Hilfloser Odysseus im Polderland

Prall, nicht immer gut riechend: Jeroen Brouwers neuer Roman lässt Kugeln fliegen, Frauen rasen und Männer den Angeber spielen


Alexander von Bormann


Der Unterschied von Erzählkunst und Trivialliteratur liegt nicht zuletzt in der Anlage des Helden begründet: Dem volkstümlichen Erzählen können die Hauptpersonen gar nicht kostbar genug sein, schön, tüchtig und edel oder richtig verworfen. Die hohe Literatur hingegen tut sich neuerdings etwas darauf zugute, dass es nicht auf die Anziehungskraft der Helden ankommt, sondern auf das gekonnte Erzählen von deren Schicksalen. Ob die gewöhnlich oder ungewöhnlich sind, entscheidet sich im Stil. So haben wir also mit dem neuen Roman von Jeroen Brouwers ein Kunstwerk zu begrüßen: nicht eben mitreißende Charaktere und Handlungen, aber höchst gekonnt dargestellt.

Der Roman wird von Jelmer van Hoff aus der Ich-Perspektive erzählt. Seine besten Jahre hat er hinter sich. Die Ehe besteht nur noch formal. Die Tochter ist mongoloid und lebt in einem Heim. Als Lehrer konnte er zwar spannend erzählen, wie ihm ein Schüler bestätigt, aber Disziplin vermochte er nicht zu halten, er wurde vorzeitig entlassen. Die Gesundheit ist weitgehend ruiniert. Mit seiner Frau Paula lebt er getrennt auf einem Hausboot, sein Leben scheint nur noch in einer sanften Schaukelbewegung zu bestehen. Die Lebensreise als Abenteuer: Entschiedener kann man dieses Odysseus-Programm kaum konterkarieren. Zwar hat die Frau (einen) Freier, Jelmer trifft eine Circe und Sirene, aber alles ist ganz ins niederländische Flachland übersetzt, und zugleich in eine Gegenwart, für die das Abenteuer virtuell geworden ist.

Jelmer erzählt also, erst für uns, dann für eine Kommission, und Jeroen Brouwers lässt uns auf diese Weise an einer mehrfach gestaffelten Gegenwart teilhaben. Wichtig ist vor allem sein Studienfreund, Nico Sibelijn, mit dem er auf eine besondere Weise verbunden bleiben wird. Als Studenten machten sie einen Ausflug in die südbelgischen Wälder. Nico als Archäologe hoffte auf prähistorische Funde in den Höhlen dort - eine Schlüsselszene. Sehr behutsam hat Brouwers die Zeichen für eine doppelte Lektüre gesetzt. Die erste orientiert sich natürlich am Ich-Erzähler: Jelmer geht morgens zur Erfrischung in den Fluss, und bald danach ist er von Übelkeit geschüttelt und von einem Ausschlag übersät, sieht aus „wie ein gruseliges Tier“. Nicos Freundin Daphne war den beiden untüchtigen Abenteurern in die Ardennen nachgereist, gerade rechtzeitig, um Jelmer ins Krankenhaus zu bringen.

Während der also mit seiner dubiosen Krankheit kämpfte, hat Nico seinen großen Fund gemacht, einen Stein mit geheimnisvollen Zeichen, die teilweise recht modern wirken. Mit dieser Entdeckung beginnt die wissenschaftliche Karriere von Nico Sibelijn: Er wird Professor, Mitglied von zahllosen Gesellschaften, eine Tafel ziert den Entdeckungsort. Daphne Uitwijck, seine Frau, wird eine hochberühmte Sängerin.

Die Erzählung kommt in Gang, indem Daphne nach vielen Jahren des Schweigens plötzlich wieder Kontakt mit Jelmer aufnimmt. Sie versichert ihn ihrer Liebe, und er glaubt es nur zu gern. Brouwers zeichnet sie als Sirene: Sie arbeitet im wesentlichen mit Telefonanrufen und mit scheiternden Verabredungen, und wir fragen uns mit dem Helden, was das Ganze soll. Auf Seite 160 hören wir aus ihrem Munde das Bekenntnis, dass sie ein Verhältnis mit ihrem Musiklehrer hat, ein Verhältnis, das noch älter als ihre Ehe ist. Die will sie nicht aufs Spiel setzen. Unser Held Jelmer vermutet mit Recht, dass er also eingesetzt wird, um die Aufmerksamkeit des Ehemannes abzulenken. Er steigt aus dem Pseudo-Techtelmechtel mit Briefchen und heimlichen Telefonaten für eine Weile aus und hält sich an eine deftige Seemannsbraut. Seine Frau Paula hingegen hat längst die Vorzüge ihres Arztkollegen entdeckt...

