Studien Boris Körkel: Linguistik



Wissenschaftliche Terminologie in der Chemie




Der Satz ist ein Modell der Wirklichkeit, so wie wir sie uns denken.
(Wittgenstein, TLP 4. 01).



Beispiel für einen chemischen Fachtext:

Quantenmechanische Berechnungen ergaben, daß monocyclische konjugierte Cyclopolyene mit (4n+2) p-Elektronen aromatisch sind und sich durch besondere Stabilität auszeichnen (Hückel -Regel). Dies gilt sowohl für neutrale als auch für ionische p-Elektronensysteme, sofern eine planare Ringanordnung mit sp²-hybridisierten C-Atomen vorliegt, denn dies ist die Bedingung für maximale Überlappung von p-Orbitalen. (Latscha-Klein, 87)

Der Text enthält

  1. gemeinsprachliche Lexik
  2. fachsprachliche Lexik.



Gliederung des Fachwortschatzes:

  1. fachsprachliche Termini:
    • standardisierte (spezifische Termini; gnoseologischen Charakters, Fachausdrücke, Nomenklatur): monocyclische, konjugierte, Cyclopolyene, p-Elektronen, aromatisch, (...).
    • nichtstandardisierte Termini (Termini mehrerer Wissenschaften, bzw. Termini anderer Fachgebiete): quantenmechanische, Stabilität, Überlappung, (...).
  2. Fachjargonismen/ Halbtermini: Berechnungen, vorliegt, maximale, (...).



Terminologien

Terminologie: System der Termini. (= Kern der Fachsprache).
Termini sind der definierte, festgelegte Teil fachsprachlicher Lexik.
z. B.
aromatisch:
Kohlenwasserstoffe, die das besondere Bindungssystem des Benzols enthalten, zählen zu den "aromatischen" Verbindungen (Aromaten). (Latscha-Klein, 87)

Terminologisierung
ein gemeinsprachliches Wort erhält den Charakter eines Terminus. (aromatisch, Gold, sauer, gesättigt, Darstellung, etc.) Entterminologisierung: ein wissenschaftlicher Terminus wird (wieder) Element der Gemeinsprache. Tendenz zu Polysemie, Expressivität, Bedeutungswandel. (Nylon, Parafin, Styropor, Benzin, TNT (Tri-Nitro-Toluol), Alkohol, etc.)



Unterteilung der Termini aufgrund ihrer Entstehung:

  1. Aus gemeinsprachlichem Wortgut: aromatisch, (...)
  2. motivierte Termini: ionisch (bzw. Ion), Ringanordnung, (...)
    (Diese können metaphorische oder metonymische Übertragungen aus der Gemeinsprache sein, oder sie entstehen auf dem Wege der Wortbildung).
  3. Aus fremdem Wortgut: Internationalismen oder Neubildungen aus griechischen oder/ und lateinischen Morphemen/ Lexemen: Cyclohexan, (...)
  4. Wortbildungskonstruktionen, die der fachsprachlichen Systematik Rechnung tragen.


Ein besonderer Fall:
Die Nomenklatur in der Chemie

In CAS (Chemical Abstract Service)-Substanzregistern sind rund 10 Millionen Verbindungen namentlich verzeichnet (Stand 1990). Jährlicher Zuwachs ca. 500 000.

Chemische Nomenklatur (von lat. nomenclatio = Benennung mit Namen):
eine Art "Sprachregelung" zur systematischen Bezeichnung chemischer Substanzen nach einfachen und strengen Regeln.
International geregelt ist die chemische Nomenklatur verbindlich durch den Dachverband der nationalen chemischen Gesellschaften, die IUPAC (International Union of Pure and Applied Chemistry).

Es ist das Ziel der Nomenklatur, einer Verbindung, die durch eine Strukturformel gekennzeichnet ist, einen Namen eindeutig zuzuordnen und umgekehrt. Bei der Suche nach einem Namen für eine Substanz hat man bestimmte Regeln zu beachten. (...) (Latscha-Klein., 597).


Bennenung der chemischen Elemente:

Die Namen der chemischen Elemente sind der Ausgangspunkt für die systematische chemische Nomenklatur.


Namen der Elemente:

  • bei 7 Elementen ist der sprachliche Ursprung kaum auszumachen: Gold, Silber, Eisen, etc.
  • nach Farbe und anderen Eigenschaften: Iod (griech. iodes = violett), Radium ("strahlendes Element")
  • nach Gottheiten, mystischen Figuren, Menschen: Titan, Promethium, Einsteinium, Mendelevium
  • in die Astronomie weisender Ursprung: Tellur, Uran, Neptunium, Plutonium
  • nach dem Entdeckungsort: Rhenium, Europium, Gallium
  • die Namen der künstlichen Elemente ab der Ordnungszahl 110 werden aus Zahlen gebildet: Ununnilium, Unununium



Bennennung von chemischen Verbindungen

Die chemische Nomenklatur sucht keine arbiträren (willkürlichen) Namen, sondern findet für jede Verbindung eine von ihrem inneren Aufbau her bestimmte Bennennung.
Geht man bei der Bennenung einer chemischen Verbindung nach den international vereinbarten Regeln (den IUPAC Recommendations) vor, so kann man deren ganzes "Wesen" in ein einziges, vielleicht langes, Wort packen, wie z. B.

