Allerseelen Interview Orkus

Was kann dich mehr beeindrucken – Visuelles oder Worte? Damit meine ich beispielsweise Mystisches oder ganz einfach Alltägliches, das du – gut beschrieben – in einem Buch oder einer Abhandlung liest, oder Menschen/Atmosphären/Stimmungen, die du selbst erlebst?

Eigentlich beides. Oft sind es rauhe Landschaften, kantige Bergwelten, die mich beeindrucken, vor allem Stätten, wo sich Kultur und Natur begegnen, Menhire, Dolmen, Steinkreise, kleine romanische Kapellen irgendwo in Wäldern, Leuchttürme auf Felsen überm Meer. Dann aber fesseln mich auch wieder Bruchstücke, einfache Sätze in Büchern von Hermann Hesse oder E.M. Cioran. Am liebsten aber sind mir die Sinnbilder, sie vereinen beides, Sinn und Bild.. Die Wege der Faszination sind unergründlich

Gerhard als Weltenbummler.. Wie kommst du an den von dir bereisten Orten zurecht, wie kann man sich das vorstellen? Als normaler Hotelgast mit Halbpension, der nach dem Frühstück die Umgebung erforscht und begeht und erst spät abends wiederkehrt und im dunklen Zimmer seine Erinnerungen des Tages notiert, gar kreativ verarbeitet?

Eigentlich notiere ich den ganzen Tag Eindrücke auf kleine Zettel. Aus diesen Mosaiksteinchen entsteht dann ein eigenes, oft surreales Bild - und so betrachte ich auch die Musik: als Mosaik aus kleinen Partikeln.. Meine Reisen sind meist wesentlich spartanischer - ich war wochenlang in Ländern wie Italien, Frankreich, Spanien mit dem Schlafsack unterwegs und hab irgendwo im Freien geschlafen. Ich habe auch viele Nächte im Auto oder Zelt verbracht, um dann zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang archäologische und andere Stätten zu erkunden. Hotels schätze ich weniger, weil ich darin vom tatsächlichen Leben in einem anderen Land nichts erfahre - aber wir sind natürlich öfters in Hotels, wenn wir mit Allerseelen in anderen Ländern unterwegs sind. Sonst verbringe ich meine freie Zeit zwischen Frühjahr und Herbst meist in Berghütten in Österreich, Südtirol.

Wo hast du die bisher beeindruckendsten und intensivsten Erfahrungen gemacht, sei es in künstlerisch-inspirativer oder auch realistisch konfrontativer Hinsicht?

Eigentlich ist Allerseelen ein Synonym für den Alleingang, und so waren auch in meinem ganzen Leben die Alleingänge am beeindruckendsten - da ist niemand da, mit dem ich meine Eindrücke und Erfahrungen, Hoffnungen und Ängste teilen kann. Am intensivsten waren sicher meine Nächte im Schlafsack auf mittelalterlichen Burgen in Südfrankreich und beim achteckigen Castel del Monte in Apulien und zahlreiche anstrengende Wege in den Bergen. Einige dieser Bilder aus den Dolomiten habe ich für die Edelweiß CD verwendet.

Du berichtest gerne, dass dir das Dasein von Allerseelen im musikalisch Untergrund sehr gefällt – und tust auch viel dafür, um nicht "berühmt" zu werden. So entsteht stets sympathische, ehrliche, nie perfekte Musik, exakt die Elemente, welche die Faszination an dem unzuzuordnenden Mysterium Allerseelen ausmachen. Ist es die künstlerische Ruhe, die du dadurch genießt, warum du auf diese Art immer und wieder weitermachst, oder gibt es weitere Gründe, warum du nicht an respektive in die große Öffentlichkeit treten willst?

