Reale Schüler fiktiver Meister

Koen Brams legt ein Lexikon erfundener Künstler vor

Joachim Kalka


Die Welten der Phantasie ebenso präzise und pedantisch zu behandeln wie die reale Welt - das hat seinen eigenen Reiz. Man kann ihn schwach beim Anblick jener Karten und Pläne erdachter Bezirke spüren, die uns die genaue Position der „Insul (sic!) Felsenburg“ oder (früher bei Kriminalromanen beliebt) den Lageplan des Verbrechensortes zeigen. Das „Dictionary of Imaginary Places“ von Alberto Manguel und Gianni Guadalupi (erstmals 1977 erschienen) hat diese Faszination zum ersten Mal lexikalisch fruchtbar gemacht. Hinter der Idee, sich einem Schwall von Phantasie mit der paradoxen Nüchternheit des trocken alphabetischen Ansatzes zu nähern, steht als einflußreicher Prototyp das kleine, 1967 erschienene Capriccio von Borges, das sich „El libro de los seres imaginarios“ nennt - ein zusammen mit Margarita Guerrero verfaßtes „Buch der imaginären Lebewesen“ von A bis Z.

Zu diesen, unserem durchaus alexandrinisch gestimmten Zeitalter recht angemessenen Übungen kann man sich alle möglichen weiteren Lexika des Imaginären hinzudenken, und eines davon hat nun der Niederländer Koen Brams mit einem stattlichen Mitarbeiterstab verfaßt: eine elegante kleine „Enzyklopädie fiktiver Künstler von 1605 bis heute“, wie der deutsche Untertitel heißt, welcher dem des 2000 in Amsterdam/Antwerpen erschienenen Originals folgt. Zwar ist dieser schön gedruckte neue Band der „Anderen Bibliothek“ keine Enzyklopädie, sondern ein Lexikon, aber es handelt sich, unter welcher Bezeichnung auch immer, um einen hübschen Einfall. Ein Buch zum neugierigen Herumblättern, von „Adams, Adam“ (nach Frans Kellendonks „Mystiek lichaam“) bis „Zogoiby, Aurora“ (nach Salman Rushdies „Des Mauren letzter Seufzer“). Ist die „Erfundene Kunst“ noch mehr?

Man kann die Stichwörter als Lesehinweise auf interessante verschollene und marginale Titel nehmen und bei Wilhelm Waiblingers „Phaėton“ oder Léon Bloys „La femme pauvre“ aufhorchen; man kann Spuren bestimmter zeitgenössischer Debatten nachgehen, so bei Michailow in „Anna Karenina“; man kann die Einträge als quasisoziologische Indizien für das Künstlerbild einer Zeit entziffern - etwa die fünf Hinweise auf die verschiedenen Maler und Bildhauer in Paul Heyses „Im Paradiese“ (1874). Das Buch liefert so Material über die skeptischen, ehrfürchtigen oder im Grunde bieder dekorativen Phantasien der Literaten von jenem fabelhaften Wesen, das „Künstler“ heißt. Es ist so etwas wie eine spielerisch zerlegte - und insofern je nach Laune des Lesers mühsam oder reizvoll zu benutzende - Studie über die Bilder, die sich die Literatur von den bildenden Künsten malt.

Die so entstandene imaginäre Galerie ist repräsentativ bestückt; der älteste verwendete Text ist Shakespeares „Timon von Athen“, die jüngsten sind nur wenige Jahre alt. Der Hinweis auf mögliche Ergänzungen soll kein Tadel sein; kein Museum kann alles aufhängen, was es besitzt. Verblüffend ist allerdings, daß einer der ehrgeizigsten Malerromane des 20. Jahrhunderts fehlt: Patrick Whites „The Vivisector“; auch hätte man neben Wyndham Lewis' „Tarr“ noch die bizarre Künstlersatire in „The Apes of God“ stellen können. Der Kriminalroman würde dem systematisch suchenden Blick des Lexikographen viele überraschende Fälle offenbaren - allein die Maler bei Michael Innes wie Honeybath oder Holme, Cheel und Rumbelow scheinen sämtlich eines Eintrags würdig, da der Autor an ihnen sehr geschickt gewisse ästhetische Optionen exemplifiziert. Und ein Prunkstück der deutschen Literatur fehlt (die ansonsten, vor allem im Bereich des neunzehnten Jahrhunderts von Dirk Pültau, sorgfältig bearbeitet worden ist): der Meister des Jüngsten Tages aus dem großartigen phantastischen Roman von Leo Perutz - einem Buch, das auch insofern eine Rarität darstellt, als es Adorno zu unerwartetem Lob für einen „genialen Spannungsroman“ zu bewegen vermochte.

