Verkehr
Gewohnheit
gegen Vernunft: Tempo 30 finden alle toll - solange sie nicht
am Steuer sitzen. Wie
schnell bin ich gefahren?», ist meist die erste Frage.
Es ist Freitagnachmittag, 26. Januar, im Berner Elfenauquartier,
Egghölzlistrasse. Polizeikontrolle in einer Tempo-30-Zone.
Susanne Lobsiger, auf frischer Tat ertappt, nimmts gelassen:
«Uff, zum Glück nur 48. Ab 49 kostets nämlich
mindestens 400 statt 240 Franken.» Einzig wegen der «geilen
Musik», die sie gerade gehört habe, sei sie zu schnell
gefahren. «Im Übrigen bin ich voll für Tempo
30.» Sagts und braust nach dem Einstecken des Bussenzettels
fröhlich davon - im Fokus der polizeilichen Videokamera,
mit 49 km/h. «Strassen
für alle», unter diesem Titel will der Verkehrsclub
der Schweiz flächendeckend Tempo 30 innerorts einführen.
Das Zaubermittel Temporeduktion soll den Verkehr sicherer machen
und die Zahl der Toten und Schwerverletzten im Ortsverkehr halbieren.
210 Todesopfer hat der Verkehr im vergangenen Jahr auf Schweizer
Innerorts-Strassen gefordert. «Ein unakzeptabler Blutzoll»
für den VCS. Am
4. März stimmt die Schweiz über die Einführung
von Tempo 30 innerorts ab. Schon heute existieren in Schweizer
Städten gegen 1'000 verkehrsberuhigte Tempo-30-Zonen in
Wohnquartieren. Die Akzeptanz der Anwohner ist gross. Widerstand
gibt es kaum. Der
VCS will aber mehr. «Die schweren Innerorts-Unfälle
passieren nicht auf engen Quartiersträsschen, sondern auf
Hauptstrassen», sagt Hans-Kaspar Schiesser, einer der Väter
der Initiative. Deshalb soll künftig - umgekehrt zu heute
- innerorts Tempo 30 die Regel sein und Tempo 50 die Ausnahme.
Konkret: Auch auf rund einem Drittel der Hauptstrassen, dort
wo sie durch bebautes Gebiet führen, gälte Tempo 30. Doch
was nützt das, wenn sich niemand daran hält? Eine im
März 2000 veröffentlichte Studie der ETH Zürich
relativiert diese Bedenken. Zwar sinke die Geschwindigkeit in
Tempo-30-Zonen im Durchschnitt nur um 5 km/h, doch selbst diese
bescheidene Reduktion wirke sich mit 15 Prozent weniger Unfällen
und 28 Prozent weniger Verunfallten sehr positiv auf die Verkehrssicherheit
aus. Tempo
30 innerorts besticht durch weitere Punkte: Weniger
Tote: Das Institut Prognos rechnet mit halb so viel Verkehrstoten
bei Tempo 30. Der Zusammenprall mit einem Auto bei Tempo 50 entspricht
dem Fall aus 10 Metern Höhe: Überlebenschance 50 Prozent.
