Pandaimonion III - Für Daddy

herausgegeben von Ernst Wurdack

Taschenbuch
128 Seiten
ISSN 1611-5872
Preis: Euro 8,95


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Die Geschichten:

Henry Bienek - Für Daddy
Dieter Schmitt - Der Krieg gegen die Grills
Andreas Gruber - Biohybriden
Torsten Scheib - Onkel Ryans seltsames Haustier
Robert Holbach -Traum
Heike Rau - Die Wahrsagerin
Bernard Wallner - Vampires
Markus K. Korb - Das neugierige Herz
Andrea Tillmanns - Heimfahrt
Niels Peter Henning - Nischenprodukt
Sven Liewert - Der Vorhang fällt
Susanne Sass - Wüstentempel
Uwe Post - Aus Boris Tschertschassows Nase
Somebody - Lorettas Rose
Torsten Sträter - Jägerlatein
Sören Prescher- Toris fünfter Geburtstag
Thomas Kohlschmidt - Die guten Geister der tiefsten Hölle
Micha Wischniewski - Die Gedanken sind frei ...
Armin Rößler - Gläserne Engel
Wulf Dorn - Das Maiskorn
Regina Schleheck - Alfons
Birgit Erwin - Dämonenkind
Fran Henz - Manic Monday
Petra Wilfert - Die große Menschmaschine
Ute Marein - Authentisch
Erich Schreiner - Kill your darlings
Susanne Rauchhaus - Leben und leben lassen


Gläserne Engel

(Leseprobe)

Mood betrachtete das anmutige Geschöpf mit glänzenden Augen. Der stolze, knapp zwei Finger lange Körper lag waagrecht in der Luft. Die beiden vorgereckten Fühler zitterten leicht, der winzige Saugrüssel war mit bloßem Auge kaum zu erkennen. Die Flügel schlugen in bewundernswerter Harmonie gleichmäßig in einem unhörbaren Takt. Wie auch der gesamte Körper waren sie im Moment an der Oberfläche beinahe vollständig transparent. Mood konnte direkt in den Gläsernen Engel hineinschauen.

Eine Wolke trat schwach vor die Sonne und schon änderte sich der Anblick abrupt. Das einem Schmetterling so ähnliche Insekt schimmerte plötzlich in vielen verschiedenen Farben. Sein feingliedriger Körper erstrahlte in einem satten Rot, das Mood unwillkürlich an Blut denken ließ. Auf dem einen Flügel zeichnete sich ein irritierendes Muster ab, das in einer Form, die ungefähr einem Kleeblatt glich, fast das ganze Spektrum eines Regenbogens abdeckte. Der andere Flügel war nun mit einer Handvoll dunkler Punkte gesprenkelt, die langsam zu wandern schienen.

Schlagartig war das muntere Farbenspiel wieder dahin. Der Gläserne Engel hatte zu seinem ursprünglichen, durchsichtigen Äußeren zurückgefunden. So war das immer, wie Mood schon vor längerem beobachtet hatte. Der geringste Einfluss setzte diese Veränderung in Gang; nach wenigen Sekunden war sie schon wieder passé. Eine faszinierende Art. Mood lächelte zufrieden und sog den herrlichen Duft tief ein, den der Falter ausströmte. Ein unbeschreibliches Aroma, das es vermutlich nur auf dieser Welt gab, nirgendwo sonst. Bei Mood löste es grundsätzlich ein Gefühl der Euphorie aus.

Doch plötzlich wirkte der Flug des Gläsernen Engels unsicher. Kurz schlugen die Flügel hektischer. Der eine stellte seine Tätigkeit ein, dann auch der andere. Der Gläserne Engel verharrte noch einen winzigen Moment in der Luft, als bäume er sich gegen das drohende Schicksal auf. Dann stürzte er wie ein Stein zu Boden. Die transparenten Flügel brachen mit einem leisen Knacken wie dürres Laub. Der Leib zuckte ein letztes Mal und schon lag er still. Die Metamorphose spielte sich in Sekundenschnelle ab. Die Flügel zerfielen zu Staub, der zwei Finger lange Körper färbte sich rabenschwarz. Ein durchdringender Gestank, der Tod und Verwesung mit sich führte, verpestete mit rascher Geschwindigkeit die Luft im Raum.

"Nein."

Der Schrei des Entsetzens und der abgrundtiefen Enttäuschung löste sich wie ein Fanal von Moods Lippen. Erbittert schlug er die Hände vors Gesicht. "Nein", wiederholte er leise und ein Schluchzen kämpfte sich aus seiner Brust heiser durch die Kehle. "Nein, nein, nein", brüllte er jetzt böse und wischte die Tränen aus den geröteten Augen.

Unstet wanderte sein Blick umher, streifte die grazilen Käfige, die er selbst exakt nach den Bedürfnissen der Falter angefertigt hatte, einen nach dem anderen. Fünf, sechs, sieben - nunmehr waren es acht der Gläsernen Engel, die er ganz allein in den grausamen Tod getrieben hatte. Jeder einzelne war ihm hier unter den Händen gestorben und jeden einzelnen hatte er beweint. Damit musste Schluss sein. Sofort.


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