Robert Habeck

„Der Irrenlogger“, so nennen die Leute von Zeewijk an der holländischen Nordseeküste die ZW 171 Noordster, ein Fischerboot, das 1915 zum Schauplatz von Ereignissen wird, über die die Zweewijker bis heute nicht gerne reden. „Scham oder Trauer lasten noch immer auf vielen Familien.“ Die Überlebenden der Besatzung jener denkwürdigen und blutigen Fahrt im Spätsommer und Herbst haben ein Schweigegelübte abgelegt, nie über die Vorkommnisse an Bord zu reden. Und als sie es 34 Jahre später brechen, verpflichten Sie den Erzähler der „Wahnsee“, seinen Bericht erst nach ihrer aller Tod, frühestens aber nach fünfzig Jahren zu veröffentlichen. Das ist 1998, das Erscheinungsjahr des Buches in den Niederlanden. Nun kann Robert Haasnoot, der 1961 geboren wurde, unmöglich jener Chronist sein, der im Auftrag des Bürgermeisters ein „offiziöses Dokument“ erstellt, in dem die Tatsachen von den Legenden getrennt und für die Nachwelt festgehalten werden. Daß vieles an dem Bericht Fiktion sein muß, steht in einem starken erzählerischen Widerspruch zu der wiederholten Beteuerung, die nackte Wahrheit zu erzählen. Dieser Spannung entspricht, daß „Wahnsee“ auch stilistisch zwischen zwei Polen oszilliert.

Der sachlich-nüchterne Katastrophenberichts wird mit poetischen Beschreibungen der Naturphänomene und Lichtverhältnisse aufgeladen. Wolken werden zu einem „zusammenstürzenden Himmelszelt“, die „Sonne brennt ein Lochs ins Meer“ und „Durch das Himmelsgewölbe treiben Haufenwolken, so glühend, als hätte die orangene Glut der lodernde Sonne sie angezündet.“ Der Rhythmus, ja der Sog, den Haasnoots Roman entfaltet, rührt aus der Paarung der sparsamen, sich rein auf die Ereignisse konzentrierenden Erzählökonomie mit den funkelnden Dimantenschnitten des Stils. Doch sind die erzählerischen und stilistischen Finessen von „Wahnsee“ kein Selbstzweck, sondern Spiegel jener Gespaltenheit, die es den Überlebenden und Zeitzeugen so schwer macht, von den Ereignissen zu berichten. Was sich an Bord ereignete, läßt sich vielleicht noch wiedergeben - obgleich es haarsträubend ist. Doch die Gründe und damit die Deutung, was tatsächlich passierte, entzieht sich der Unterscheidung von Richtig und Falsch.

Auf der Noordster fahren 13 Mann zum Heringsfang auf See. Unter ihnen ist Arnd Falkenier, ein grobschlächtiger, kräftiger und riesengroßer Kerl, der in seiner Jugend ein Trink- und Raufbruder war, bis ihm Gott direkt erschien, ihm seine Sünden vergab und ihn zu einem frommen Mitglied der „Bekehrten“ machte. Sind Arnds Jugendgelage in ihrer Ausschweifigkeit noch erwähnenswert, so ist es seine spätere Frömmigkeit eigentlich nicht. Jedenfalls nicht in Zeewijk. Denn der kleine Ort lebt geradezu von dem religiösen Eiferertum seiner Bewohner. Der Glaube der Zeewijker setzt sich dabei aus den unerbaulichsten Elementen der protestantischen Lehre sowie einer dicht gestaffelten, persönlichen Glaubenserfahrung zusammen, deren mystische Komponente eher an mittelalterlichen Katholizismus erinnert. Fast jedem Zeewijker ist der gekreuzigte Christus schon einmal höchstselbst erschienen. Nachtträume werden zu prophetischen Weisheiten, den Geistern der Verstorbenen wird die Hintertür des Hauses aufgelassen, und immer geht es um Schuld, Vorbereitunbg auf den Tod und die Ausrichtung des irdischen Lebens nach überirdischen Reinheitsgeboten. Kurz vor Auslaufen des Noordster entdeckt Arnd Falkenier die Offenbarung des Johannes. Und damit erhält seine persönliche Beziehung zum Himmel eine missionarische Komponente. Auf der Fahrt steigert sich Arnd nicht nur immer mehr in die Vorstellung, Gott selbst spräche durch ihn, sondern auch, daß das Ende der Zeit unmittelbar bevor steht. Und die Besatzung glaubt ihm.

