wir hörten das Feuer der Maschinengewehre. Als unser Dorf in Brand gesteckt wurde, sahen wir, wie sie unser Haus in Brand steckten. Unser Haus war ziemlich hoch, so konnten wir es von drüben sehen. Wir konnten die Tränen nicht zurückhalten. Nachdem auch die Menschen getötet worden waren, gab es im Dorf fast niemanden mehr (...) Als türkische Soldaten einmal ein Dorf in Brand steckten, rannte ein Mann wie ein Verrückter vom Feuer des Dorfes zu den türkischen Soldaten, die hinter einem Holzhaufen das Feuer anschauten. Er schrie zu den Soldaten: ‘Wartet, ich bin nicht einer aus diesem Dorf! Ich bin Lehrer! Erlaubt mir, mich mit euch zu identifizieren.’Auch er wurde mit einem Kantholz in das Feuer geschoben.

 

 

Die 80-jährige Menez Akkaya, die den Völkermord überlebt hat, sagte in einem Interview über die Einsammlung der Waffen: ”Ich war damals ein junges Mädchen. Die Soldaten kamen einigemal in unser Dorf und gingen wieder. Sie taten uns nichts. Wir haben sie nicht verstanden, weil wir kein türkisch konnten. Später kamen sie noch einmal. Sie versammelten die Dorfbewohner. Es waren etwa 200 bis 300 Alte, Frauen und Kinder. Sie brachten uns in das Degirmen Tas Gebiet. Sie sagten, daß sie unsere Waffen haben wollten. Wenn sie sie hätten, würden sie uns freilassen. Sie brachten uns an das Bett des Flußes und töteten uns. Sie töteten auch meinen Mann. Nur wir, drei Personen, überlebten. (...) Wir blieben tagelang ohne Essen und Trinken unter den Leichen. Es war mit uns so, daß wir keine Angst hatten. In Kiran überredeten türkische Soldaten etwa 400 Familien und versicherten, daß ihnen nichts geschehen würde, wenn sie sich ergäben. Die türkischen Soldaten ließen dann die Bewohner auf Dorfplätzen antreten. Die Männer wurden standrechtlich erschossen. Frauen und Kinder wurden in Scheunen gesperrt und lebendig verbrannt.” Die Organe des nationalistischen türkischen Staates schien mit dieser Art der Vernichtungspolitik in Dersim zufrieden zu sein. Der Ministerialrat verfaßte 1937 folgende geheime Erklärung: ”Auf diese Art und Weise wurde Tunceli endlich nach 2 Jahren vollkommen gesäubert und damit die Sicherheit und Orndung wieder hergestellt. Nun hat man aus dieser Region eine sichere Region gemacht.” Auch die Lieder, die in der Zeit der grausamen Vernichtungsaktion der türkischen Regierung gesungen wurden, bestätigen die oben genannten Greultaten:

Na zalumunê dina xortê Dêrsými qýrkerdê

Cêr u cor kerdê têvýrare. ...

Na zalumunê dina ferman do, vato, ‘Dêrsým de az nêmano!’

(Die Tyrannen der Welt töteten die Menschen Dersims

Stapelten sie auf in Reihen. ...

Diese Tyrannen der Welt haben den Befehl gegeben und sagten:

es soll keinen Lebenden mehr in Dersim geben!)

Zehn Jahre nach dem Völkermord in Dersim berichtete die türkische Zeitung Son Posta über ihre Beobachtungen in Dersim: ”Ich habe diese desolaten und entvölkerten Plätze besucht. Sie haben noch keinen anderen Staatsbeamten gesehen, als den Steuereintreiber und den Gendarmen. Ich wollte den Leuten begegnen, ihr Alltagsleben, ihre Seelen kennenlernen. Aber unglücklicherweise ist nichts übriggeblieben von der Zeit vor der Revolte. Keinerlei Kunstwerk mehr, keine Kultur, kein Handel. ” Gegen die totale militärische Vernichtungspolitik konnte sich Dersim bis 1938 wehren; danach wurde Dersim erstmals in seiner Geschichte von Fremden vollständig besetzt.


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