... und die Zeit steht still

Am ersten Tag trank er bis zur Besinnungslosigkeit. Am zweiten Tag wiederholte er die bet�ubende Prozedur. Das war nun mal seine Art der Problembew�ltigung. Nachdenken, nannte er das dann.

Erst am siebten Tag h�rte er auf. Die Vorr�te seiner Lieblingsmarke waren zur Neige gegangen, also wurde es doch Zeit f�r eine Luftver�nderung. Er erhob sich, dabei nur langsam wieder n�chtern werdend.

Zumindest nahm er an, dass es der siebte Tag war. Sechs Mal war er in den halbkomat�sen Zustand gefallen, sechs Mal wieder daraus aufgewacht. Die doppelte Anzahl leerer Flaschen lagen �ber Theke und Fu�boden verstreut in seiner Reichweite. Obwohl es in dieser Zeit weder drau�en noch hier drinnen dunkel geworden war, konnte er doch realistisch einsch�tzen, wie viel er trinken konnte und wie lange er brauchte, um sich davon zu erholen. Als er seinen Brummsch�del ins schwache Sonnenlicht geschoben hatte und ziellos einige Blocks weiter gelaufen war, fiel sein Blick auf eine langbeinige Blondine in einem kurzen Kleidchen. Gut, dachte er, dass die nicht in dieser piekfeinen Hotelbar war. Wer wei�, was sonst am Schauplatz seiner Orgie passiert w�re.

Er sch�ttelte den Kopf. So tief war er dann doch noch nicht gesunken. Dennoch ging er interessiert n�her. Die Blonde stand einfach nur da, zur Salzs�ule erstarrt. Er blickte ihr in die Augen, sah aber keinerlei Lebenszeichen darin blinken. Er br�llte ihr ins Ohr, erhielt keine Reaktion. Er nahm ihren Arm, stutzte, als er merkte, dass dieser keineswegs kalt wie bei einer Leiche war. Tats�chlich, die Frau lebte noch: Der Arm lie� sich bewegen, z�h zun�chst, dann leichter, fl�ssiger. War er eben noch an ihrer Seite herabgebaumelt, ein totes St�ck Fleisch an einem toten K�rper, so begann er jetzt, sich zu bewegen. Auf und nieder - auf und nieder - auf und nieder.

Dann lie� er ihn unten, verbl�fft, dass die Frau noch lebte, falls man ihren Zustand Leben nennen konnte, entt�uscht, dass sie nicht reagiert hatte. Als ob von einem Moment zum anderen jemand ihr Leben - alles Leben - angehalten h�tte und nur ihm allein sei es gestattet, sich weiter zu bewegen, zu atmen, zu leben.

Und doch. Die Frau. War da nicht eben eine Bewegung gewesen? Ein kurzes Zucken der Wimpern? Ein Atemholen durch die Nase? Schlich sich ein verr�terisches Grinsen auf ihren Mund?

Er beobachtete sie ganz genau, starrte sie an, vielleicht minutenlang - seine Uhr war stehen geblieben, wieder einmal, er musste sich eine neue kaufen -, lie� seinen Blick nicht von ihr weichen.

Nichts. Er musste sich get�uscht haben. Sie bewegte sich nicht, zuckte nicht, atmete schon gar nicht. Sie stand einfach da. Regungslos. Leblos.

Als der Gedanke langsam in sein Gehirn kroch, doch auch den Rest des K�rpers einer genaueren Untersuchung zu unterziehen, rief er sich zur Ordnung. Was immer Tanja auch an Vorw�rfen �ber ihm aussch�ttete, entbehrte jeder Grundlage. Er liebte sie und keine andere - es gab keine andere Frau in seinem Leben.

Auf der anderen Seite - er musste sich vergewissern. Schlie�lich musste es eine M�glichkeit geben, der Frau und dann auch all den anderen Menschen zu helfen, irgendwie. Und nur er war dazu in der Lage, soweit er die Situation �berblicken konnte.

