Wendelinus als Leser des Nil

Welche Vorstellung mag ein Sandhäuser 1623 von Ägypten gehabt haben? Dem Namen nach dürfte es vielen aus den biblischen Geschichten von Joseph oder Moses bekannt gewesen sein - vielleicht mag auch der ein oder andere von wundersamen Bauwerken, Tempeln und Pyramiden gewusst haben - oder von Mumien, die auch in Heidelberg, wie im Apothekermuseum auf dem Schloss zu sehen ist, als "Mumienpulver" zerrieben zur Arznei wurden; groß jedenfalls waren die Kenntnisse über fremde Völker und ferne Länder damals nicht - und zumal nicht über das exotische Ägypten, das, wie noch Vivant Denon, bei Napoleons Ägyptenfeldzug 1798 verantwortlich für den Louvre und das Ägyptologische Institut, beklagt, "außer dem Namen nach, bei den Europäern praktisch unbekannt war".

Der Sandhäuser Theologe und Schulmann Markus Friedrich Wendelinus (1584-1652) widmet jedenfalls über 170 Jahre vor Napoleon und dem Beginn der wissenschaftlichen Erforschung und Beschreibung Ägyptens, ein ganzes Buch den "Wundern des Nil" (Admiranda Nili), welches 1623 in Frankfurt erscheint und von dem heute ein Exemplar im Heimatmuseum der Gemeinde Sandhausen zu sehen ist. Seit 1612 ist Wendelinus Rektor des bedeutenden "Gymnasium illustre Anhaltinum" zu Zerbst, das unter dem Dreißigjährigen Krieg schwer zu leiden hat. Es scheint fast so, als habe er in diesen fürchterlichen Wirren der Zeit die Flucht nach Ägypten gesucht, um Hunger, Pest und Zerstörung unter der Beschäftigung mit dem wie in mythischer Ferne entlegenen Nil zu vergessen.

Wendelinus tritt von seiner Studierstube in Zerbst, nicht weit von Wittenberg und Dessau gelegen, eine Gedankenreise an; er wolle Gottes Schöpfung wie ein Buch betrachten und wie einst der Eremit Antonius in diesem Buch der Welt lesen, dessen Blätter Himmel, Erde und Wasser, dessen Buchstaben die Bewohner dieser Stätten, nämlich Sterne und Vögel am Himmel, auf der Erde Lebewesen mit den Menschen als höchsten, im Wasser Fische sind.

Diese Metapher vom Buch der Natur mit gleichzeitiger Zurückweisung aller anderen Bücher erweist sich angesichts der Arbeitsweise des Wendelinus als paradox. Er liest zwar im Nil, doch fließt sein Nil durch zahllose andere Bücher; unermüdlich unterzieht er die Zeugnisse von 318 antiken und neueren Autoren einem Verhör, wiegt deren Berichte über den Nil derart gegeneinander ab, dass er manche als Phantasiewerk verwirft, andere als wissenswerte Wahrheit gelten läßt. Eine neue naturwissenschaftliche Forschung setzt damals erst ganz zögerlich ein; Francis Bacon macht zwar 1620 in seinem "Novum organon scientiarum" die Erfahrung zur Grundlage aller Wissenschaft und protestiert wie auch Descartes gegen Tradition und Autorität der Bücher, doch bis zur wirklichen Trennung von Philologie und Naturwissenschaft und auch von Theologie und Wissenschaft ist es noch weit. Der Theologe Wendelinus ist jedenfalls noch dem frühneuzeitlichen Selbstverständnis eines Universalgelehrten verhaftet, der davon ausgeht, dass eine einzige Methode, nämlich die philologische, adäquaten Zugang zu allen Bereichen einer von Gott geschaffenen Realität verschaffen kann. Da ja alles zugleich ähnlich und verschieden ist, zieht er Vergleiche von ägyptischen zu parallelen Phänomenen auf der ganzen Welt: so erscheint ihm zum Beispiel in einem langen Exkurs das Zerbster Bitterbier ebenso nützlich wie das Nilwasser, die Nachrichten eines mäusefrei gewordenen Ägyptens veranlassen ihn zu einer Erörterung über den Mäuseturm vor Bingen im Rhein, dieser wiederum reizt den Kurpfälzer Wendelinus zu einem Vergleich mit der Festung Trutzkaiser auf dem Heidelberger Gaisberg. Auf diese Weise läßt Wendelinus außer Nachrichten über Ägypten auch manche europäische und sogar asiatische oder amerikanische Begebenheit und Anekdote in seine reiche Darstellung der Wunder des Nil einfließen.

Anders als antiken Beschreibungen, die vor allem die Exotik Ägyptens hervorheben, wie Herodot, der meint, dass sich dort alles gerade umgekehrt verhalte als auf der übrigen Welt, geht es Wendelinus darum, am Sonderfall des Nil und anhand der Argumente des Kirchenvaters Ambrosius über die Vorzüge des Wassers, das nützlicher, schöner und bewundernswerter als alles andere sei, das universelle Wunder der Schöpfung zu beweisen. Gleichwohl interessiert er sich aber auch für merkwürdige Einzelfälle, Neuigkeiten und exotische Tiere wie Nilpferd und Krokodil, welches er sogar in fünf Kapiteln behandelt. Dabei wird in typisch barocker Lust am Sonderbaren so manches Gerücht erzählt, wie etwa über die Natur der Krokodilstränen, die so scharf seien, dass sie Knochen, auf die sie sich ergießen, zerätzen sollen. Auch Pyramiden, Hieroglyphen oder den sonderlichen Götterglauben der alten Ägypter, die nicht nur den Nil, sondern auch Affe und Krokodil, ja sogar Gemüse wie Schnittlauch und Zwiebel als Götter angebetet hätten, finden ihren Platz unter den fast endlosen behandelten Themen der umfassenden Darstellung des Flusses von den (damals noch nicht entdeckten aber gleichwohl diskutierten) Quellen bis zur Mündung.

Über die "Admiranda Nili" wurde im Oktober 1997 schon einmal in den GemeindeNachrichten berichtet; bereits Januar und Februar 1959 hat Richard Bitschene hier auf das ungewöhnliche Werk des berühmten Sandhäusers aufmerksam gemacht. In der Fülle ihrer Darstellung sind die "Wunder des Nil" ein faszinierendes Buch, in dem man mit viel Freude und Gewinn schmökern kann, aus einer Zeit, in der die Kenntnis über die Welt nach heutigen Gesichtspunkten noch gering war, aber rasant und unaufhaltsam zunahm, über ein Land und einen Fluss, die für uns auch heute noch in vielem den Zauber des Exotischen haben, geschrieben von einem Sandhäuser des 17. Jahrhunderts, über dessen Interessen, Vorgehensweisen und Anschauungen wir bei der Beschäftigung mit seinem Werk so manches erfahren.

Ein vollständiger Nachdruck des Buches erscheint in Kürze im Universitätsverlag C. Winter Heidelberg mit Vorwort, ausgewählten Dokumenten und übersetzten Stücken sowie einem ausführlichen Nachwort über Leben und Werk des Wendelinus. Die Herausgeber Reinhard Düchting und Boris Körkel bedanken sich vor allem bei Bürgermeister Erich Bertsch für die Gemeinde Sandhausen und Gerhard Kübler für den Vorstand des Verkehrs- und Heimatvereins Sandhausen 1952 e. V., ohne deren merklichen Druckkostenzuschuss der Nachdruck nicht zu realisieren gewesen wäre.

Boris Körkel

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