Aufgaben zum Text
Rettet den Röstigraben!
Zitate aus der Ansprache von Bundespräsident Moritz Leuenberger
vor der
Helvetia Latina, 12. Dezember 2000
*
Während des Bundesrats-Wahlkampfes wurde ich auch immer wieder auf den Röstigraben angesprochen. Ich
behauptete, die Schweiz sei in Tat und Wahrheit nicht durch einen Graben fosso zwischen den Sprachen sondern durch
einen kulturellen Graben zwischen Stadt und Land getrennt. Und auch in meiner
Wahlannahmeerklärung habe ich den Röstigraben als einen von mehreren, jedenfalls nicht
als den wichtigsten Graben in diesem Land erwähnt.
Ich bin heute nicht mehr so
sicher, ob das zutrifft. Später nämlich öffnete sich der Röstigraben an unerwarteten
Stellen:
- Das Magazin des Tagesanzeigers
machte eine Umfrage inquérito. Es sollte die Frage beantwortet werden:
"Was macht das Leben lebenswert?" Da ich mich all solchen privaten Fragen
entziehe, erlaubte ich mir einen Witz. Ich antwortete, eine derart wichtige Frage sei
durch den Gesamtbundesrat zu entscheiden und unterliege dem Kollegialitätsprinzip, die
Bundeskanzlei gebe Auskunft, ich unterziehe mich deren Antwort schon zum voraus. Diese
Antwort druckte das Magazin ab. Die Rückmeldungen aus der deutschsprachigen Schweiz waren
schmunzelnd. Anders in der Romandie. LHebdo fragte, ob ich eigentlich noch normal
sei.
Es ist also mehr als die Sprache,
die uns trennt separa. Der Röstigraben ist tiefer und
breiter: Ich verstehe die Witze der Romands nicht, und die Romands verstehen meine Witze
nicht! Zugegebenermassen ist die Ironie oft ein zweischneidiges Schwert. Sie bleibt nur
dann Ironie, wenn die Diskrepanz zwischen Gesagtem und Gemeintem vom Adressaten auch
verstanden wird. Dies gelingt schon innerhalb der eigenen Sprache nicht immer. Über die
Sprachgrenze hinweg ist die entsprechende Hürde sehr viel grösser. Und es ist daher kein
Zufall, dass ich, wenn ich mich hin und wieder etwas ironisch ausdrücke, in der Romandie nicht begriffen
werde.
Statt hochpolitischer Beispiele
erwähne ich scheinbar vordergründige Erlebnisse:
- In Neuenburg oder
Genf werde ich durch Polizeieskorten empfangen und ich werde gar auch heute noch
ein Schock für einen Protestanten aus der Zwinglistadt - bei Rotlicht über Kreuzungen
chauffiert. Alle sind stolz auf den hohen politischen Besuch. Eine Mercedeskolonne in Bern
hingegen wird regelmässig durch Birkenstock-Fussgänger unterbrochen, die ostentativ auf
ihr demokratisches Vortrittsrecht pochen. In Zürich erlebte ich Autofahrer, die den Kampf
gegen Privilegien selber führten und sich zwischen Polizeimotorräder und den Staatswagen
mit dem französischen Verkehrsminister und mir schoben (obwohl dort kein Rotlicht
überfahren wurde). Das ist peinlich, besonders gegenüber einem Gast aus Frankreich.
- Wir Deutschschweizer
reden mit einer gewissen Distanz, jedenfalls ohne jeglichen emotionalen Beiton -
vom "Vater Staat"; die Romands hingegen haben eine emotionale Beziehung zu ihrem
"Etat providence", zur Amme/zum Ernährer-Staat "Etat" gross
geschrieben. Dieselbe Differenz bezüglich Staatsverständnis gibt es auch zwischen
Frankreich und Deutschland, zwischen Frankreich und England, zwischen romanischem und
germanischem Sprachgebiet also. Wir haben die Differenz innerhalb eines einzigen, kleinen
Landes, innerhalb des Parlamentes, innerhalb jeder Partei, jeder Fraktion. Und es sind
nicht die einzigen.