Gedanklich sortierte er seine d�rftigen medizinischen Kenntnisse. Mund-zu-Mund-Beatmung, Herzmassage, stabile Seitenlage - alles schon gesehen oder geh�rt, im Fernsehen oder sonstwo. Doch konnte er irgendetwas davon wirklich? War er f�hig, einem vom Tod bedrohten Menschen in einer kritischen Situation das Leben zu retten?

Er sch�ttelte den Kopf. Vermutlich nicht. Er war kein Arzt, w�rde wahrscheinlich mehr Schaden anrichten, als Gutes tun. Nur ein Arzt konnte feststellen, was all diesen Menschen fehlte, warum sie pl�tzlich erstarrt waren, sich nicht mehr bewegten, nur dastanden, wie tote S�ulen aus grauer Vorzeit.

Ein neuer Gedanke. Tanja. Sieben Tage hatte er sie nicht gesehen, acht eigentlich, sie hatten Streit gehabt, wieder einmal, heftiger als jemals zuvor, und er hatte gedacht, es sei besser, sich mal nicht so schnell wieder blicken zu lassen. Dann war diese Geschichte passiert und in seiner Panik hatte er keinen anderen Ausweg gewusst, als erstmal nachzudenken, was denn eigentlich geschehen war und warum.

Er wusste auf beide Fragen noch immer keine Antwort und an der Situation hatte sich auch noch nichts ge�ndert. Aber jetzt musste er handeln. Trotz allem. Er musste Tanja finden und sie ihn Sicherheit bringen.

In Sicherheit? Richtig. Wer konnte sagen, ob er wirklich der einzige war, der sich noch bewegen konnte, der noch durch die Stra�en lief. Vielleicht gab es noch andere, Verzweifelte oder Psychopathen, die nicht so zartbesaitet waren wie er. Vielleicht war irgendwo da drau�en so ein schmieriger Kerl auf der Suche nach seiner n�chsten Beute.

Er sp�rte, dass die Aktivit�t ihm gut tat nach den langen Tagen der selbstgew�hlten Einsamkeit. Nur kurz orientierte er sich, dann kannte er wieder den Weg, den er zur�cklegen mu�te. Die kleine Agentur, in der Tanja arbeitete, lag viele, viele Stra�en weiter, keine Entfernung f�r den Bus oder ein Taxi, aber schon zu Fu�. Die Stadt war ihm nie sonderlich gro� erschienen, eher provinziell und �berschaubar, doch erst jetzt wurde er sich dessen bewusst, was f�r Entfernungen zur�ckzulegen waren, wenn man auf moderne Fortbewegungsmittel verzichten musste.

Was ihn zu der �berlegung f�hrte, wie es wohl im Rest der Welt jetzt aussah. War das Ph�nomen, dem er hier begegnete, �berall aufgetreten oder vielleicht nur auf eine kleinere Region beschr�nkt? Im letzteren Fall m�sste nach sieben Tagen l�ngst Hilfe vor Ort sein, Unterst�tzung von au�erhalb, die zur Rettung der Opfer ausgeschickt worden war. Davon war leider nichts zu bemerken. Sollte es sich aber tats�chlich um eine weltweite Katastrophe handeln, war er hier m�glicherweise f�r immer auf sich allein gestellt und musste versuchen, das Beste aus seiner Situation zu machen. Dann war er m�glicherweise sogar der einzige �berlebende, was ein merkw�rdiger Zufall w�re, k�nnte als einziger Mensch den anderen in ihrem seltsamen Zustand, der sich hart am Rande des Todes bewegte, helfen, sie besch�tzen.

Unterwegs fielen ihm die Typen aus der Agentur ein. Er beschleunigte seine Schritte, bis seine Seiten stachen. Geschniegelt und geschnackelt waren sie bei seinen seltenen Besuchen um Tanja herumscharwenzelt, hier ein "ach", dort ein "ooh", um Aufmerksamkeit heischend, Bewunderung herausfordernd. Sollte ausgerechnet einer dieser Schn�sel sich noch bewegen k�nnen - das w�rde er sich nie verzeihen, nicht w�hrend er in der Bar gesessen war und sich seelenruhig einen nach dem anderen verpasst hatte. Nat�rlich hatte er so handeln m�ssen - kein Mensch konnte sagen, was er in seiner ersten Panik getan h�tte. Vermutlich w�re er v�llig ziellos vorgegangen und w�rde sich jetzt Vorw�rfe deswegen machen. Nein, er hatte vollkommen richtig gehandelt. Daran gab es keinerlei Zweifel.

