Fließende Übergänge

Natürlich hatten auch Sie schon dieses merkwürdige Gefühl. Sie sind morgens aufgewacht, vielleicht einmal, vielleicht sogar mehrfach, und verspürten einen seltsamen Verlust, der sich nicht näher präzisieren ließ.

Merkwürdig erschien Ihnen dieses Gefühl in dem Sinn, als ob Sie gerade im Moment des Erwachens etwas wirklich Wichtiges vergessen hätten. Als ob Ihnen etwas entglitten wäre, etwas von Bedeutung, von dem Ihnen dann plötzlich bewusst wird, dass Sie es nie wieder finden werden. Dass Sie nie wieder daran denken werden. Nicht weil Sie nicht wollen, sondern weil Sie nicht können. Sie haben es nicht einmal wirklich vergessen, was auch immer es war, denn es hat für Sie nie existiert.

Ich kann es ruhigen Gewissens zugeben: An diesem Zustand, der wohl jeden Menschen schon heimgesucht hat, bin allein ich schuld. Dieses Geständnis fällt mir so leicht, weil mich niemals jemand deswegen wird belangen können. Wenn Sie diese Zeilen lesen, mag es nur noch Sekunden dauern, und die Voraussetzungen sind schon wieder völlig andere. Dann bin ich vielleicht längst in einer Welt, in der Sie überhaupt nicht leben oder gerade aufgehört haben zu leben oder niemals gelebt haben.

Normalerweise sind die Wechsel natürlich nicht so abrupt, dass sich Vieles (und noch dazu Bedeutendes) in einem einzigen Augenblick, während eines einzigen meiner Träume, verändert. Aber auch das habe ich schon erlebt. Daher sollten Sie es sich ganz besonders gut überlegen, ob Sie an dieser Stelle auch tatsächlich weiterlesen wollen. Denn Nichtwissen kann auch seine Vorteile haben. Der Drang, mit dem, was ich hier offenbare - weil ich mich so sicher fühle -, an die Öffentlichkeit zu gehen, mag übermächtig werden. Und wenn dieses Wissen dann publik wird, könnte auch ich oder vielmehr mein Unterbewusstsein auf dem ein oder anderen Weg davon erfahren. Wie die Reaktion aussehen wird, können Sie sich erst dann vorstellen, wenn Sie zum Ende dieses Berichts gelangt sind - und dann ist es wahrscheinlich zu spät.

Um es kurz zu machen: Ich verändere die Welt mit meinen Träumen. Das klingt verrückt oder banal, je nachdem, wie weitgreifend man diese Behauptung auffassen mag. Aber es ist wahr. Und: Mir, oder besser meinen Träumen, sind keine Grenzen gesetzt. Zumindest bin ich bisher noch an keine gestoßen. Ich kann mir auch keine vorstellen.