Was zuvor an Land eine zwar mitunter unerfreuliche Weltsicht war, verdichtet sich, kaum, daß der Boden unter den Füßen zu schwanken beginnt, zu einer klaustrophischen Atmosphäre der Bedrohung des Irrsinns. Während sich auf dem Kontinent die Heere des ersten Weltkriegs abschlachten, erleben die Männer auf der See eine Vision des himmlischen Jerusalems. „Als sie genauer hinschauen, sehen auch sie es mit einem Mal. Gold- und kupferfarbene Mauern ragen aus der Wolkenbank empor. In flimmernder Hitze werden Wehrgänge und Türme mit zackigen Zinnen sichtbar. Obwohl der Glanz sie blendet, wenden sie die Augen nicht ab, so entzückt sind sie von der Erscheinung der Stadt Gottes. Tatsächlich, das ist sie!“

Was man in der Rezension fast nur ironisch wiedergeben kann, in Haasnoots Buch liest man es mit Beklemmung: Wenn das himmlische Jerusalem erscheint, dann ist die Welt untergegangen. Die Männer der Noordster sind die letzten Überlebenden, die letzten Seligen, die die Apokalypse überlebt haben und nun in Gottes Herrlichkeit eingehen werden. Froh zerschlagen die Männer den Kompaß, setzen Segel und machen sich auf den Weg ins Ungewisse. Doch die Zeit bis zur Erlösung dauert länger, als von Arnd prophezeit. Und es gibt Ungereimtheiten. Sie begegnen anderen Schiffen, die ebenfalls dem Untergang der Welten entkommen sind. Der Zweifel hält Einzug an Bord der Noordster. Und Arnd versteigt sich zu der Erkenntnis, daß der Teufel, seines angestammten Sitzes im Schöpfungsbau nach dem Untergang der Welt verlustig, nun frei über dem Meer vagabundiert. Solange sie leben, schließt Arnd in kühner Dialektik, kann der Böse hoffen, durch sie ins himmlische Jerusalem einzuziehen. Es beginnt eine blutige Ausrottungszeremonie an Bord. Wer Arnd leugnet, fällt seiner Axt zum Opfer. Im Zustand völliger Verwüstung wird der Kutter schließlich von einem norwegischen Frachter aufgebracht und nach England geschleppt, ein „Fliegender Holländer“, ein Geisterschiff.

Mehrfach deutet Arnd seine Situation durch waghalsigen Anleihen bei der Bibel. Jesus hatte zwölf Jünger, sie sind dreizehn Fischer, was abzüglich Arnd, der die Rolle des Heilands inne hat, der zahl der Apostel entspricht. Als ein Fischer dies in Frage stellt, ist er als Judas entlarvt. Über all dies könnte man Schmunzeln, ließe einem Haasnoots Erzählstrategie das Lachen nicht im Hals stecken und das Blut in den Adern gefrieren. Der Erzähler schlüpft in die Rollen der Charaktere. Er berichtet mit ihren Augen und von ihren Voraussetzungen aus. Wenn sie Geister in den Wanden sehen oder die Vision des himmlischen Jerusalems, ist dies so wahr, wie der Alltag an Bord. Dadurch wird der Wahnsinn greifbar. Und Arnd und die Ungeheuerlichkeiten werden ihrerseits zur Allegorie für die religiöse und politische Verführbarkeit der Menschen. Arnd hält sich für gottgleich und reinigt sein 25m langes Reich von allen Zweiflern und Ungläubigen. Statt der Erlösung bringt er so Mord und Unheil. Und die anderen Männer können es nicht mehr erkennen. Paradies und Hölle, Gott und Teufel fallen zusammen, weil die Maßstäbe für das Handeln und Glauben nie von dieser Welt waren.



Robert Haasnoot: Wahnsee. Aus dem Niederländischen von Christiane Kuby. Berlin Verlag, Berlin 2001.


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