Die Vertreibung aus dem Paradies

Helga Ruebsamens Kindheitsgeschichte

Helga Dargel

Bei uns ist der Waringin eine Zimmerpflanze namens Ficus Benjamini. In Niederländisch-Indien, heute Indonesien, wo die Schriftstellerin Helga Ruebsamen aufgewachsen ist, ist er ein riesiger Baum. Und für Louise, die Ich-Erzählerin des autobiographischen Kindheitsromans, ist er zudem ein verzauberter Prinz, der seiner Geliebten, der von den Göttern in einen Bach verwandelten Prinzessin Dewi Kesuma, Geschichten erzählt. Louise wächst in einer magischen Welt zwischen zwei Kulturen auf: der bürgerlich-holländischen mit ihren Teekränzchen und ersten Leistungsanforderungen und der gewährenden, mythenreichen Welt der einheimischen Dienstboten.

Als Louise 1939 auf einer Europa-Reise der Familie den Waringin in Den Haag als jämmerliche Topfpflanze und unter «falschem» Namen wiederfindet, spürt die kaum Sechsjährige das Gefühl des Verlusts. Es fällt ihr schwer, den Kulturschock eines Europa zu verkraften, das bereits während der Überfahrt böse Ahnungen in ihr hatte aufsteigen lassen: «Die Wärme war fort. An ihre Stelle war die Kälte getreten.» Louise erkennt in dem domestizierten Waringin ihr eigenes Schicksal: «Man würde uns zurechtstutzen, und unsere Namen würde man vergessen.»

Europa bedeutet auch Krieg und Verfolgung. Louises Vater ist Jude. Bei Nacht machen sie sich auf, sich auf einem Gehöft zu verstecken. Den zum Ficus Benjamini geschrumpften Waringin nimmt sie mit und legt ihm ihren schönsten Schal um. Er schafft es trotzdem nicht. Noch vor Kriegsende verlassen ihn die Lebensgeister, nicht einmal der Vater, ein Arzt, kann sie zurückrufen. Ihre eigenen Lebensgeister hat sie mit Hilfe der balinesischen Götter zwar erhalten können, doch die Erkenntnis, daß ihr Vater kein Zauberer ist, bringt das Ende der Kindheit.

Helga Ruebsamen ist deutschen Lesern durch ihre Erzählbände «Auf Scheveningen» und «Der tanzende Kater» bekannt geworden. Es scheint, als habe sie sich damit auf die eigene Lebensgeschichte vorbereitet, die sie nun in diesen poetisch-wehmütigen, aber auch humorvollen Roman gegossen hat. Eine Geschichte über Kindheit, Kolonialismus und Entwurzelung, über europäische Leistungskultur auf der einen und Lebendigkeit und Kreativität auf der anderen Seite.

Der Autorin ist eine Verschmelzung von Privat- und Zeitgeschichte gelungen, bei der die innere Welt des Kindes Priorität hat. Allen dramatischen Umständen zum Trotz zeichnet sie ihre Protagonistin nicht als Opfer. Ihre Sprache insistiert auf den Wert persönlichen Welterlebens und macht den Roman zu einem Dokument der kreativen Selbstbehauptung gegen die lebenshemmenden Einwirkungen der Außenwelt. Per Sprache hat Helga Ruebsamen dem Waringin ihrer Kindheit neue Wurzeln gegeben.

Helga Ruebsamen: Das Lied und die Wahrheit. Roman. Aus dem Niederländischen von Christiane Kuby. Gustav Kiepenheuer Verlag, Leipzig 1998.

Berliner Morgenpost, 14. März 1999

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