Es können ganz kleine Veränderungen sein, die meine Träume von einer Nacht auf die nächste bewirken. Dinge, die kein Mensch außer mir bemerkt - wobei es sowieso niemandem auffällt, dass sich etwas verändert hat, außer diesem erwähnten merkwürdigen Gefühl, das sich manchmal einstellen kann -, die auch keinen Menschen außer mir berühren. Ein Beispiel der einfachsten Art: Nach einem Abendessen hatte ich in dem Restaurant, in dem ich zu speisen pflege (früher war es ein Chinese, dann ein Grieche, jetzt ist es ein Italiener - ich bin gespannt, wann es ein Mexikaner sein wird, denn ich esse gern mexikanisch), meinen Regenschirm vergessen. Auf dem Hinweg hatte es leicht genieselt, später nicht mehr und ich hatte den Schirm, ein Geschenk meiner früheren Frau, gedankenlos stehen gelassen. Kurz bevor ich zuhause ankam, bemerkte ich den Verlust und ärgerte mich zunächst fürchterlich, war zum Umkehren dann aber doch zu faul. Schließlich aß ich mindestens einmal in der Woche in diesem meinem Lieblingslokal, der Wirt kannte mich gut oder glaubte zumindest, mich gut zu kennen - es ist nicht immer einfach, den Überblick zu bewahren, wenn man der einzige ist, der ihn wenigstens einigermaßen noch hat -, und er würde den Schirm wohl bis zu meinem nächsten Besuch aufbewahren. Keine große Sache also eigentlich, doch mein Unterbewusstsein war da sichtlich anderer Meinung. Ich weiß nicht, was ich in dieser Nacht geträumt habe (ich kann mich grundsätzlich nicht an den Inhalt meiner Träume erinnern, aber dass ich träume, ist sicher), doch am nächsten Morgen war der Schirm an seinem üblichen Platz in meiner kleinen Wohnung. Ich war natürlich nicht überrascht, wollte mich aber vergewissern und ging so schon zwei Tage später wieder ins selbe Restaurant. Ich sprach den Wirt auf meinen jüngsten Besuch an, er erinnerte sich selbstverständlich, und ich erwähnte, dass ich wohl meinen Schirm bei ihm habe stehen lassen, nur um seine Reaktion zu überprüfen. Er schwor mir Stein und Bein und wirkte dabei sehr glaubwürdig, dass er mich mitsamt Schirm aus dem Lokal laufen gesehen hatte, schließlich habe es draußen wie aus Kübeln geschüttet. Seine Frau, die Blonde (früher hatte er eine Brünette, etwas kleiner und weniger attraktiv - mein Unterbewusstsein hat es gut mit ihm gemeint), bestätigte seine Aussage und ich hatte absolut keinen Grund, daran auch nur im geringsten zu zweifeln. Für die beiden war es so geschehen, und das bedeutete, dass es zwar nicht auch für mich derart passiert war, dass ich aber die Folgen davon jetzt erlebte. Einmal mehr hatte sich meine Welt über Nacht verändert, zwar nur in einem wirklich winzig zu nennenden Punkt, aber doch so, dass ich es bemerken musste.

Manchmal sind es auch größere Veränderungen, die ich, die meine Träume bewirken. Ich habe schon Kriege ausbrechen lassen und Frieden gemacht, bin zum Mond geflogen und habe die Weltgeschichte in vielen anderen Punkten positiv wie negativ beeinflusst. Natürlich nicht in persona, aber ich war immer der Auslöser. Klar, werden Sie sagen, hervorragende Einbildungskraft, aber wo bleiben die Beweise? Die kann ich Ihnen nicht geben, denn das würde meine Geschichte ad absurdum führen. Glauben Sie mir einfach: Am einen Tag herrschte noch weltweit Sonnenschein, am anderen war schon Krieg in Jugoslawien - seit sieben Monaten. So geht es mir, ich muss mich tagtäglich auf neue Gegebenheiten einstellen. Ich weiß, dass sich etwas geändert hat, denn ich träume immer, jede Nacht, wie ich schon erwähnte, aber ich weiß oft nicht, was es tatsächlich ist. Dann verbringe ich viele Stunden damit, meine Umwelt aufmerksam zu beobachten, die Zeitungen und die Fernsehnachrichten genau zu studieren, um auf irgendeine Weise - meist durch Zufall - herauszufinden, was sich gegenüber dem Vortag verändert hat. Ihnen kann ich dafür kaum Beispiele geben, die Sie nachvollziehen können, da es für Sie ja schließlich keine weltumwälzenden Veränderungen waren, denn Sie haben sie nie erlebt, sie sind in Ihrer Welt nie passiert. Sie glauben, dass die Welt schon immer so gewesen ist, wie sich in Ihren Erinnerungen darstellt. Sie können überhaupt nicht begreifen, dass es tatsächlich ganz anders gewesen ist, und ich kann Sie verstehen.