V�llig au�er Atem bew�ltigte er die Treppen der drei Stockwerke, der Aufzug war nicht gekommen, vermutlich steckte er mit seinen Passagieren seit einer kleinen Ewigkeit irgendwo zwischen dem f�nften oder sechsten fest und keiner beschwerte sich, keiner brach in Panik aus.

Dann war er oben, die T�r lie� sich, Gott sei Dank, �ffnen, er hatte schon lange keine mehr aufgebrochen. Die R�ume waren schnell durchsucht: Ein paar der Typen standen rum, stumm wie die �lg�tzen, starr wie Lots Weib. Tanja war nicht da.

Bevor er durchdrehte, bevor die Sorge und die Angst ihn �berw�ltigten, erinnerte er sich, welcher der Schreibtische ihrer war. S�uberlich aufger�umt, der Computer aus, w�hrend bei allen anderen die Bildschirmschoner fr�hlich flackerten. Hatte sie fr�her Schluss gemacht? Von Urlaub wusste er nichts, so kurzfristig h�tte sie den auch nicht gekriegt.

Hier war sie nicht gewesen, das beruhigte ihn. Er musste nach Hause, musste in der Wohnung nach ihr suchen. Nur dort konnte sie sein. Oder doch vielleicht beim Einkaufen in einem der zahllosen Superm�rkte der irgendwie doch gro�en Stadt? Beim Bummeln mit einer ihrer uns�glich schwatzhaften Freundinnen? Im Fitness-Studio, beim Friseur, im ...

Er klammerte sich an den einen Strohhalm. Sie musste in der Wohnung sein, sonst w�rde er sie nie finden. Endlos w�rde er durch die Stra�en irren, Gesch�fte durchst�bern, immer auf der verzweifelten Suche, aber nie am Ziel. Diese Stadt war so gro�, so verdammt gro�. Die Wohnung lag am anderen Ende der Stadt. Kurz spielte er mit dem Gedanken, sich ein Auto zu nehmen, verwarf diesen aber wieder. Nicht weil er keinen F�hrerschein mehr hatte, sondern weil die Stra�en schlicht verstopft waren. Rush Hour. Der Mega-Stau, der nie enden wird. Alle waren sie stehen geblieben, alle zum gleichen Zeitpunkt, und sie lie�en kaum L�cken in ihrer Beharrlichkeit. Auch wenn die Ampeln von Rot auf Gr�n schalteten, bewegte sich keins der Fahrzeuge, blieben alle stehen. Nach Gr�n kam Gelb, dann wieder Rot. Nichts. Es tat sich absolut nichts. Vermutlich w�rden die Autos an der Stelle kleben, bis sie verrostet waren. Blechs�rge f�r ihre scheintoten Fahrer.

Unwillk�rlich schaute er zum Himmel, in der Erwartung dort ein Flugzeug zu sehen, das ebenfalls starr verharrte. Mahnmale der einst so gro�artigen menschlichen Zivilisation, viele tausend Meter �ber dem Boden zwischen die Wolken gedr�ngt, f�r immer und ewig. Er sah keins, was aber nichts zu bedeuten hatte.

Mittlerweile ungeduldig und �rgerlich geworden, nahm er einen Radfahrer ins Visier. Der l�cherliche orangene Fahrradhelm kullerte auf die Stra�e, als er den jungen Mann nur leicht an der Schulter antippte, und dieser mitsamt seinem Rad zur Seite kippte. M�hsam l�ste er die Gliedma�en, die den Lenker hielten und auf den Pedalen ruhten, lie� den Mann am Rand der Stra�e liegen und machte sich auf den Weg. Es ist ein Notfall, rechtfertigte er sich. Vielleicht hatte der Mann selbst eine Frau oder sogar Kinder zuhause, dann w�rde er ihn verstehen.