Es sind pralle, sinnlich starke Szenen, die Brouwers entwickelt, man denkt an die belgische Erzähltradition, nicht immer riechen sie gut. Zugleich hat er seinen Roman sehr gekonnt und spannend aufgebaut. Sein geschädigter Held weiß zu wenig, was um ihn herum gespielt wird. Der Leser muss ihm sozusagen helfen, unser Erinnerungsvermögen wird vom Autor mitbenutzt. Die von Nico verbreitete Legende will, dass Jelmer sein Zeuge bei der Entdeckung des wunderbaren Steines war. In Wirklichkeit, so erzählt Jelmer, lag er in einem heruntergekommenen Hospital, etwa zwei Monate lang, vielleicht auch länger, in einem Zustand der Desorientierung und Entfremdung, der ihn seitdem nie mehr ganz verlassen habe.

Für die Schlüsselszene, Nicos große Entdeckung, gibt es also keinen Zeugen. Und im letzten Teil des Buches wird denn auch die große Wissenschaftler-Persönlichkeit Nico Sibelijn demontiert. Er bekommt eine gehässige Kampagne - der Stein sei ein Eigenfabrikat - und wird als Person denunziert und ruiniert. Er wehrt sich nicht, was vielleicht für sein Schuldbewusstsein spricht. Im Nachdenken darüber, „wenn dies oder das sich so statt so vollzogen hätte“, findet Jelmer den vom Podest gestürzten Nico nichts als beklagenswert und preist sein Leben in der Stille. Es ist die Konstellation von zwei Pseudo-Freunden, wie wir sie aus dem viel größer dimensionierten Buch Sokolows Universum von Leon de Winter kennen. Dort siegt am Schluss der Underdog, hier kommt es nicht ganz so weit. Nicos Eifersucht flammt endlich auf, und es kommt zu einem furiosen, fast ceneastischen Schluss: Jelmer und Daphne hatten sich im Archäologischen Museum der Universität verabredet, um etwas (es gab kein „etwas“, fand Jelmer) zu bereden. Nico hatte davon erfahren. So kommt es zum exotisch eingefärbten Countdown: Inmitten der ausgestellten Reptilien und Aquarien fliegen den beiden Beinahe-Liebenden Nicos Kugeln um die Ohren. Daphne wird tödlich getroffen. Jelmer antwortet auf die Frage einer Polizistin, ob er verletzt sei, sozusagen klassisch: „Ich war unverletzt. Jedenfalls körperlich.“
Der Roman, an dem Brouwers fünf Jahre geschrieben hat, ist reich gefüllt: mit der Handlung und den Nebenhandlungen, mit den Hauptpersonen und zahllosen Figuren, mit vielen Schauplätzen und Szenen, mit Entwicklungen und Verwicklungen.

Das Hauptthema ist die heimliche Liebe Jelmers und deren Missbrauch durch alle irgendwie Beteiligten. Das Sirenenmotiv, zuletzt von Wellershoff in seinem Roman Die Sirene auf den Telefonsex angewandt, kommt hier sehr zeitgenössisch ins Bild. Anspielungen auf die Odyssee zeigen, wie gründlich es mit allem Heldentum vorbei ist, vielleicht auch, dass es im Polderland keinen Platz hat. Wenn ein Lektor ein paar kräftige Schnitte gewagt hätte, wäre das Buch möglicherweise ein Meisterwerk geworden. Eine lohnende Lektüre bleibt es auf jeden Fall.


Jeroen Brouwers: Geheime Zimmer. Roman. Aus dem Niederländischen von Christiane Kuby. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart/München 2002.


Frankfurter Rundschau, 21.12.2002



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