Oder würden Sie mir etwa glauben, dass ich eine Welt gesehen habe, in der John F. Kennedy nicht Präsident der Vereinigten Staaten wurde? Ich habe zwei Jahre in einer Welt gelebt, in der Nixon diese Wahlen von 1960 gewonnen hatte, bis mein Unterbewusstsein aus mir nicht nachvollziehbaren Gründen auf die Idee verfiel, dass plötzlich Kennedy Präsident war und nicht Nixon. Kurz darauf war Kennedy aber tot (auch meine Schuld, fürchte ich, denn ich habe noch seine zweite Antrittsrede im Ohr), und Nixon wurde erst später Präsident des mächtigsten Landes der Welt (damit hatte ich nichts zu tun, mit Watergate dann aber schon).

Ich habe diese Gabe oft verflucht, aber ich gebe auch zu, dass sie mir in vielen persönlichen Angelegenheiten auch von Nutzen gewesen ist. Meine zweite Frau (zum Zeitpunkt der Heirat offiziell meine erste, aber ich zähle nach dem, was ich erlebt habe, und nicht nach dem, was Sie glauben, erlebt zu haben) verdanke ich meinen Träumen. Sie lag eines Morgens einfach neben mir, nackt und schlicht perfekt, ich sah den Ring an ihrem Finger, sie küsste mich, ich blätterte später unauffällig die Unterlagen durch und sah, dass wir seit sechs Wochen verheiratet waren. Leider hielten es meine Träume nur zwei Jahre mit ihr aus, was wirklich schade ist: Ich habe nie wieder diese Leidenschaft im Bett erlebt.

Sie fragen sich, wie es angefangen hat? Wie ich überhaupt bemerkt habe, dass ich es bin, der für alle diese Veränderungen verantwortlich ist? Nun, ich war damals noch ein Kind. In den Jahren zuvor muss ich wohl gedacht haben, dass alles, was mit mir passierte, völlig normal sei. Wenn man es nicht anders kennt, empfindet man auch einen ungewöhnlichen Zustand als vollkommen natürlich.

Bis ich bewusst die erste größere Veränderung erlebte. Sicher hatte es schon zuvor einige gegeben, möglicherweise auch wirklich umwälzende, aber wie soll ein fünf- oder sechsjähriger Junge es mitbekommen, wenn beispielsweise irgendwo in Afrika plötzlich eine Tierart seit langem ausgestorben ist, die in seiner Welt noch einen Tag zuvor existiert hat? Selbst wenn jemand da wäre, der es ihm erzählen könnte, würde er es vermutlich nicht begreifen. Schon gar nicht, dass er dafür verantwortlich zu machen ist.

Diese erste große Veränderung betraf meinen Vater. All die Jahre bis kurz nach meinem siebten Geburtstag hatte er sich recht unverändert gehalten. Seine Haarfarbe variierte leicht, mal war er blond, dann etwas dunkler, dann schwarz oder auch leicht angegraut - aber das gab es bei allen Menschen in meinem Umfeld. Auch dass er mal für einige Wochen einen beachtlichen Bauchumfang durch die Gegend schleppte, obwohl er doch vorher immer so stolz auf seinen durchtrainierten Körper gewesen war und diesen mit Sport aller Art pflegte, während er jetzt vor dem Fernsehgerät herumlümmelte, große Portionen aß und mehr Bier trank, als ich es je gesehen hatte - für mich war das normal.

Doch dann war er von einem Tag zum nächsten ein anderer Mann. Das konnte nicht mehr mein Vater sein, keinerlei Ähnlichkeit war geblieben. Die einst so sanften Züge waren strengeren gewichen, einem unangenehm ärgerlichen, ja fast bösartigen Gesichtsausdruck, der niemals zu verschwinden schien. Mein neuer Vater verstand keinen Spaß und war schnell mit einer Tracht Prügel zur Hand. Aus den nichtigsten Anlässen. Der Mann war auch bestimmt 15 Zentimeter kleiner als mein Vater, sprach völlig anders, mit einem sehr befremdlich klingenden, ausländischen Akzent und kümmerte sich keinen Deut um mich. Als hätte er plötzlich von einem Tag auf den anderen jegliches Interesse an mir verloren, als wäre ich überhaupt nicht sein Sohn.