Das Fortkommen ging schneller als zu Fu�, aber bei weitem nicht schnell genug. Die Stra�en waren �berf�llt, auch auf den Gehwegen gab es kaum L�cken, je n�her er dem Zentrum kam. Er verscheuchte die Gedanken an eine Pause aus seinem Gehirn, auch die Gedanken an einen langen, k�hlen Schluck und trat immer weiter unerm�dlich in die Pedale. Er hatte schon viel zu lange gewartet, viel zuviel Zeit vergeudet.


Er sah:

Tanja hatte sich wie eine Furie vor ihm aufgebaut. Ihre sonst so h�bschen Augen spr�hten vor Zorn.

Du bist echt das Letzte, schrie sie ihn an. Ich habe keine Ahnung, wie ich es nur so lange mit dir aushalten konnte. Verschwinde. Geh mir aus den Augen.

Aber Tanja, sagte er mit schwerer Zunge, du verstehst das v�llig falsch. La� es mich dir doch erkl�ren...

Ich habe deinen Erkl�rungen viel zu lange zugeh�rt und manche davon sogar geglaubt. Damit ist jetzt Schluss. Ich will nichts mehr h�ren. Hast du das kapiert? Nichts mehr. Ende.

Er war wie versteinert. Die Gedanken kreisten wirr in seinem Gehirn, aber es war ihm nicht m�glich, auch nur einen davon zu greifen, sich daran zu klammern und ihn auszusprechen. Dann w�rde er es schaffen, sie wieder zu bes�nftigen, das wusste er. Es war schlie�lich nicht ihr erster Streit.

Ein m�des Tanja war das einzige, was ihm �ber die Lippen kam.

Sie schob ihn zur T�r und er war v�llig hilflos, wehrte sich nicht, obwohl er um einiges st�rker war als sie. Sie dr�ckte ihn hinaus auf den Gang, sagte Lass dich hier nie mehr blicken und knallte die T�r ins Schloss.

Da stand er. Klingelte. Erneut. Doch sie machte nicht mehr auf.


Er zuckte kurz zusammen. So hatte sich die Szene tats�chlich abgespielt und w�hrend er hier auf seinem langen Weg zu Tanja war, hatte er sich daran erinnert. Mittlerweile musste sie ihm verziehen haben. Und wenn sie ebenso bewegungslos wie all die anderen Menschen sein sollte, dann w�rde er sich um sie k�mmern, bis diese Geschichte vorbei war, und sie w�rde ihm dankbar sein. Tanja war kein schlechter Mensch.

H�tte sich die Erde noch gedreht, w�re es mittlerweile l�ngst dunkel geworden, doch so konnte er auch seine M�digkeit zur�ckhalten. Er w�rde erst ruhen, wenn er Tanja in Sicherheit wusste, wenn er bei ihr war und sich vergewissert hatte, dass es ihr gut ging. Dann, erst dann w�rde er schlafen, den Arm sch�tzend um sie gelegt, und dann w�rde ihm - am n�chsten Tag - auch eine L�sung einfallen.

Unterwegs sah er einen Hund, eine dieser entsetzlichen Promenadenmischungen, f�r die es keine Namen gab, das Bein erhoben an einem Baum. Wie lange das Tier dort wohl noch stehen w�rde?

Er war da. Das Mietgebirge ragte hoch vor ihm auf. Nat�rlich war auch hier der Fahrstuhl unterwegs auf seiner endlosen Reise. Zw�lf Stockwerke jetzt, die er schon fast nicht mehr in seinen Beinen sp�rte, waren diese doch l�ngst taub und unempfindlich gegen jegliche neue Anstrengung. Dann die Wohnungst�r - verschlossen.

