Zusammengefaltetes Brot

Der Iraner Kader Abdolah erkundet "Die geheime Schrift" und schreibt in Fremdsprache über die Heimat des Exilanten

Iris Hanika

Dieses ist ein so wunderbares Buch, dass man sich nach der Lektüre nicht mehr vorstellen kann, wie das Leben weitergegangen wäre, wenn man es aus Versehen nicht gelesen hätte und die vielen Geschichten, die darin erzählt werden, nicht kennte. Hinterher weiß man viel mehr als vorher, auch wenn man höchstens vage erklären könnte, was das ist, das man mehr weiß.

Der Autor stammt aus dem Iran, schreibt auf Niederländisch, und sein Buch bewegt sich entlang der Linien seiner Biografie. Darin erzählt ein Sohn, der vor dem islamischen Regime in die Niederlande geflohen ist, das Leben seines Vaters, der den Iran nie verlassen hat. Als Vorlage für seine Erzählung dienen dem Sohn die Aufzeichnungen des Vaters, eines taubstummen Teppichflickers. Der Vater heißt Agha Akbar und schreibt - in Keilschrift, ausgerechnet. Die hatte er sich selbst angeeignet, nachdem sein an Vaters Statt gesetzter Onkel "merkte, dass Agha Akbars Kopf Sätze bildete, Geschichten erfand", und dieser Kopf immer wehtat, weil sie nicht herauskonnten. Aus Mangel an Zeit und Geduld ging der Onkel mit ihm in die sonst vor allem von Archäologen besuchte abgelegene Höhle im Safranberg, an dessen Fuß sie lebten, und hieß ihn, die in die Wand gemeißelten, über 3 000 Jahre alten Zeichen abzuschreiben: "Es ist eine Inschrift, ein Befehl des ersten persischen Königs. Ein noch von niemandem entziffertes Geheimnis."

Das Geheimnis dieser Schrift, die dem vorliegenden Buch seinen Titel gab: "Spijkerschrift" - "Keilschrift", wird nicht enthüllt. Wie auch, es weiß ja wirklich keiner, was da geschrieben steht. Da ist eine Schrift an der Wand, aber es blieb nur ihre Form erhalten, während ihr Inhalt über die Jahrtausende verloren ging und ein Geheimnis wurde, ebenso mühsam zu entschlüsseln wie das, was im Kopf eines Taubstummen vor sich geht. Darum ist es nur logisch, dass der im zwanzigsten Jahrhundert so schreibt wie der erste persische König.

Für das soziale Leben allerdings braucht Agha Akbar seinen Sohn. Der diente dem Vater bereits im Kindesalter als Ohr und Zunge, darum sind ihre Geschichten besonders eng miteinander verwoben. Das Leben des Sohnes wird also miterzählt, es ist kein einfaches, wie auch das des Vaters kein einfaches war. Die Familie lebt in der iranischen Provinz, und die Geschichte des Iran im letzten Jahrhundert, etwa ab der Regierungszeit von Resa Schah, dem Vater des letzten Schah, wird auch erzählt: "Lieber möchte ich in diesem Buch nicht über Politik reden, aber manchmal ist es unvermeidlich. Von den wichtigsten Ereignissen muß ich einfach berichten. Denn die größten Veränderungen in Akbars Leben sind nichts anderes als die Folgen alles bestimmender Veränderungen in der politischen Landschaft."

Der Erzähler, der Sohn Esmail, hat die Sprache seines Exillandes so gut gelernt, dass sie seine Schreibsprache geworden ist. Auf Niederländisch berichtet er vom Iran, von Unterdrückung, Revolution und erneuter Unterdrückung, vom Teppichflicken und vom Opiumrauchen, von Broten, die man zusammenfalten kann, vom überall gereichten frischen Tee und vom Tschador, den Resa Schah verboten und Chomeini den Frauen wieder aufgezwungen hat.

Er berichtet aber auch von den Niederlanden, von den Dünen, vom Meer, vom Polder, von Kneipen, in denen Kaffee getrunken wird, und zitiert persische ebenso wie niederländische Literatur. Er mag Königin Beatrix und führt deren Sohn, Prinz Willem-Alexander, den er im Fernsehen sieht, als Beispiel dafür an, wie schwer es ist, aus dem Schatten seiner Eltern herauszutreten. Für ihn selbst war das auch schwer. Aber darum geht es nicht. Oder anders: darum geht es auch, aber nicht mehr als um die vielen anderen Geschichten, die in diesem Buch ineinander liegen wie seine Seiten zwischen den Deckeln.