Also fragte ich meine Mutter: „Warum ist Vater so anders geworden?“

„Dummes Kind“, schrie sie mich aus heiterem Himmel an und verpasste mir eine schallende Ohrfeige. Ich habe sie nie wieder über die Veränderungen befragt. Nicht über diese und auch über keine anderen. Ich lernte mit ihnen zu leben, sie zu ignorieren, wenn sie mich nicht betrafen, sie zu nutzen, wenn sie mein Leben unmittelbar berührten. Der fremde Mann, der angeblich mein Vater gewesen war, verschwand bald ganz daraus.

Mein größter Fehler war, dass ich mich eines Tages einem Arzt anvertraute. Ich hätte an das Erlebnis mit meiner Mutter denken sollen, doch seither war so viel geschehen. Also erzählte ich ihm meine Geschichte, obwohl ich aus vielen vorsichtigen Gesprächen mit meinen Mitmenschen längst wusste, dass niemand außer mir diese Veränderungen bewusst wahrnehmen konnte. Er betrachtete mich lange und prüfend, nachdem ich ihm beinahe alles erzählt hatte, was mir in meinem bisherigen Leben merkwürdig vorgekommen war. Dann entschuldigte er sich kurz und sagte mir, ich solle warten. Doch als sich die Tür wieder öffnete, kam nicht etwa der Arzt durch sie ins Zimmer, sondern zwei große kräftige Männer, die mir aller Gegenwehr zum Trotz eine Spritze gaben.

Als ich wieder erwachte, befand ich mich zweifelsfrei in einer Nervenheilanstalt. Sie hatten mich ins Irrenhaus gesteckt, diese Kleingläubigen. Die Untersuchungen, die ich dort über mich ergehen lassen musste, waren ebenso schmerzhaft wie demütigend. Niemand war daran gelegen, der Wahrheit auf den Grund zu gehen. Offensichtlich kann sich kein Arzt vorstellen, dass nicht der Patient eine verdrehte Vorstellung von der Realität hat, sondern er selbst.

Seltsamerweise benötigten meine Träume mehrere Wochen um meinen unangenehmen Aufenthaltsort als solchen zu registrieren, dagegen vorzugehen und mich schließlich dort rauszuholen. Spät, aber dafür mit sorgfältiger Gründlichkeit: Meine Nachforschungen ergaben, dass in der neuen Welt (und in jeder weiteren, die noch kommen sollte, ich habe das immer sehr gewissenhaft überprüft), diese spezielle Klinik nie existiert hatte. Auch der verräterische Arzt war nie geboren worden.

Ich denke, ich bin ein wenig abgeschweift, also zurück zum eigentlichen Thema. Meine Träume verändern das, was Sie als Realität kennen oder vielmehr zu kennen glauben. Heute sind Sie ein erfolgreiches und anerkanntes Mitglied der Gesellschaft, morgen schon, nur weil ich in der Zeitung eine kurze Notiz mit ihrem Namen, ihren Leistungen oder Verbrechen gelesen habe, ein obdachloser Bettler unter einer zugigen Brücke mit einer Flasche billigem Rotwein in der Hand. Ohne Vorwarnung. Ohne, dass Sie sich überhaupt daran erinnern, dass es jemals anders gewesen ist. Nur weil sich mein Unterbewusstsein, meine Träume mit Ihnen beschäftigt haben. Aus welchen Gründen auch immer.

Für mich ist das alles ohne wirkliche Bedeutung, aber ich hielt es dennoch für eine gute Idee, es niederzuschreiben. Sei es nur, um es einmal loszuwerden. Ich bin in so vielen Welten gewesen, habe so viele dieser kleinen oder großen und unbemerkten Veränderungen durchlebt, wie ich Tage alt bin. Morgen schon wird wieder etwas anders sein. Und übermorgen wieder. Was dann aus Ihnen geworden sein wird? Ich weiß es nicht.

ursprünglich erschienen in der Anthologie "Traumpfade" (März 2001)


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