Inhalt:
Rainer Maria Rilke, Duineser Elegien

Die fünfte Elegie

Ansatz zu einer neuen Interpretation, Einführung in Textverständnis und Problematik

  

 

Die fünfte Elegie beginnt (wie die Elegien 1, 4 und 9) mit einer emphatischen Frage:

Wer aber sind sie, sag mir, die Fahrenden...

Damit sind die Fahrenden, Artisten oder Gaukler als Thema der Elegie angesprochen,

diese ein wenig flüchtigern noch als wir selbst...

Daß diese konkret beobachteten Artisten ein Allgemeines bedeuten und zum grundsätzlichen Zustand des Menschen in Bezug zu setzen sind, ist zugleich impliziert. Flüchtigkeit und Unzulänglichkeit der menschlichen Existenz, die ja etwa in der vierten Elegie beklagt wurden (Wir sind nicht einig. (...) Uns aber, wo wir eines meinen, ganz, ist schon des andern Aufwand fühlbar) werden somit abermals zum Thema und scheinen in den Fahrenden lediglich eine besondere (symbolische) Veranschaulichung und Steigerung zu finden. Gekennzeichnet sind diese durch Ruhelosigkeit (kaum dort... schon auch ... rollt sie wieder, zum Scherz, der immer kommende Griff...) und grundsätzliches Fremdsein in der Welt: die Erde wird ihnen zum verlorenen Teppich im Weltall - und zwar, weil ein niemals zufriedener Wille sie wringt, biegt, schlingt und schwingt.

 

Doch trotzdem, trotzdem die Fahrenden noch flüchtiger als wir Menschen sind, scheint die Klage des dichterischen Ichs in merkwürdiger Weise durch vieles relativiert, aufgehoben und gewandelt in Faszination für ihr rastloses Treiben.

Schon in der ersten Strophe fällt die Häufung von Vokabeln der Ewigkeit und Wiederkehr auf, wie auch insgesamt die dargestellte artistische Tätigkeit als großer Kreislauf erscheint, der sich zwischen Himmel und Erde abspielt (also ähnlich wie anderswo bei Rilke das Motiv der Fontäne, des Baums etc.). Die Flüchtigkeit der Fahrenden ist also ein Auf und Ab, ein An- und Abschwellen artistischer Figuren, durch das die Bindung zur Erde aufgehoben und ein schwereloser Zustand der Überwindung der Flüchtigkeit und Zerrissenheit angedeutet werden.

Zwar sind die Artisten einem mächtigen und niemals zufriedenen Willen unterlegen, der sie wie die Hand Augusts des Starken packt und zu sinnloser Tätigkeit zwingt, die einer Maschine zu vergleichen ist: die unmittelbar an diesem Prozeß der Bewegung beteiligten sind von ihrer Tätigkeit entfremdet, da alles Tun Sinn-entleert und unbefriedigend ist, insofern den Fahrenden ein Ergebnis der Tätigkeit nicht zukommt, aber es scheint zugleich auch so, als sei der Dichter von dieser willenlosen und niemals bewußten Tätigkeit der Artisten, ihrem Scheinleben (glänzend mit dünnster Oberfläche), das nur aus Äußerlichkeit besteht, auch fasziniert.

Mit dem Negativbild der Vorstadtwelt der Fahrenden, also einer Randwelt des Unbehaustseins, kontrastiert das Bild der Rose, die blüht und entblättert, also vergeht und in ihrer Mitte nichts hat als die Artisten, die nur eine Scheinfrucht der Unlust hervorbringen, - aber ja doch wenigstens diese. Ihre Tätigkeit gleicht einer Selbstbefruchtung und bringt insofern also tatsächlich etwas im pflanzlichen Kreislauf des Werdens und Vergehens ewiges hervor.

Das Gefühl der Unentschiedenheit zwischen Klage oder Lob über die Fahrenden bleibt durchgehend bestehen. In den Fahrenden scheint die Flüchtigkeit und Äußerlichkeit der Menschen so konsequent zu einem Ende getrieben, daß angesichts dieser radikalen Äußerlichkeit die menschliche Halbheit in Vergessen gerät. Der faltige Stemmer geht sogar so sehr in dieser Äußerlichkeit auf, daß anders als bei gewöhnlichen Menschen, wo Tod und Geburt die äußere Gestalt betreffen, sein Inneres in der gewaltigen Haut eingeht und sein nunmehr taubes Äußeres als Hülle bleibt, die nur noch trommelt, - er ein willensmäßiges Verhalten also abgestreift hat.