Kader Abdolah ist nicht der richtige Name des 1954 geborenen, seit 1988 in den Niederlanden lebenden Autors, sondern ein Pseudonym, das er aus den Namen zweier im Iran ermordeter Freunde zusammengesetzt hat. Mit der neuen Sprache, die er im Exil gelernt hat, erzählt er von seinem alten Land, aus dem er fliehen musste, und sein Erzähler wohnt dabei im Polder, dem Land, das nicht nur für den Exilanten, sondern überhaupt ganz neu ist, weil es entstand, indem das Meer zurückgedrängt und sein Boden trockengelegt wurde. Das ist das Exil: Man muss alles neu lernen, damit man die alten Sachen erzählen kann.

Aber eigentlich beginnt Holland schon am Safranberg, der an der Grenze zur Sowjetunion liegt und über den im Laufe der Jahrzehnte in den Nächten immer wieder welche gehen, deren Leben vom gerade aktuellen Regime bedroht ist. Am Safranberg, wo Agha Akbar aufwuchs, heiratete er eine unerschrockene Frau, die Tine heißt, was nun eher nach behäbigen Käselaiben klingt als nach den geheimnisvollen Versprechungen von Tausendundeiner Nacht. "Ich fühlte mich wie ein Apfel, der vom Baum gefallen ist. Niemand konnte diesen Apfel wieder an seinen Zweig zurückhängen", beschreibt der Sohn die Nacht, als nun er den Weg über den Safranberg in die Fremde gehen muss.

Auf wie vielen Ebenen dieses Buch tatsächlich spielt, wird sich dem europäischen Leser wohl nicht erschließen, aber das macht nichts, denn auch wenn man überhaupt nur eine einzige Ebene sieht, ist es eine große Freude. Das geht gleich auf der zweiten Seite los, wenn der Autor sich selbst einführt: "Wir sind zu zweit. Esmail und ich. Ich bin der allwissende Erzähler; Esmail ist Agha Akbars, des Taubstummen Sohn . Obwohl ich allwissend bin, kann ich Agha Akbars Aufzeichnungen nicht lesen . Ich erzähle die Geschichte nur bis zu Esmails Geburt. Den Rest lasse ich ihn selbst erzählen. Doch am Schluss trete ich wieder auf, denn Esmail kann den letzten Teil der Aufzeichnungen seines Vaters nicht entziffern."

In klaren Sätzen, die Christiane Kuby schön ins Deutsche gebracht hat, und ohne Abschweifungen erzählt Kader Abdolah. Er springt zwischen dem Iran und den Niederlanden, zwischen einst und jetzt hin und her, ohne dabei je nach einem Effekt zu haschen. Er braucht auch keine Verzierungen, denn seine Geschichte ist groß genug. Er braucht bloß eine Schrift, das Mittel, mit dem man Geschichten haltbar macht und für den Transport sichert. Jeder hat dafür seine eigene: der Taubstumme die Keilschrift, die analphabetischen Teppichknüpferinnen ihre bunten Knoten, und der iranische Schriftsteller im Exil die lateinischen Zeichen seiner neuen Sprache.

Allerdings wird schon seine Muttersprache in einer fremden Schrift notiert, denn für Farsi wird die arabische Schrift benutzt. Das kommt daher, dass die Araber gegen Ende des ersten Jahrtausends den Iran schon so lange besetzt gehalten hatten, dass seine Sprache fast verschwunden war und erst wiedererstand, als der Dichter Firdausi dem Land sein Epos aufschrieb, das bis dahin mündlich überlieferte Schahnameh. Dafür benutzte Firdausi allerdings die herrschende arabische Schrift, die um vier Buchstaben erweitert werden musste, um dem Farsi gerecht zu werden; immerhin ist das eine indoeuropäische Sprache und Arabisch eine semitisch-hamitische.

So begann die iranische Dichtung schon mit einer Schriftverschiebung, und es ist nur folgerichtig, dass die neueste persische Literatur hier zugleich eine niederländische ist. Kader Abdolah schreibt nicht mehr von rechts nach links und ohne Vokale, wie er es im Iran tat, sondern von links nach rechts und mit Vokalen. Er lebt nicht mehr in seinem Vaterland und in seiner Muttersprache, sondern auf einem anderen Kontinent und in einer anderen Schrift. Die Schrift aber ist die Heimat des aus sich herausgetretenen Menschen, der seine Geschichten erzählen muss, um nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren; und jeder findet seine eigene.

Kader Abdolah: Die geheime Schrift. Roman. Aus dem Niederländischen von Christiane Kuby. Verlag Klett Cotta, Stuttgart 2003.

Berliner Zeitung, 28.04.2003

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