Emanzipation rückwärts – Die Abwesenden sind am stärksten anwesend: Eine Antwerpener Ghettogeschichte
Marita Keilsson
Die Niederländerin Carl Friedman erzählt in diesem ihrem zweiten Buch die wohl auch autobiographische
Geschichte von Chaja, einer Philosophiestudentin in Antwerpen, die sich
aus der Vergangenheit ihrer jüdischen Familie löst, aber zu
ihren Wurzeln zurückkehrt, aus Liebe zu einem kleinen chassidischen
Jungen, in dessen Familie sie als Kindermädchen jobt. Die zwei
titelgebenden Koffer hat Chajas Vater im Krieg auf der Flucht vor den
Deutschen, den Nazis, vergraben. Seine monoman-groteske Suche nach diesen
Koffern begleitet als Ostinato den Erzählstrom. Ort der Handlung
ist das jüdische Viertel von Antwerpen in den siebziger Jahren,
mitteleuropäischer Rest einer jüdischen Welt nach der großen
Vernichtung, heil und kaputt zugleich. Wie hier von ihr erzählt
wird, hat sie die Unwirklichkeit einer Guckkastenwelt, die in zwei Koffern
gut Platz hätte. Und die Koffer bleiben verschwunden.
Eine Ghettogeschichte?
Ghettogeschichten, oder besser vielleicht: Geschichten aus der jüdischen
Gasse, das war einmal eine reiche literarische Tradition. Heute wird
sie nur zögernd zur Kenntnis genommen - vielleicht weil sie von
den Erben des Holocaust nur noch mit schlechtem Gewissen gelesen und
nur noch als Vorwurf verstanden werden kann. Eine solche Geschichte
aus der jüdischen Gasse ist die Geschichte von der Familie Kalmann
und ihrem emanzipierten Kindermädchen, von dem Leben und Treiben
im jüdischen Viertel, in dem sonderbarerweise die Kalmans die einzigen
jüdischen Bewohner des Hauses sind: wo sind die andern? Ja: wo
sind die andern...
Wie
die klassischen Ghetto-Geschichten beispielsweise des Österreichers
Eduard Kulke (1831-1897) thematisiert die Geschichte von den beiden
Koffern nicht nur das Leben in der jüdischen Gemeinschaft, sondern
vor allem die problematischen Randgebiete solchen Lebens; die emanzipierten
Aussteiger, die Reibungen zwischen den Rechtgläubigen und den Emanzipierten,
die Reibungen mit der Außenwelt. Ganz im Einklang mit dieser Tradition
präsentiert Carl Friedmans Erzählung (ein „Roman“
ist es kaum zu nennen) sich als aufklärerisch-pädagogisch.
Wo aber bei Kulke am Ende des 19. Jahrhunderts die Botschaft ein Aufklärungsoptimismus
war, der uns heute die Scham auf die Wangen treibt, da geht Carl Friedman,
den umgekehrten Weg: zurück zu den Wurzeln, „in umgekehrter
Richtung, zurück zur Genesis“.
Chaja erzählt ihre Geschichte
selbst, und das filtert die Geschehnisse auf eingreifende Weise. Der
geliebte Vater mit den Koffern, die Mutter mit ihren Nichtigkeiten,
der weise Herr Apfelschnitt, die chassidische Familie, der gehässige
(antisemitische) Hausmeister, die Nietzsche verehrende Studiengenossin:
es sind und bleiben Schemen in Chajas geistreichem, mitunter belehrenden
und doch ergreifenden Schattentheater. Schwäche und Stärke
zugleich des Buches ist, daß die Abwesenden die am intensivsten
Anwesenden sind. Als Chaja zur Zeit der geschäftigen Vorbereitung
zum Pessach-Abend mit den Zwillingen im Kinderwagen und dem geliebten
kleinen Simcha an der Hand den gewohnten Spaziergang antreten will,
ist der "Judenpark" wie ausgestorben. Die Ursache der „massenhaften
Abwesenheit“ des gewohnten Getriebes bemerkt sie erst auf den zweiten
Blick: alle Bänke sind mit antisemitischen Beschimpfungen vollgeschmiert. (In Christiane Kubys adäquater und unaufdringlicher Übertragung
trifft der verbale Unrat besonders erschreckend.)
Wie das funktioniert
mit dem Graben und Suchen nach den vergangenheitsträchtigen Koffern
des Vaters, das begreift Chaja, als sie selbst Verlust erlebt und Verlorenem
nachspürt: da ist zuerst der alte Lumpensammler Sjroelik, der die
Kinder liebte und den die Kinder liebten. Das ist am Ende der geliebte
kleine Simcha Kalman, der so gerne eine Ente sein möchte und also
in einem unbeobachteten Augenblick ertrinkt. „Auf einmal verstand
ich sehr gut, warum mein Vater bis zum äußersten gehen wollte,
um ein paar Koffer mit verschimmelten Erinnerungen wiederzufinden. Ich
selbst würde keinen Augenblick zögern, den lange verstorbenen
Sjroelik auszugraben, wenn es möglich wäre. Ich würde
ihm aufhelfen, sein Totenhemd mit dem verschlissenen schwarzen Kittel
vertauschen und ihm hier und da ein Erdklümpchen aus dem Bart schnipsen,
um ihn noch einmal seinen Karren über das Kopfsteinpflaster schieben
zu sehen. Dann müßte der Wind aber auch wie früher an
rauhen Tagen seine schneeweißen Schläfenlocken hochblasen,
als ob seinem Hut Flügel wüchsen“.
So ist Chajas Geschichte
vor allem eine Geschichte über die Reste der Vergangenheit, über
Erinnern und Erinnerung, über die nur allzu begreiflichen Verdrängungsmechanismen
und die Zumutung, die Erinnern-Müssen bedeutet: „Meine Mutter
behauptete zwar, das Vergangene habe keine Bedeutung, warum aber war
sie dann ununterbrochen damit beschäftigt, das zu beteuern? Sie
mußte Auschwitz jeden Tag aufs neue unter Kuchenrezepten und Teevisiten
begraben: die reinste umgekehrte Archäologie. Kein Wunder, daß
sie gegen die Pläne meines Vaters war. Sie hatte Angst, er könnte
beim Graben nach seinen Koffern ihr Pompeji freilegen“.