Seelenhaustiere

Tomas Lieskes niederländischer Familienroman "Franklin"

Esther Kilchmann

Für ein Brehms Literatur-Tierleben Daten zu sammeln wäre gewiß ein lohnenswertes Unternehmen. Als "Behältnisse des Vergessenen" hat Walter Benjamin nicht nur in bezug auf Kafka Tiere in der Literatur apostrophiert, und auf den Pfaden von Kriech- und Streicheltieren ließe sich vielleicht viel über das kulturelle Vergessen in Erfahrung bringen. Genau diesen Spuren folgt der Niederländer Tomas Lieske, wenn er in seinem Roman am Beispiel des heranwachsenden Helden Franklin die Nachkriegszeit erkundet: Die weißen Flecken in der Überlieferung von National- und Familiengeschichte entsprechen hier den Rätseln, die Haustiere den Menschen aufgeben: Jedes Tier eine Wissenslücke, die unsere Imagination anregt.

Lieskes Roman unternimmt eine unbarmherzige Vivisektion am Körper der kleinbürgerlichen Nachkriegsfamilie. Den Kinzensbergers, Franklins Großeltern, kommt es nicht ungelegen, daß Sohn Charles, der sich nach dem Einmarsch der Deutschen freiwillig zur SS gemeldet hatte, auch nach dem Krieg verschollen bleibt. Sechs Jahre später taucht er aber zusammen mit Niel, mit dem er aus Rußland geflohen ist, wieder in Den Haag auf. Eltern und Schwester Christine versuchen diese Störung in ihrem geordneten Alltag möglichst zu ignorieren. Dies ist schon wegen des seltsamen Niel schwierig, der als Kind im Arbeitslager ausschließlich mit einem Pullover tragenden Schwein Kontakt hatte und in dessen Gestalt durch das ganze Buch hindurch die Grenzen zwischen Tier und Mensch, Traum und Wirklichkeit, Verständnis und Brutalität verschwimmen. Völlig unmöglich wird es für die Kinzensbergers, das gewohnte Leben weiterzuführen, als eines Morgens aus einem Loch in der Wohnungsdecke Ameisen fallen. Kaum sind die Kammerjäger weg, greift die Mutter selbst nach dem Putzzeug und stochert in dem Loch herum. Zu spät erinnert sich der Vater an die Anweisung, das Gift erst einwirken zu lassen, und die Mutter stirbt nach grotesker körperlicher Verwandlung selbst als überdimensioniertes Insekt.

Mit diesem Unglück kommt der Familie die Möglichkeit zur gegenseitigen Verständigung vollends abhanden. Christine zieht aus und heiratet. Von ihrem Mann vergewaltigt, wird sie mit Franklin schwanger und mißhandelt das ihr aufgezwungene Kind später schwer. Der Vater guckt weg, und Franklin muß allein Wege finden, sich zu widersetzen. Einmal fischt er das blutige Fell seines vom Vater grausam zu Tode gebrachten Streichelkaninchens aus dem Müll, stopft es im Schlafzimmer der Mutter mit deren Lippenstiften, Maskara und Spitzenslips aus und plaziert das so wiedererstandene Tier mit gegrätschten Hinterläufen auf dem Frisiertisch.

Aber auch die lebenden Tiere sind beunruhigend, erwecken sie doch stets den Eindruck, als wüßten sie alles über ihre Besitzer. Verstanden werden können sie dabei ebensowenig wie die geheimen Botschaften über das eigene Leben, die sie zu verkörpern scheinen. Eine Ausnahme ist nur die hinkende Maus, die der von seinen Eltern in ein Internat abgeschobene Franklin eines Nachts sieht. Aus dieser Begegnung zieht er den Schluß, daß auch er selbst unter keinen Umständen jemals aufgeben dürfe. Im Moment dieser Erkenntnis steckt er das bereits auf die Maus gerichtete Messer wieder ein; das Tier ist eins der wenigen, die bei Lieske mit dem Leben davonkommen.

