Wo alles stimmt, stimmt alles nicht
Alexander von Bormann
Wie
„Krapplack, lasiert über feinstes Ultramarin“, so leuchtet
die Sprache des bislang vor allem als Lyriker hervorgetretenen Niederländers
Tonnus Oosterhoff. Wie „Krapplack, lasiert über feinstes Ultramarin“,
so charakterisiert der Erzähler in Oosterhoffs Roman „Das dicke
Herz“ eine der Farben des jungen Malers Gerrit van Houten. Um ihn kreist
der mit dem Multatuli-Preis ausgezeichnete Roman. Und das tut er mit großem
Takt.
Van
Houten, 1871 geboren, war ein Neffe des berühmten Mesdag, eines Malers
von Landschaften und Seestücken. Man rechnet beide zur impressionistischen
Haager Schule. Und die Kunst des Erzählers stellt sich konsequent darauf
ein. Das
beginnt schon beim Aufbau. Die Kapitel sind wie Skizzenbücher oder Fotoalben
betitelt: Den Haag 1876, Groningen 1881, Den Haag 1883, Lippenhuizen 1892,
Santpoort 1934 und so weiter. Schließlich zeichnet sich der Autor unter
"Doorn 1993" auch noch mit ins Bild ein. Was nach historischer Treue
aussieht, verbürgt diese am allerwenigsten, und auf der Schlußseite
aus Doorn heißt es denn auch: „Die wahren Begebenheiten und diese
Erzählung sind durch eine dicke Wolke von Lügen voneinander getrennt.
Weshalb das so ist, weiß ich nicht.“
Nun lügen Dichter die
Wahrheit, das gilt auch für diesen Roman. So ist es nicht verboten, an
van Houtens Zeitgenossen van Gogh zu denken, dem eine ungleich größere
Begabung und eine längere Schaffensspanne, aber ebenso der Zusammenbruch
zuteil wurden. Oosterhoff
führt uns viele einprägsame Szenen vor, fast könnte man von
lebenden Bildern sprechen. Die Fertigstellung des großen Mesdag-Panoramas
von Scheveningen etwa wird zu einer gekonnt gemischten Szenenfolge. Oosterhoff
verstärkt die Montagetechnik, indem er aus Zeitungen zitiert. Nach
einem Drittel des Romans wissen wir, daß diese Technik mehr meint als
eine Impressionismus-Anspielung. Schon dem Schüler in Groningen verschwammen
Eindrücke mit Phantasien, etwa wenn der Regen an die Scheiben peitschte:
„Peng! Tick! Die Geräusche des Hauses. Es war ein Uhrwerk, ein großes
Uhrwerk. Sie, die Kinder, waren die Zahnräder. Vater war die Feder, Mutter
der Splint. Tick. Alles bewegte sich vorwärts, die Zeit wurde gemessen.“
Oosterhoffs
Erzählen geht die sich verschlingenden Denkpfade seines Helden nach,
in einer hochpoetischen, anrührenden Prosa. Die Hingebung Gerrits an
die Realität ist nicht ohne Seitenblick auf van Goghs rollende Sonnen
gestaltet: „Die Ruhe, die von der Wirklichkeit ausgeht. Alles ist miteinander
verknüpft: innen mit außen, Licht mit Dunkel. Die Wolken mit dem
Blau, und das wiederum mit den Wolken und dem Waldrand bei Scheemda. Nirgends
Risse. Darum ist die Welt bestimmt rund? Bestimmt rund. Bestimmt rund.“
Wie nebenher hören wir, daß wer die Risse leugnet, die durch die
Welt gehen, einem Wahn(sinn) unterlegen ist.
Des
jungen van Houten Bilder wurden vom Oheim Mesdag vernichtend gelobt: „Das
hast du recht schön abgeguckt!“ 1883 in Den Haag, auf der Akademie,
ist Gerrit van Houtens Krankheit schon ausgebrochen. „Leben im Grab“,
sagt er dazu. Er besucht das fertiggestellte Panorama Mesdags, das dieser
„der Wirklichkeit abgeguckt“ hat. In dieser Formel geht es um die
Frage, ob die Kunst der Wirklichkeit unter- oder überlegen ist. Oosterhoff
leistet sich Sprünge. Er baut eine Szene in Boston ein, 1900, eine Ausstellung
von Mesdag. Der signiert ein Blatt, das ihm gereicht wird und das er als eine
eigene Arbeit anerkennt. Auf der Rückseite entdeckt er, „in einer
wütend steifen Handschrift“ geschrieben, den Vermerk NICHT ABGEGUCKT.
Es war ein Aquarell seines Neffen Gerrit, der so seinem Onkel unterliegt,
als er über ihn triumphiert.
Doch
diese Szene täuscht ebenso wie das Schlußbild mit Gerrits altgewordenen
Geschwistern. Oosterhoff blendet ein Warnsignal ein: "Jetzt, wo alles
stimmte, stimmte alles nicht." Mit hoher Sensibilität hat der Autor
dafür Sorge getragen, daß das für die ganze Erzählung
gilt. Sie bindet mit diesem Formzug das Ende des letzten Jahrhunderts an das
des unseren.
Tonnus Oosterhoff: Das dicke Herz. Aus dem Niederländischen von Christiane Kuby. Berlin Verlag, Berlin 1999.