Verdammt. Hatte er seinen Schl�ssel dabei? Ein Anflug von Panik. Hatte er ihn vielleicht verloren, irgendwo auf seiner endlosen Fahrt quer durch die Stadt? Nein, da war er, steckte sicher an seinem gewohnten Platz in der Tasche seiner Jacke.

Doch er ging nicht ins Schloss. Der Widerstand bedeutete, dass auch innen ein Schl�ssel steckte. Tanja war daheim. Sie pflegte sich zwar sonst nicht einzuschlie�en, doch jetzt war er dankbar f�r diese Ma�nahme, warum auch immer sie diese getroffen hatte. Sie war in Sicherheit.

Es half nichts, er musste in die Wohnung, musste sich trotzdem davon �berzeugen, dass es ihr gut ging. Zum Gl�ck hatte er die alten Tricks nie verlernt und die T�r in Sekundenschnelle ge�ffnet, ohne sie zu besch�digen. Schlie�lich musste er sie sp�ter, bevor er schlafen ging, wieder verschlie�en k�nnen, um nicht im Schlaf �berrascht zu werden, von den anderen, die m�glicherweise da drau�en lauerten, die nur darauf warteten, dass er in seinen schweren, bleiernen Schlaf sank, nach den �bermenschlichen Anstrengungen dieses Tages.

Stille. Nat�rlich auch hier drinnen, wie �berall, seit er der letzte Mensch zu sein schien, der sich noch bewegen konnte. Was hatte er erwartet?

Dann sah er den Mantel. Fein s�uberlich hing dieser an der Garderobe. Er geh�rte definitiv nicht Tanja und es war auch nicht seiner. Ein Herrenmantel, der gut einem dieser Affen aus Tanjas Agentur passen w�rde.

Er blickte zur geschlossenen Schlafzimmert�r. Vier Schritte, dann stand er direkt vor der T�r. Seine Hand n�herte sich der Klinke, dr�ckte sie aber nicht nieder, verharrte kurz vor dem letzten, dem endg�ltigen Schritt. Er wusste, was er zu sehen bek�me, w�rde er die T�r �ffnen. Also lie� er es sein.

Er lenkte seine Schritte ins Bad, ins Wohnzimmer, auf den kleinen Balkon, schlie�lich in die K�che. Nichts. Tanja war nirgendwo, und auch sonst niemand.

In der K�che trank er eine halbe Flasche Mineralwasser. Hunger hatte er keinen. Seltsam eigentlich, dass alle Menschen v�llig erstarrt waren, das Wasser aber wie immer aus der Flasche flo�. Nun, er w�rde gewiss keine Erkl�rung daf�r finden, er musste es hinnehmen, wie es war, sonst w�rde er durchdrehen.

Er stand wieder vor der Schlafzimmert�r, dieses Mal bewegungslos. Seine Gedanken rasten, ohne in irgendeiner Form klar und eindeutig zu werden. Er wandte sich ab und ging. Den Schl�ssel zog er innen ab, legte ihn auf seinen Platz auf der alten Schuhkommode und verschloss die T�r von au�en. Dann lie� er sich dort auf den Boden sinken. Was konnte er noch tun?


Er sah:

Ein Zimmer. Wei�e W�nde, ein wei� bezogenes Bett. Er selbst lag darin, wei� gekleidet, m�de wirkend. Vor dem Bett stand Tanja.

Warum hast du das getan? fragte er.

Was getan? stellte sie sich dumm.

Du hast mich betrogen, ich habe es gesehen.

Du bist endg�ltig v�llig verr�ckt geworden, sagte sie.

Nein, so leicht wirst du mich nicht los. Ich bin nicht verr�ckt. Ich habe alles gesehen.

Du hast Wahnvorstellungen. Du solltest weniger trinken.

Ich bin vollkommen n�chtern, sagte er. Das stimmte sogar, er f�hlte sich nur entsetzlich m�de.

Doktor, sagte sie, ich glaube, es hat keinen Sinn.

Du kannst hier nicht einfach den Unschuldsengel spielen, raffte er sich mit letzter Energie auf. Was habe ich dir getan, dass du mich so hintergehst? Er erhob sich schwerf�llig, wollte aufstehen, wollte zu ihr hingehen, wollte sie...

