Studien Boris Körkel: Literaturwissenschaft



... daß ihre Lebensaufgabe und ihr Lebenszweck etwa im "Raubrittertum" sich erschöpfte
Einige Gedanken über die ältere und neue Übersetzung der Kraichgaurede


Vortrag am 1. Juli 1999 in Menzingen, David-Chytraeus-Saal anläßlich der Präsentation der Neuedition der "Kraichgaurede" des David Chytraeus
(David Chytraeus: Kraichgau. De Creichgoia. Faksimile der Ausgabe Wittenberg 1561 mit Übersetzung und Nachwort. Zum Chytraeus-Jahr 2000 im Auftrag des Heimatvereins Kraichgau e. V. und der Stadt Kraichtal, herausgegeben und neu übersetzt von Reinhard Düchting und Boris Körkel, Ubstadt-Weiher, verlag regionalkultur 1999)

mit der Ansprache von R. Düchting erschienen in: "Kraichgau" - Beiträge zur Landschafts- und Heimatforschung. Folge 16 (1999) 481-483


Lassen Sie mich einige Worte zur Edition und Neuübersetzung der Kraichgaurede und auch über die ältere Übersetzung des Menzinger Pfarrers Otto Becher sagen.

Dass es im Kraichgau eine sehr lebhafte Heimatforschung gibt, dafür zeugen u. a. das seit 1968 erscheinende Jahrbuch "Kraichgau", welches seit 1974/75 vom Heimatverein Kraichgau herausgegeben wird, überhaupt dessen Tätigkeit, eine Institution wie die Kraichgau-Bibliothek im Graf-Eberstein-Schloß Gochsheim, wo wir für die Arbeit am Chytraeus aus einer sehr reichen Sammlung vor allem jüngerer Literatur schöpfen konnten, sowie seit einigen Jahren auch die Publikationen unseres verlags regionalkultur, wo schon 1993 über David und Nathan Chytraeus ein umfassender Sammelband erschienen ist.

Und natürlich besitzt auch die Universität Heidelberg mit ihrem Institut für Fränkisch-Pfälzische Geschichte und Landeskunde eine Ausstrahlungskraft bis über den Kraichgau.

In der zahllosen Literatur zum 16. Jahrhundert, zur Einführung der Reformation im Kraichgau, zur Geschichte der Kraichgauer Ritterschaft, zur Geographiegeschichte und zur Frage, "Was ist eigentlich der Kraichgau", ist die Rede de Creichgoia der Forschung und allen Interessierten schon lange ein Begriff. Dass diese "Kraichgaurede" – wie sie unter den Kennern salopp-präzis genannt wird – aber bisher nur schwer zugänglich ist, wird gern bedauert. Arnold Scheuerbrandt hat in dem genannten Band 1993 Auszüge aus ihr übersetzt; und von 1908 gibt es die Übersetzung von Otto Becher, die jedoch wie die Rede sehr selten und nur schwer zugänglich geworden ist.

Das Verdienst, die Chytraeus-Rede im Kraichgau bekannt zu machen, gehört also Otto Becher. Geboren 1863 in Rußheim, ist er nach jahrelangem Dienst in verschiedenen nordamerikanischen Gemeinden um New York von 1903 bis zu seinem Tode 1930 Pfarrer hier in Menzingen. Er hat sich, wie man Günter Bienwalds Buch über Menzigen (1970) entnehmen kann, viel mit der Geschichte des Ortes befasst und eine besondere Aufgabe darin gesehen, sich dem Leben und Werk von Chytraeus zu widmen. David Chytraeus war ja der Sohn seines Vorgängers, nämlich des ersten evangelischen Menzinger Pfarrers Matthäus Kochhaf; Matthäus Kochhaf, was griechisch mit lateinischer Flexionsendung zu Chytraeus wurde, war hier 28 Jahre lang Pfarrer (1531-1559) und David wuchs hier, unter der Herrschaft des Peter von Mentzingen, auf.

Erlauben Sie mir, statt nur über unsere neue Übersetzung zu reden, zuerst ein paar Worte über Bechers Band, den er "Das Kraichgau und seine Bewohner zur Zeit der Reformation, Oratio von David Chytraeus" betitelte, zu verlieren. Es scheint mir interessant, nachzusehen, was Otto Becher dazu bewogen haben mag, die damals weitgehend unbekannte Rede zu übersetzen.

Im Vorwort, das für uns schon selbst wieder zu einem historischen Zeugnis geworden ist, gibt er selbst eine Antwort auf diese Frage. Es seien drei Gründe, weshalb er die Rede übersetzt habe:

1. Er wolle sie "als ein außerordentlich schönes und wertvolles Zeugnis unsrer volks- und kirchengeschichtlichen Vergangenheit" und als "bleibendes Denkmal der Liebe und Verehrung" für David Chytraeus, den größten Sohn Menzingens, veröffentlichen. Becher zufolge dürfte die Rede damals – trotz gerade aufblühender Heimatforschung – wohl nur wenigen auch nur dem Namen nach bekannt gewesen sein.