Daß es sich um ein Buch über Literaturphantasien zur Kunst handelt, bringt den Leser schließlich auf den Aspekt des Paragone, des Wettbewerbs zwischen den Künsten. Denn mit der direkten oder indirekten Schilderung der Werke fiktiver Künstler tritt die Literatur insgeheim in einen Wettstreit mit Malerei oder Bildhauerei ein. Das ist eine der Möglichkeiten, literarische Künstlerfiguren zu entwerfen: Die Literatur läßt in radikaler Grenzüberschreitung - und Übertrumpfung - die Wirklichkeit der bildenden Künste hinter sich und erzeugt in irgendeinem fiktiven Atelier ein Absolutum, etwas „ganz anderes“, etwas Neues, einen Mythos wie den von Pygmalion. Der erstaunliche locus classicus solcher Radikalität ist Balzacs „Das unbekannte Meisterwerk“ - siehe den Artikel „Frenhofer“. Man könnte auch den nach Borges' Erzählung „Der Zahir“ beschriebenen „Meister des unendlichen Tigers von Nittur“ nennen. Hier spricht die Literatur von Kunstwerken, hinter denen alle reale Malerei zurückbleiben muß (und triumphiert insofern über die wirklichen Maler).

Eine andere Möglichkeit ist die fromm-ideologische Abspiegelung des eigenen literarischen Ehrgeizes in der bildenden Kunst; hierbei kommen romantische oder naturalistische Programmschriften in Form exemplarischer Künstlerbiographien heraus. Die dritte, bescheidenere, sozusagen chronikalische Technik ist es, im Buch mit den geschilderten Kunstwerken und Künstlern die vertraute Realität der Kunstgeschichte und die vertrauten Probleme bestimmter Künstlerschulen anzudeuten und zu verfremden: respektvoll oder sardonisch.

Man kann das noch an einer so denkwürdigen Gestalt wie Prousts Elstir verfolgen - Elstir, der Züge realer Maler von Moreau und Whistler bis Manet, Monet und Degas in sich vereinigt und vielleicht von einem Dutzend anderen noch dazu, bis hinab zu Boldini: getreu dem Prinzip Prousts, daß sich eine literarische Figur stets aus den Idiosynkrasien von sechzig wirklichen Menschen zusammensetzen wird. Es ist schön, daß der Elstir hier gewidmete Eintrag auch etwas erwähnt, das vielleicht zum insgeheim Rührendsten der „Recherche“ gehört: daß er als einziger den Tod von Monsieur Verdurin betrauert. Die Epiphanie der Malerei vollzieht sich aber in der „Recherche“ bekanntlich in einem anderen Zusammenhang, den dieses Nachschlagewerk ausgrenzen muß: vor einem „wirklichen“ Bild. Der Tod des Schriftstellers Bergotte tritt im Anblick von Vermeers „Gezicht op Delft“ ein. Er wiederholt bei sich: „Kleines Stück gelbe Mauer mit einem Vordach, kleines Stück gelbe Mauer“ . . . Der „petit pan de mur jaune“ wird zum Inbegriff des Zaubers von Kunst. Einer der letzten Gedanken des sterbenden Bergotte ist: „So hätte ich schreiben müssen.“ Hier scheint die Literatur selbst den Wettkampf zugunsten der Malerei zu entscheiden. Der Autor will so souverän und „auf einen Blick“ zwingend schreiben, wie der große Maler malt. Aber das ist eine andere Geschichte.

Zu Prousts Konstruktion gehört es, daß Bergotte von einem in unserer Wirklichkeit existierenden Bild überwältigt wird und nicht von einem literarisch erfundenen. Koen Brams' Buch dagegen deutet auf das, was Kunst ist, nur mit indirekter Geste; aber andererseits hat, wie er in seinem Vorwort zu Recht betont, Cézanne sich als Schüler von Frenhofer empfunden.

Koen Brams: Erfundene Kunst, eine Enzyklopädie fiktiver Künstler von 1605 bis heute. Aus dem Niederländischen von Christiane Kuby. Eichborn Verlag (Die Andere Bibliothek), Frankfurt a.M. 2003.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.05.2003

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