Meine Musik soll halt ein Mosaik sein und auch etwas Tagebuchartiges haben. Ich liebe auch einen gewissen Werkstattcharakter. Das Wichtigste für die künstlerische Arbeit ist Zeit und eine gewisse Muße - und auch die Musen brauchen Zeit, um einen zu küssen. Die Zeit ist ein Stundenglas, der Künstler muß es schräg halten, dann fließt sie langsamer - so bin ich recht glücklich, in meiner Dunkelkammer oft wochenlang an einzelnen Liedern arbeiten zu können. Die wirklich guten Stücke allerdings entstehen oft in einigen wenigen Stunden. Als Allerseelen und Changes im November in Rußland unterwegs waren, war es herrlich, Zeit für so großartige Städte wie St. Petersburg und Moskau haben: Eine Gruppe wie Rammstein kann sich im Kreml sicher nicht so ungestört bewegen wie Allerseelen. Auch ist es schön, daß wir in vielen Ländern meist in kleineren Clubs spielen und ich meist genug Zeit finde, um mit vielen Leuten im Publikum zu plaudern. Diese Eindrücke sind für mich ebenso wichtig wie die Auftritte selbst.

Nach 15 Jahren Musikmachens: Was treibt dich noch an, weiterzumachen?

Wahrscheinlich ist die Tonkunst als Bewußtseinserweiterung eine harte Droge - vielleicht ist das auch der Grund, warum in meinem Musikbereich einzelne Künstler manchmal bekämpft werden. Vor allem aber ists die Lust am Schöpferischen, am Hantieren mit Klängen und Bruchstücken von Klängen in meiner Werkstatt. Nach wie vor reizt mich am meisten die Verbindung von schönen Klängen und krachigen Elementen - dort, wo Industrielles und Folkloristisches verschmilzt, ist meine musikalische Heimat. Auch gibt es da kein Zurück - ich kann mir ein Leben ohne Musik nnicht vorstellen. E.M. Cioran schrieb in einem seiner Bücher, daß er einmal überlegte, ob er in einem Fluß ertrinken wolle oder lieber in der Musik - er entschied sich dann für die Musik. Und auch ich entschied mich für die Tiefe der Tonkunst. Meine Arbeit ist ein "ein aus sich selbst rollendes Rad", so nennt es Friedrich Nietzsche in seinem Zarathustra.

Hat sich über die Jahre hinweg an deiner grundsätzlichen Einstellung im Hinblick auf die Komposition, das Erschaffen neuer Stücke etwas geändert?

Eigentlich nicht. Ich arbeite in meiner Musik recht archaisch. Im Grunde hantiere ich mit Klängen und Geräuschen wie ein Kind mit Legobausteinen. Insofern hat sich seit meiner Kindheit und Jugend, in der ich die industrielle Musik von Gruppen wie Einstürzende Neubauten und Throbbing Gristle kennenlernte, nicht so viel verändert. Es wird heute wohl nur noch wenige Musiker geben, die so wie in der Frühzeit der industriellen Musik Loops mit dem Klebeband auf der Tastatur herstellen - ich arbeite nach wie vor so. Meine Musik hat etwas stark Handwerkliches, fast alles ist in meiner Werkstatt ausschließlich händisch eingespielt. Ich habe noch nie mit einem Computerprogramm Musik gemacht und hoffe mir diese Unschuld und Unwissenheit auch in den nächsten Jahrzehnten bewahren zu können.

So richtig "neu" ist "Edelweiss" ja auch nicht; was trieb dich dazu – neben all den Wiederveröffentlichungen auf Doppel-Vinyl (sehr schöne Idee übrigens, die Holz-Box!) – kein komplett neues Album fertigzustellen, sondern eine so genannte "Best Of & Rarities" zu veröffentlichen?

Die Idee der Holzschatulle mit den zehn Allerseelen DoLPs ist großartig, sie stammt von Max von Steinklang, der Vinyl sehr verehrt. Das Ganze ist mit viel Arbeit verbunden, aber das machen wir gerne. Edelweiß ist im Grunde eine Rückblende auf meine Zusammenarbeit mit den beiden Sängerinnen Rosa aus Katalonien und Gaya aus Neapel und befreundeten Musikern aus Barcelona und dem Berchtesgadener Land. Edelweiß enthält einige der schönsten Lieder aus den letzten fünf Jahren. Die Musik von Allerseelen hat sich in den letzten Jahren etwas verändert, sie ist folkloristischer geworden und enthält neben zahlreichen sanften Saiteninstrumenten nach wie etliche rauhe industrielle Spurenelemente.

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