Eine Spritze entlud sich zischend in seinen Oberarm. Dann war nichts mehr.


Er erwachte von seinem eigenen Schrei. Schwei�gebadet lag er im Korridor vor Tanjas Wohnung. Er musste getr�umt haben. Wie viel Zeit vergangen war, konnte er nicht absch�tzen. Ein Blick auf seine Uhr verriet ihm, dass diese immer noch still stand. Er beschloss, das Geb�ude zu verlassen, um sich zu vergewissern, dass immer noch alles beim Alten geblieben war. Vielleicht hatte er diesen ganzen Mist ja ebenfalls nur getr�umt.

Doch auf der Stra�e hatte sich nichts ver�ndert. Immer noch standen die Autos, immer noch bewegten sich weder Menschen noch Tiere. Alles verharrte, als sei es in einem einzigen gemeinsamen Augenblick von etwas, das f�r ihn nicht greifbar oder verst�ndlich war, gebremst worden, angehalten, konserviert f�r die Ewigkeit. Nur er war diesem Schicksal entgangen, ohne dass er eine Erkl�rung fand, warum dem so war. Er w�nschte sich in diesem Moment, ebenfalls bewegungslos irgendwo zu stehen oder zu sitzen. Dann h�tte er sich diese Gedanken nicht machen m�ssen, h�tte nicht diese Last auf seinen Schultern versp�rt, die ihm aufgeb�rdet worden war. Denn irgendwo f�hlte er, dass er der einzige war, der sich noch bewegen konnte. Das b�rdete ihm eine Art Verantwortung auf, eine Verantwortung f�r all diese Menschen, die v�llig hilflos waren.

Er wusste nicht, was er tun sollte. Also beschloss er, wieder nachzudenken. Vielleicht hatte er dann einen Einfall, der das Problem l�ste.

Er kannte die kleine Kneipe nat�rlich, die direkt um die Ecke von Tanjas Wohnung lag. Ein sch�biger Schuppen, ein schmieriger Wirt, der jetzt regungslos hinter seiner Theke stand und Maulaffen feil hielt. Das alles war ihm allerdings derzeit egal. Er schenkte sich ein und prostete dem Wirt zu. "Geht aufs Haus", sagte er und trank.


Er sah:

Tanja und diesen Lackaffen, die es engumschlungen auf dem Bett trieben. Er selbst stand in der T�r, unf�hig ein Wort zu sagen.

Da bemerkte sie ihn. Ohne die geringste Spur von Scham l�ste sie sich von diesem Typen und wandte sich ihm zu: Was willst du noch hier? fragte sie teilnahmslos.

Er starrte nur.

Es ist aus. Aus und vorbei. Wie oft soll ich dir das denn noch sagen? Verschwinde.

Verschwinde endlich aus meinem Leben.

Der Typ hatte kein Gesicht, aber er stand jetzt auf und machte eine drohende Geb�rde. Das war dann eher wieder lustig.

Er schlug ihn zusammen, Tanja weinte, schrie ihn an, und er ging. Ging f�r immer.


Wieder so ein seltsamer Traum. Er mu�te erneut eingenickt sein, dabei hatte er doch noch fast nichts getrunken. Die Flasche war erst zur H�lfte geleert. Schnell schenkte er sich noch einen ein, um seine Gedanken klarer werden zu lassen.

Sie hatte ihn also betrogen. Hatte ihn tats�chlich betrogen. M�glicherweise nicht zum ersten Mal.

Er war entt�uscht, tief entt�uscht. Nat�rlich hatte ihm Tanja oft damit gedroht, ihn endg�ltig vor die T�r zu setzen und ein neues Leben zu beginnen. Das sie aber so schnell dazu f�hig gewesen war, versetzte ihm einen Stich ins Herz. Er liebte sie doch. Das hatte er ihr oft genug gesagt.