Der zweite Grund erscheint mir besonders interessant, da er noch eine gewisse Kontinuität zu dem ursprünglichen Anliegen von Chytraeus verrät. Becher wolle, ganz im Sinne von Chytraeus, dessen Rede ja ein Zeugnis der Dankbarkeit gegen seine Mäzene Peter von Mentzingen und Melanchthon ist, durch die Rede "die heilige Pflicht der Dankbarkeit für empfangene Wohlthaten gegen Gott und Menschen einschärfen." Der Menzinger Pfarrer Becher beklagt nämlich, dass man in weiten Schichten des Volkes eine immer größer werdende "Unzufriedenheit in den Verhältnissen des beruflichen und gesellschaftlichen Lebens" bemerke, die zwar zum Teil durchaus begründet sei, deren hauptsächliche Quelle er aber in der verbreiteten Undankbarkeit sieht. Becher mahnt deshalb mit Psalm 50,23: "Wer Dank opfert, der preiset mich, und bahnet den Weg, daß ich ihm zeige das Heil Gottes."

Mit dieser Ermahnung zu Dankbarkeit hängt auch der dritte Grund zusammen. Die Rede solle Zeugnis davon geben, wie sehr die Vorfahren des zu Beginn des Jahrhunderts "viel geschmähten Adelsgeschlechtes" – man darf nicht vergessen, dass damals noch Kaiserreich war – sich um die "leibliche und geistliche Wohlfahrt unsres Volkes rühmliche Verdienste erworben haben" – und dass die Ritter nicht, wie manche behaupten ihren Lebenszweck nur im "Raubrittertum" gesehen hätten, sondern schon im 16. Jahrhundert wichtige Träger des ja v. a. im 19. Jahrhundert zum Politikum gewordenen Reichsgedankens und auch der Reformation gewesen seien.

Aus der zeitlichen Distanz erscheint dieses Vorwort, das Becher am 1. Dezember 1907 geschrieben hat, etwas befremdlich, denn für unseren Geschmack, die wir v. a. um Objektivität in der Darstellung bemüht sind, werden der Rede des Chytraeus hier gewiss zu viele Bezüge zur damals aktuellen Lage zugesprochen. Doch interessant ist es allemal, denn in diesen Jahren vor dem ersten Weltkrieg sind überall große Prozesse des Wandels spürbar, auf die, vereinfacht dargestellt, grundsätzlich in zweierlei Weise reagiert wurde: 1. durch Aufnahme des Neuen und Forderung nach weiterer Erneuerung oder 2. durch Rückbesinnung auf alte Werte und Traditionen. Der revolutionäre Wandel in allen gesellschaftlichen Bereichen war nicht von der Hand zu weisen, was Becher weiß, wenn er von der sich ausbreitenden Unzufriedenheit in weiten Schichten der Bevölkerung spricht (man denke an die Auswirkungen naturwissenschaftlichen Wissens auf das alltägliche Leben, moderne Arbeitsteilung, Machinisierung, Urbanisierung, Entstehung von Großindustrie etc.).

Rückbesinnung auf die Geschichte und damit auch auf die kirchliche und ethische Tradition ist dem Pfarrer Otto Becher eine Antwort auf jene Phänomene, die in grober Verallgemeinerung oft als die Krise der Moderne bezeichnet werden. Dass die Kraichgaurede des Chytraeus als Antwort auf diese Krise geeignet erscheint, aber doch wohl nur als ein Baustein für die damals allmählich immer eifriger gepflegte Heimatforschung, ist für uns ein merkwürdiger Gedanke. Unbestreitbar kommt Becher der Verdienst zu, die Rede erstmals zugänglich und dadurch bekannt gemacht zu haben.

Die heute hier vorgestellte Neuübersetzung will – weit entfernt von Bechers Wirkungsabsichten – der Heimatforschung die Rede über den Kraichgau wiedergeben und neu zugänglich machen, und damit jene Lücke schließen, die schon oft und in zahlreichen Aufsätzen beklagt worden ist.

Abgedruckt ist ein Faksimile des lateinischen Originals der Erstauflage 1561 nach dem Exemplar der UB Heidelberg, Sammlung Albert Mays, welcher der Bibliothek eine bedeutende Sammlung von Heidelbergensien vermacht hat. Außerdem abgedruckt ist eine neue Übersetzung, bei der wir uns vor allem um wörtliche Wiedergabe des lateinischen Textes und um weitgehende Beibehaltung der syntaktischen Struktur bemüht haben. Zur Erschließung der zahlreichen Eigennamen (Personen, Orte, Flüsse) gibt es ein Register mit sämtlichen im Text nachgewiesenen Schreibweisen, das auch als Ermunterung zu einer Beschäftigung mit der Geschichte von Kraichgauer Namen betrachtet werden kann. Gerade in der Wiedergabe der Namen hatte Becher so seine Schwierigkeiten, wie Bossert schon 1908 in der ZGO bemerkte – zugleich machte er sich durch Hinzuziehung eines handschriftlichen Stammbaumes der Familie von Mentzingen aber um die Darstellung ihrer Familiengenealogie sehr verdient.

Ferner problematisch an Bechers Übersetzung erscheint aus heutiger Sicht vor allem die Zusammenführung mehrerer Auflagen der Rede, ohne dass dies im Einzelnen gekennzeichnet wäre. Überhaupt bleibt unklar, welche Auflagen Becher wohl zugrunde gelegen haben mögen. Unsere Reproduktion und Übersetzung beschränkt sich auf die erste Auflage von 1561.

Wir hoffen, hiermit der Heimatforschung und zugleich auch allen an geschichtlichen Dingen interessierten, einen Text vorzulegen, mit dem sie arbeiten können, in dem man aber auch mit Freude schmökern kann, und der durch Nachwort und Register auf mehrere Wege erschließbar und somit auch heute, ein Jahr vor dem Chytraeus-Jahr 2000, noch verstehbar ist.

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