Tempo 30 entspricht einer Fallhöhe von 3,5 Metern, was die
Überlebenschance auf 90 Prozent erhöht. Bessere
Luft: Tempo 30 senkt laut einer Studie des TCS den Ausstoss von
CO2 (-15 Prozent) und giftigen Stickoxiden (-40 Prozent). Diese
Bilanz verbessert sich noch, wenn die Automobilisten wie von
den Herstellern empfohlen bei 30 km/h niedertourig im dritten
Gang fahren. Weniger
Lärm: Das tiefere Tempo senkt die Lärmbelastung um
zwei bis drei Dezibel. Das entspricht demselben Effekt wie der
Halbierung des Verkehrs. Minimer
Zeitverlust: Versuche in der österreichischen Stadt Graz,
wo Tempo 30 flächendeckend gilt, zeigen, dass der zusätzliche
Zeitaufwand pro Viertelstunde Fahrt bei Tempo 30 weniger als
eine Minute beträgt. Das
Ziel der Initianten, die Verkehrs-sicherheit zu erhöhen,
sei «begrüssenswert», lobt der Bundesrat. «Es
ist unbestritten, dass tiefere Geschwindigkeiten die Verkehrsunfälle
reduzieren», schreibt die Regierung in ihrer Botschaft
zur VCS-Initiative. Mehr noch: «Die vermehrte Einrichtung
von Tempo-30-Zonen kann wesentlich zur Erhöhung der Verkehrssicherheit
und der Lebensqualität beitragen.» Trotzdem
ist der Bundesrat gegen die Initiative. Die generelle Einführung
von Tempo 30 innerorts sei «undifferenziert und unverhältnismässig»,
sagt Verkehrsminister Moritz Leuenberger, selber in einer Tempo-30-Zone
wohnend. Deshalb will er Tempo 30 zwar fördern, aber nicht
erzwingen. Taktisch klug stellte Bundespräsident Leuenberger
am 23. Januar, sechs Wochen vor der VCS-Volksabstimmung, seine
Vorschläge für mehr Verkehrssicherheit vor. Den Gemeinden
wird es künftig leichter gemacht, in Wohnquartieren Tempo
30 einzuführen. Neu ermöglicht der Bund sogar so genannte
Begegnungszonen, in denen Tempo 20 gilt und Fussgänger generell
Vortritt haben. Nur: Hauptstrassen bleiben in jedem Fall ausgeklammert. Zurück
zur Verkehrskontrolle im Berner Elfenauquartier. Die Egghölzlistrasse
ist zwar keine Hauptverkehrsader, aber eine gerade, übersichtliche
Sammelstrasse mit vielen Quersträsschen. Die Strasse ist
beidseits gesäumt von Parkplätzen. Hinter einem neutralen
weissen PW lauert Zivilpolizist Andreas Bieri mit dem Laser-Geschwindigkeitsmessgerät,
das aussieht wie eine Videokamera auf einem Stativ. Im aufgeklappten
Kofferraum steht ein Computer mit Videobildschirm. Auf der andern
Strassenseite warten im Hintergrund drei uniformierte Polizisten
auf Verkehrssünder. Offiziell
gilt: Wer schneller als mit 33 km/h unterwegs ist, macht sich
strafbar. Doch heute gibt sich die Polizei nachsichtig. Sie büsst,
um Personal zu sparen, erst ab 39 km/h. Mit der handlichen Laserkamera
werden nur Autos ins Visier genommen, die offensichtlich zu schnell
herannahen. In bis zu 400 Meter Entfernung fixiert Zivilpolizist
Bieri das Fahrzeug mit seiner Kamera - der Laserstrahl misst
innert ein bis zwei Sekunden die Geschwindigkeit. Ein Ruf über
die Strasse genügt: «Der grüne Audi fährt
43.» Der uniformierte Kollege winkt den fehlbaren Lenker
an der Strassenrand. Bilanz
nach einer Stunde: 16 Temposünder und fast 3'000 Franken
Einnahmen für die Staatskasse. «Früher wars hier
noch schlimmer», weiss Polizist Bieri. Seit an zwei Orten
in der Strassenmitte Fussgänger-Inseln installiert sind,
wird langsamer gefahren - aber immer noch zu schnell. In
Zürich, wo Tempo 30 in Wohnquartieren seit Ende Oktober
2000 fast flächendeckend eingeführt ist, wird die tiefere
Limite mittlerweile zu 80 Prozent beachtet. Je nach Art der Strasse
variiert dies aber stark. So fahren in der engen, mit Hindernissen
versehenen Signaustrasse 96 Prozent aller Automobilisten langsamer
als 30. In der breiten und geraden Tüffenwies hält
sich jedoch nur jeder Zweite an die vorgeschriebene Limite. Fazit:
Ohne bauliche Massnahmen wie Schwellen oder versetzte Parkplätze
geht gar nichts. Auf breiten Strassen muss man die Autofahrer
zur Vernunft zwingen. Dies bestätigt Jacqueline Baechli,
Präsidentin der Verkehrspsychologen der Schweiz: «Es
ist psychologisch schwierig, auf einer breiten Strasse langsam
zu fahren.» Tempo
ist Gewohnheitssache. Dies stellten die Behörden schon Mitte
der Achtzigerjahre fest, als die generelle Innerorts-Geschwindigkeit
von 60 auf 50 reduziert wurde. Rund vier Jahre dauerte es damals,
bis sich die Automobilisten an die tiefere Limite gewöhnt
hatten. «Bei Tempo 30 wird es nur zwei Jahre dauern»,
schätzt Eugenio Scheuchzer, Leiter der Fachgruppe Verkehrssicherheit
bei der Stadtpolizei Zürich. Voraussetzung seien allerdings
bauliche Veränderungen bei breiten Strassen. Genau
hier haken die Gegner ein. Zwei Milliarden Franken koste die
flächendeckende Einführung von Tempo 30 in der Schweiz.