Vollends deutlich wird die Positivierung dieser reinen Äußerlichkeit, die zugleich eine Positivierung des menschlichen Leids ist - die Elegie gewinnt dadurch beinahe heilsgeschichtliche Dimensionen -, in der sechsten Strophe:

Oh ihr, die ein Leid, das noch klein war, einst als Spielzeug bekam, in einer seiner langen Genesungen...

Nichts anderes als eine Genesung vom Dasein durch die Erfüllung im Tod scheint hier gemeint zu sein, - ein Zustand, der durch die stumpfe Aktivität der Fahrenden, d. h. durch den entschlossenen Ernst ihrer Unbewußtheit, im Prinzip schon erreicht ist. Die Fahrenden haben sich also dem ewigen Kreislauf der natürlichen Dinge eingefügt und durch Körperlichkeit ihre Sehnsucht überwunden. Zwar sind im Auge des Artisten noch Tränen (allerdings leibliche) vorhanden, doch was sind diese schon angesichts der Realität brennender Fußsohlen. Die Artisten nehmen sich selbst zurück und geben den Zuschauern trotz ihres Leides ein Lächeln, in dem der Dichter eine Erfüllung der menschlichen Existenz sehen will:

Engel! o nimms, pflücks, das kleinblütige Heilkraut.

All das ist zuminmdest zum Teil auch wieder in Frage gestellt, zum einen durch die Eingangsfrage, welche ja die gesamte Existenz solcher Fahrenden betrifft, dann aber auch durch die erneute Frage:

Wo, o wo ist der Ort...

Jetzt wird das tierische Unbekümmertsein durch die dem Bildbereich der Fahrenden gleichberechtigten Bildbereiche der Liebenden und der Modistin Madame Lamort erneut vorgeführt. Die Frage, ob so ein reines Zuwenig überhaupt möglich sei, wird offenbar negiert, da das Zuwenig zwangsläufig umschlage in jenes (menschliche) leere Zuviel.

Wo die vielstellige Rechnung zahlenlos aufgeht - wo also der Reichtum der Einfachheit an eine nichtssagende Leere verloren geht.

Am Ende bleibt nur der Konjunktiv:

Engel!: Es wäre ein Platz..., auf dem die Liebenden, wie auch die Fahrenden ihre Figuren des Herzschwungs zeigten. Doch die elementare Frage, ob das angesichts der Zerrissenheit des Menschen möglich ist, wird in der fünften Elegie nicht beantwortet.

Boris Körkel, 13. Mai 1998, leicht überarbeitet und ergänzt im April 1999

 

 
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Subrisio saltat

Unfertige Gedanken über Rilke, Rodin, Cézanne und Picasso

Georg Simmel zufolge - Georg Simmel: Rodin (mit einer Vorbemerkung über Meunier, erstmals 1911) gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten, auf die Ruhelosigkeit der Moderne - ja auf das pantha rhei ("Alles fließt", Heraklit) des Lebens überhaupt - zu antworten.
 

 

Die erste Möglichkeit besteht darin, die Unruhe noch zu steigern, wie es Van Gogh getan hat, aber auch Rodin, bei dem, wie Rilke in seinem Rodin-Essay schreibt, im Material aus der Fülle des Lebens, das voller Bewegung ist, ein Ding entsteht.

"Es gab nur Bewegung in der Natur" und die Plastik ist deswegen voll "Unruhe und Wellenschlag"; alle bewegten Flächen und die aufgelöste Oberfläche bilden untereinander aber schließlich einen Ausgleich und das Werk ist insgesamt in sich geschlossen. Es "scheint seine Gerechtigkeit in sich zu tragen, die Aussöhnung aller seiner Widersprüche und eine Geduld, groß genug für alle seine Schwere."

Als sicher dastehendes Gebilde in Stein ist das Kunstwerk ein ganz mit sich selbst beschäftigtes autonomes Ding, "unantastbar", "sakrosankt" und "getrennt vom Zufall und der Zeit". Also wird gerade durch Steigerung der Bewegtheit des Lebens diese überwunden. Sogar eine fragmentarische Skulptur kann sich als Plastik behaupten und als Bildwerk verdinglicht werden. Rodin hat darin, so Georg Simmel, "als der Erste einen Stil" gefunden, mit dem die Plastik "die Haltung der modernen Seele dem Leben gegenüber ausdrückt." - "Die Bewegung ist jetzt ihrem Sinne und ihrer Tendenz nach in den Körper übergegangen, sie ist nicht mehr das Symbol einer Verneinung des Körpers, sondern die Seele, die sich in ihr ausspricht, ist durchaus die Seele des Körpers, der diese Bewegung trägt."