1 - (1 - (4 -((2H - Aziridin - 2 - yl) - (2 - oxo - 5 - phenylimino - 1 - oxa - spiro - [3.3] hept - 6 - ylmethyl) - amino) - 4 - methyl - 4,5 - dihydro-thiopen - 3 - yl) - vinyl) - 3 - methyl - 3,4 -dihydro - 1H - benzo [c] [1,7] naphthyridin - 2 - on

Die IUPAC-Regeln schließen sich dabei enger an die Gesetzlichkeiten der Natur an, als irgendein anderes Bennenungssystem.


Nomenklatur in der organischen Chemie am Beispiel der Alkane

Alkane sind Kohlenwasserstoffe, d. h. Verbindungen, die nur aus den atomaren Bestandteilen Kohlenstoff (C) und Wasserstoff (H) aufgebaut sind, für die die Summenformel gilt: CnH2n+2
Die Formel des einfachsten Alkans, des Methan, lautet : CH4. Man kann sie ausbuchstabieren als "C-H-vier".

Weitere Alkane können nach dem gleichen System benannt werden: "C-2-H-6" (Ethan), "C-3-H-8" (Propan), "C-4-H-10" (Butan), etc.

Eine bessere Einsicht in die Wirklichkeit des Moleküls erlauben räumliche Modelle oder perspektivische Darstellungen, die z. T. ganz ohne sprachliche Zeichen auskommen und statt der Buchstaben verschiedenfarbige Kugeln kennen, die die jeweiligen Atome repräsentieren.

Auch in der sprachlichen Nomenklatur konnten Möglichkeiten gefunden werden, die tatsächliche Verknüpfungsart der Atome im Molekül im Namen zu berücksichtigen. So ist die Rede von a) Butan, dem die Konstitutionsformel CH3 - (CH2)2 - CH3 entspricht und b) von Iso-Butan oder exakter 2-Methylpropan. Ab 4 C-Atomen können Alkane bei gleicher Zusammensetzung verschiedene Struktur haben. Diese heißen Isomere

Lexikalische Besonderheiten der chemischen Nomenklatur:

  • Benennung nach einfachen und genauen Regeln. Die Benennung kann sogar durch ein Computerprogramm (AutoNom) erfolgen.
  • Die Namen tragen das "Wesen der Welt" in sich; und sind, je nachdem, welches Modell man zugrundelegt, mehr oder weniger gelungene Bilder einer als solche nicht aussprechbaren oder schreibbaren Wirklichkeit.
    Hier ist die Form selbst der Inhalt; wie Wittgenstein im Tractatus 2. 12 sagt: Das Bild ist ein Modell der Wirklichkeit, so gilt das auch für die chemische Nomenklatur. (Vgl. auch TLP 4. 01: Der Satz ist ein Bild der Wirklichkeit. Der Satz ist ein Modell der Wirklichkeit, so wie wir sie uns denken.
    Für die chemische Nomenklatur gilt dies.)
  • Sie tragen die Bedeutung in solcher Weise in sich selbst, daß man sie in ganze Sätze überführen könnte. Statt 2-Methyl-Propan könnte es heißen: Es ist ein Propan, an dessen zweiter Stelle eine Methyl-Gruppe verbunden ist.
    Demnach lassen sich chemische Nomenklaturen auch als Raffsätze, Verkürzungen von Sätzen, verstehen.
  • Die chemischen Substanznamen sind auch in dem Sinne Abbildung der Wirklichkeit, daß sie ja eigentlich lediglich die bildhafte Darstellung eines Moleküls ganz präzise in Sprache wiedergeben. Zwischen dem räumlichen Modell des Moleküls aus Holz oder Plastik und der gelungenen Nomenklatur besteht kein wirklicher Unterschied. Beide sagen genau das selbe aus. Es handelt sich eigentlich nur um verschiedene Projektionsweisen des gleichen Objekts.
  • Diese Nomenklatur wird von Fachleuten in der Weise verstanden, daß sie, wenn sie den Namen einer Substanz kennen, in jedem Fall dessen genaue Strukturformel anzeichnen können.
  • Die systematische chemische Nomenklatur war für die Chemie mehr als nur die Lösung eines Bennenungssproblems. Durch ihren (sprachlichen) systematischen Ansatz beflügelte sie die Ideen der Wissenschaftler und gab der weiteren Forschung Impulse. Die Nomenklatur ist ein wesentlicher Teil der Heuristik des Faches. Die Namen haben erkenntnistheoretischen Wert.