Der VCS rechnet mit einer Milliarde. Und erhält Schützenhilfe
von der ETH Zürich. «Die befürchteten hohen Kosten»,
heisst es in der Studie vom März 2000, «treffen nicht
zu, wenn sorgfältig geplant wird.» Trotzdem
gelingt es nicht, der Tempo-30-Initiative zu breiter Unterstützung
zu verhelfen. Die politischen Gräben verlaufen haargenau
entlang der ideologischen Links-rechts-Grenze. SP und Grüne
sind geschlossen dafür - die bürgerlichen Parteien
mit grossen Mehrheiten dagegen. Im parlamentarischen Pro-Komitee
sitzen neben Linken und Grünen nur gerade drei CVPler (Eugen
David, Odilo Schmid, Jacques Neyrinck) und gar niemand von FDP
und SVP. Die
breite Zustimmung in den Wohnquartieren überträgt sich
offenbar nicht auf die Mehrheit der Autofahrer. Das gegnerische
Komitee warnt vor dem «Verlust der persönlichen Mobilität».
Und Verkehrspsychologin Jacqueline Baechli weiss aus ihrer Beratungspraxis:
«Viele wollen sich nicht im Auto auch noch einschränken
müssen - wo sie doch sonst schon überall nur Verbote
sehen.» «Es
ist uns nicht gelungen», bedauert VCS-Mann Hans-Kaspar
Schiesser, «mit dem Thema Verkehrssicherheit die ideologischen
Gräben aufzuschütten.» Im Gegenteil: Wie zu Zeiten
des erbitterten Streits um Tempo 120 auf der Autobahn oder Tempo
50 innerorts prallen die Emotionen aufeinander. Allen voran profiliert
sich der Schweizerische Gewerbeverband, der die Gegenkampagne
anführt. «Jetzt sind sie wieder da, die fanatischen
Autohasser, uneinsichtig und unbelehrbar», schreibt die
«Schweizerische Gewerbezeitung». Die
Aufregung ist fehl am Platz. Denn der VCS verstärkt mit
seiner Volksinitiative lediglich einen Trend, der schon seit
Jahren zu beobachten ist: Der Autoverkehr wird immer langsamer.
In den Wohnquartieren, weil es die Anwohner explizit so wollen
- und auf Hauptstrassen automatisch, weil sie den ständig
wachsenden Verkehr nicht mehr ohne Staus schlucken können. In Zürich, hat die Stadtpolizei für eine Fahrt von Wollishofen nach Seebach berechnet, beträgt die Durchschnittsgeschwindigkeit an einem Freitagnachmittag 17 km/h. So schnell waren vor 100 Jahren die Pferdefuhrwerke unterwegs. |
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Susanne
Lobsiger Serge
Rüfenacht Hansueli
Stoller Bich
Jacquier Heinz
Moser, |
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