*
Die Gebiete, auf denen wir
anders empfinden, sind zahlreich.
- Zum Beispiel das
unterschiedliche Verhältnis zum Wald und zur Natur: Es ist in der deutschsprachigen
Schweiz ein deutlich ökologischeres als in der Romandie.
- Die liberale Drogenpolitik der
Deutschschweiz wird nicht nur in der lateinischen Schweiz mit Kopfschütteln quittiert,
sondern ganz besonders auch in den lateinischen Ländern.
- Gemessen an der Deutschschweiz
pflegen die Romandie und das Tessin eine deutlich sozialere und offenere Haltung.
*
Diese kulturellen Unterschiede
zu negieren, ist romantizistisch, falsch und gefährlich. Es gehört zu unserer
politischen Aufgabe, die Differenzen wahrzunehmen. Gehört es auch dazu, sie zu
überwinden superar? Ich habe meine Zweifel. Die stetige
Sorge um die Gräben in unserem Lande bleibt der Stachel im Fleisch unseres
schweizerischen Selbstverständnisses und ermöglicht den verschiedenen Kultur- und
Sprachgruppen, ihren eigenen Stellenwert zu erörtern, ihre Verschiedenheit wahrzunehmen
und diese zu schätzen apreciar. Die grosse Mehrheit der Schweizer und
Schweizerinnen wächst im eigenen Sprachgebiet auf und bleibt in der eigenen Sprache
und in der eigenen Kultur und Mentalität - verwurzelt enraizado.
Identität entsteht (auch)
durch Abgrenzung delimitação. Schade, dass es bei der Abgrenzung
zwischen den Sprachgruppen in der Schweiz von Empfindlichkeiten, Berührungsängsten und
Fettnäpfen nur so wimmelt. Eine selbstbewusste, friedliche Identität entsteht nämlich
nicht durch zaghaft-befangene Anbiederung, sondern durch interessiert beobachtende
Abgrenzung.
Ich wünschte mir
hier ein bisschen weniger politische Korrektheit und etwas mehr Respektlosigkeit
dies übrigens ganz im Interesse der Kultur. Denn Humor, Karikaturen, Witz
wesentliche Bestandteil jeder Kultur sind auf Grenzen und Gegensätze
angewiesen. Sie basieren häufig auf respektlosen Überspitzungen bzw. Klischees. Zum
Beispiel: Der Westschweizer ist lustig, unpünktlich und trinkt gerne Weisswein; der
Tessiner ist ebenfalls lustig, ein bisschen nervös und er trinkt gerne Merlot. Der
Rätoromane lebt in einem windschiefen Holzhäuschen, heisst Flurin oder Gian, trägt eine
Zipfelmütze und ist auch lustig. Der Deutschschweizer ist spiessig, arbeitsam und niemals
lustig!
*
Lassen wir also die kulturelle
Vielfalt variedade, sprich: die Gräben zwischen uns
bestehen zwischen Deutschschweiz, Romandie, Tessin und der rätoromanischen
Schweiz. Der Schweizer Föderalismus lässt die Gräben von den Gepflogenheiten
beim Pilze sammeln bis zur Schulhohheit übrigens ganz bewusst stehen.
Etwas ganz anderes
aber ist die Frage der Macht. Da darf es kein Gefälle desnível und keine Gräben geben. Wir müssen alles tun, damit
sich kein unüberbrückbares wirtschaftliches Gefälle bildet zwischen Zentren und
Randregionen, zwischen Städten und Land, zwischen Deutschschweiz und lateinischer
Schweiz.
*
Wir wollen diese kulturelle
Arbeit leisten, wir wollen dieses kulturelle Verständnis füreinander aufbringen. Denn
das ist ja der Unterschied zu anderen Nationen, die auch Sprachprobleme hatten, dass wir
miteinander leben wollen, uns deshalb auch gelegentlich als Willensnation bezeichnen. Es ist eine ständige Aufgabe, die nie zu
Ende sein wird.
Den vollständigen Text finden
Sie bei: http://www.admin.ch/uvek/doku/referate/2000/d/00121201.htm
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