In den grausig präzisen Szenen dieses Buchs, die die unlösbaren Verknotungen des familiären Verschweigens und der Gewalt erfassen, spielen immer wieder Haustiere die Hauptrolle. Alles andere als unbeteiligt, werden sie in ihrer rätselhaft engen Bindung an die Menschen und deren jeweilige Stimmungen zu Seelentieren. Von dieser Gattung etwa ist unzweifelhaft das weiße Angorakaninchen, das Franklin seiner ersten Freundin schenkt. Für die Beziehung der beiden Jugendlichen findet Lieske eine anrührende Sprache und läßt in dieser Liebe eine Insel der Unschuld und des Spiels in dem von düsteren Familiengeheimnissen strukturierten Roman entstehen. Es ist der Traum eines gewaltfreien paradiesischen Zustands, in dem auch die Tiere nichts zu fürchten haben. In diesem Rahmen wird es für Franklin auch möglich, an einen Gott zu denken: "Die Majestät, die Franklin sich vorstellte, würde ihn im Flüsterton bitten, während der Audienz irgendeine Arbeit zu erledigen. Etwas, was mit dem Lieblingstier Seiner Majestät zu tun hätte."

Aber in diesem Buch voller Eisenbahnnetze und Wurmstraßen gibt es auf Dauer keinen Ausweg aus der Geschichte, und ebensowenig verschwindet etwas, das einmal da war. Es verwandelt sich nur und wird unverständlich. Die Toten kehren in der Sprache wieder, wie der alte Kinzensberger, der nach dem Krieg eine schrullige Anglophilie entwickelt, bis sein zunehmend mit englischen Wörtern durchsetztes Niederländisch zu einem Kauderwelsch wird und schließlich in ein vollends unverständliches Brabbeln übergeht. Kinzensberger verschwindet in einer Klinik, und wir hören nichts mehr von ihm, bis sich das Englische wieder unmerklich in die Sprache seines Enkels Franklin einschleicht, als hätte der Großvater, den er nie gekannt hat, "von seinem Kehlkopf Besitz ergriffen".

Jeder Akt der Befreiung ist von vornherein zum Scheitern verurteilt, dies gilt auch für Franklins Versuch, sich endlich seiner Familiengeschichte zu bemächtigen. Ein zugelaufener Hund hilft ihm bei diesem Unternehmen, kommt aber durch Franklins Schuld um. Das Bild seines Sterbens gräbt sich tief ins Innere dessen, was die positive Erinnerung an die Lösung der familiären Schuldzusammenhänge hätte werden sollen, und die Befreiung hat so ein neues Trauma produziert. Den Verstrickungen der Schuld ist in konventionell-linearer Weise nicht beizukommen. Dem trägt Lieske in jedem Moment seines Erzählens Rechnung, indem er es wie die unendliche Sezierbewegung anlegt, von der Franklin in einer seiner Geschichten erzählt: Darin wird ein gefangener Wal aufgeschnitten, in ihm findet sich ein Eisbär und in diesem schließlich ein Mensch, der sagt, sie sollen ihn aufschneiden. Jede Eindeutigkeit ist dabei immer eine Täuschung.

Nach dem Versuch, mit seinen Erinnerungen abzuschließen und zur Ruhe zu kommen, verwandelt sich Franklins Körper in ein Straßennetz für Fadenwürmer: "Er fühlte, wie die Würmer sich in seine Lunge bohrten, sie fraßen sich durch seine Darmwand, sie verursachten innere Lecks. Er spürte Reisende, Knotenpunkte und Parkplätze." Und wenn das Buch am Ende in einem Brief Franklins mitten im Satz einfach abbricht, weil die Schrift in einer "Art Wurm aus Kugelschreibertinte" ausläuft, dann versucht hier Lieske selbst noch das materielle Ende des Erzählens, das Aufhören der Schrift auf der letzten Seite, zu unterlaufen. In "Franklin" geht alles weiter; die Schrift verwandelt sich in einen Wurm, und zu denen hat Brehm eine beunruhigende Lektüreanweisung erstellt: "Eine neue Welt des Lebens thut sich vor uns auf, aber nur vor den Augen derjenigen, welche eifrig suchen."

Tomas Lieske: Franklin. Roman. Aus dem Niederländischen von Christiane Kuby. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2004.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.07.2004

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