Trivialnomenklatur:

Bei etwas größeren oder komplizierteren Molekülen werden systematisch gebildete Namen der Chemie schnell unhandlich. Aus diesem Grund hat man ein weiteres alternatives Bennenungssystem entwickelt, das mit sehr viel kürzeren Namen arbeitet, die Trivialnomenklatur. Die Trivialnamen wiederum sind später wieder Bestandteil der systematischen Nomenklatur geworden.

Trivialnamen haben keinen erkenntnistheoretischen Wert aus sich heraus, lassen sich aber jederzeit durch systemastische Namen ersetzen.


    Häufige Bestandteile der Moleküle werden auch zu häufigen Namensbestandteilen, die Trivialnamen erhalten.

  • Häufig leiten sich Trivialnamen vom Vorkommen der Verbindungen in der Natur ab: Vanilin, Citronensäure, Harnstoff
  • Von der Gestalt der Moleküle: Propellane für Moleküle mit propellerartigen Molekülstrukturen
  • Von einer Laune des Entdeckers: Barbitursäure von "Barbara".


Verhältnis der Fachsprache der Chemie zur Gemeinsprache:

  • Für Substanzen, die die Öffentlichkeit interessieren, muß auch ein - vielleicht verkürzter - Name zur Verfügung stehen wie Dioxin für 2,3,7,8-Tetrachlordibenzo-1,4-dioxin.
  • Oftmals divergieren fachsprachliche Konsequenz und gemeinsprachlicher Gebrauch, sowie Gebrauch in anderen Fachsprachen gegeneinander:
    So ist das Blei(II)-carbonat der Chemiker bei den Pharmazeuten Plumbum carbonicum, bei den Mineralologen Cerussit und bei den Malern Bleiweiß.
  • Internationalisierende Absichten der IUPAC-Regeln überlagern sich oftmals mit nationalsprachlichen Traditionen:
    Schwefel statt Sulfur; in Verbindungen aber Sulfit, Sulfid, Sulfat, Sulfonamid, sulfonieren.
  • Andere Begriffe wurden an die internationale Schreibweise angeglichen:
    Ether stattt Äther; gemeinsprachlich aber nicht etherische Öle, Ethernarkose oder Wellensalat im Ether.
    In der 20. Auflage des Duden findet der Nutzer das Wort Ether, aber mit dem Hinweis vgl. Äther.
    Dem Duden fällt also die Rolle zu, zwischen den international angepaßten Notationen der Chemiker und der Schreibung z. B. von Journalisten und Bürgern in Deutschland durch entsprechende Verweise zu vermitteln.
    Oft wird nach einer Übergangszeit die Verweisrichtung umgekehrt und der fachsprachliche Eintrag wird zum Haupteintrag; zuletzt schwindet der Eintrag mit der alten deutschen Schreibweise. (Azetylen, statt Acetylen).


Literatur

  • Hans F. Ebel, Die neuere Fachsprache der Chemie unter besonderer Berücksichtigung der Organischen Chemie. In: Fachsprachen. Languages for Special Purposes. Ein internationales Handbuch zur Fachsprachenforschung und Terminologiewissenschaft. Hrsg. v. Lothar Hoffmann, Hartwig Kalverkämper, Herbert Ernst Wiegand, 1. Halbband, Berlin New York 1998.
  • Walther von Hahn, Fachsprachen. In: Lexikon der Germanistischen Linguistik, Hrsg. v. Hans Peter Althaus, Helmut Henne, Herbert Ernst Wiegand, 2. Auflage, Tübingen.
  • Thea Schippan, Lexikologie der deutschen Gegenwartssprache, Tübingen 1992, insbes. 228-237.
  • Hans Peter Latscha, Helmut Alfons Klein: Organische Chemie. Chemie - Basiswissen II. Vierte, vollständig überarbeitete Auflage. Berlin, Heidelberg, New York, Barcelona, Budapest, Hong Kong, London, Mailand, Paris, Tokyo 1997
  • Charles E. Mortimer: Das Basiswissen der Chemie, 6. Auflage, Stuttgart, New York 1996.
  • Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus. In: Ludwig Wittgenstein, Werkausgabe Band 1, 10. Auflage, Frankfurt am Main 1995.
  • Die Abbildung stammen zu größten Teil aus: http://servex.physik.uni-ulm.de/exp/content/Vortraege/ZAWIW98/ [= Othmar Marti u. a., Polymerphysik. Von Atomen über Ketten zu Kunststoffen.]

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