Ein Glas weiter kam er zu dem Entschluss, es dabei nicht zu belassen. Er w�rde Tanja nicht aufgeben, konnte sie nicht aufgeben. Gut, sie hatte ihn betrogen, aber er liebte sie, deshalb konnte er ihr auch verzeihen. Ein Mal. Ein zweites Mal aber konnte er nicht dulden.

Er dachte �ber die Alternativen nach, die ihm blieben, sobald die Welt wieder normal sein w�rde. Ein Leben ohne Tanja konnte er sich �berhaupt nicht vorstellen. Es war schon so schwer genug, sich �ber Wasser zu halten. Ohne sie w�rde er es wahrscheinlich zu gar nichts mehr bringen. Sie hatte ihn immer angetrieben, wenn er einen erneuten R�ckschlag einstecken musste, hatte ihm Mut gemacht und auch daf�r gesorgt, dass er irgendwie alles auf die Reihe bekam. Ohne Tanja w�re damit Schluss, das wusste er zweifelsfrei.

Nat�rlich konnte er sich auf die Suche machen, um eine andere Frau zu finden, die er dann vielleicht auf die gleiche Art lieben konnte, die ihm das Gleiche geben w�rde wie es Tanja tat. Doch im Moment, in dieser seltsamen Situation, in der er mit keinem einzigen Menschen reden konnte, waren die Aussichten darauf doch eher gering.

Er schenkte sich noch ein Glas ein. Nein, er w�rde zu ihr zur�ckkehren. Er w�rde ihr noch eine Chance geben. Irgendwo hatte sie das auch verdient. Er trank.


Er h�rte:

Ich sehe absolut keine andere M�glichkeit mehr. Diese Tobsuchtsanf�lle sind nicht zu bremsen. Wir m�ssen ihn f�r eine l�ngere Zeit unter Beruhigungsmittel setzen. Vielleicht tritt in einigen Monaten eine Besserung des Zustandes ein. Dann k�nnen wir weitersehen.

Nun, vielleicht ist es wirklich das Beste.

Er scheint jetzt jeden Kontakt zur Realit�t verloren zu haben.

Was hatte das nun wieder zu bedeuten?


Er starrte geradeaus. Unf�hig den Blick zu wenden. Er sah eine Wand, in einem schmutzigen Gelb gestrichen, an der ein Bild hing. Auf dem Bild war ein gro�er Baum zu sehen, der seine meisten Bl�tter bereits verloren hatte. Umgeben war der Baum von einer herbstlichen Landschaft, in der keine Menschen zu sehen waren. Kein einziger. Nur weitere B�ume und einige B�sche im Hintergrund, Wiesen und Felder, Rauch aus dem Schornstein eines alten Bauernhauses. Aber keine Menschen.

Panik �berkam ihn langsam, als er schlie�lich bemerkte, dass er sich nicht mehr bewegen konnte. Die seltsame Krankheit, die alle anderen bereits vor ihm befallen hatte, schien jetzt auch ihn in ihren Bann geschlagen zu haben.

Er wollte einen Schritt tun. Einen Schritt auf die Wand zu oder von der Wand weg, egal in welche Richtung. Es gelang ihm nicht einmal, seine Schuhe vom Fu�boden, den er nicht sehen konnte, zu l�sen. Dann wollte er seine Arme heben, erst beide, dann zumindest einen. Er w�rde dieses Bild des Verfalls von der Wand rei�en, es zerst�ren. Doch er konnte nicht. Er war unf�hig, auch nur einen Finger zu r�hren. Verzweifelt versuchte er, wenigstens seinen Kopf zu wenden. Es ging nicht, er blickte weiter auf die Wand und auf das Bild. Er sah jetzt mehr als nur den Herbst in diesem Werk eines unbekannten Malers. Er sah Einsamkeit, sah das Vergehen menschlichen Lebens, sah eine Zukunft, die so regungslos und still war wie der traurige Baum auf dem Bild, der bald v�llig kahl sein w�rde. War es das? W�rde es so enden?

ursprünglich erschienen in Fantasia 148 (Juli 2001)


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