 

 

Der zweite Weg, auf das pantha rhei zu reagieren ist Flucht in die Ruhe. Paul Cézanne zog sich aus der Großstadt in ein Tal zurück, vor dem sich das Gebirge der Sainte Victoire erhob, und malte Entsprechungen der ruhig vor ihm liegenden Natur. Für ein Stilleben benötigte er einhundert Arbeitssitzungen, für ein Portrait saß ein Modell einhundertfünfzigmal, weil sein Werk für ihn nur ein Versuch und das Herantasten an seine Malerei war (Maurice Merleau-Ponty, Der Zweifel Cézannes).

In neuem Sehen, indem der Eindruck von der Sache abgespalten wird und für den Eindruck das farbliche Umfeld mitbedacht wird, erlangt die Natur neue Gültigkeit und Dauer. Cézanne will die Subtilität der Wirklichkeitswiedergabe des Impressionismus beibehalten, der nur an der Wiedergabe des momentanen und flüchtigen optischen Erscheinungsbildes interessiert war und kein festes Ding mehr, keine feste Kontur, nur fließende Übergänge kannte. Letztendlich will er den Impressionismus mit den Mitteln des Impressionismus überwinden und zugleich auch das bleibende Wesen der Gegenstände zum Ausdruck bringen, in allem "das Seiende sehen, das, mit allem anderen Seienden, gilt", so Rilke in einem Brief an seine Frau anlässlich der Betrachtung der Bilder Cézannes im Herbstsalon des Jahres 1907.

In Cézanne sieht Rilke das erreicht, was er in Bezug auf Dichtung als "sachliches Sagen" bezeichnet, wobei er an eine lange Entwicklung objektivistischer Darstellung anknüpfen will, die nach Rilkes Aussage in Baudelaires Gedicht 'Das Aas' ihren Anfang genommen habe.

In Cézannes Kunst entsteht abseits von der Flüchtigkeit der Lebenswelt des modernen Menschen eine Harmonie parallel zur Natur, indem die Bilder in sich ein Gleichgewicht der Farben tragen: "Es ist, als wüßte jede Stelle von allen." - "und doch hat die Farbe kein Übergewicht über den Gegenstand, der so vollkommen in seine malerischen Äquivalente übersetzt erscheint, daß, so sehr er erreicht und gegeben ist, doch andererseits auch wieder seine bürgerliche Realität an ein endgültiges Bild-Dasein alle Schwere verliert. Alles ist (...) zu einer Angelegenheit der Faben untereinander geworden: Eine nimmt sich gegen die andere zusammen, betont sich ihr gegenüber, besinnt sich auf sich selbst." (22. 10. 1907)

 

Beide vorgestellten Ansätze fanden ihre Fortsetzungen in der modernen Kunst und zahlreiche Entsprechungen in der Literatur, zum Teil wurden sie aber auch miteinander vereint. In Pablo Picassos Werk finden fragmentierende, d. i. analytische Momente und klassizistische, d. i. synthetische Momente zusammen. In gleicher Weise entstehen auch bei Rilke gerade aus der Erfahrung des Heraklitischen Werke, die zugleich ruhend und aufgelöst sind. Möglicherweise könnten vor diesem Hintergrund die offensichtlichen Widersprüchlichkeiten der fünften Elegie besser verstehbar sein. Aus dem sinnlosen Tun der Gaukler, ihrer übersteigerten Ruhelosigkeit, entsteht eine neue Art von Sinn. Ihre artistischen Figuren erlangen Gestaltrealität, sind weder Gefühlsaudruck, noch künstlerische Einkleidung einer geistigen Idee, sondern Artikulation des Wesens der Welt und tragen wie Rodins Plastiken ihre Gerechtigkeit in sich selbst, gehen wie die Farbe in Cézannes Werk "ohne Rest" in ihrer Tätigkeit auf. Ihr Mit-sich-selbst-Beschäftigtsein ist eine uns noch nicht offene Freude.

Subrisio saltat

 

 

"Schon, obwohl ich so oft aufmerksam und unnachgiebig davorgestanden habe [vor den Bildern Cézannes], wird in meiner Erinnerung der große Farbenzusammenhang der Frau im roten Fauteuil so wenig wiederholbar wie eine sehr vielstellige Zahl. Und doch hab ich sie mir eingeprägt, Ziffer für Ziffer. In meinem Gefühl ist das Bewußtsein ihres Vorhandenseins zu einer Erhöhung geworden, die ich noch im Schlafe fühle; mein Blut beschreibt sie in mir, aber das Sagen geht irgendwo draußen vorbei und wird nicht hereingerufen." (An Clara, 22. Oktober 1907)

 

16. Januar und 22. April1999

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