Gysi


"Wir haben riesige historische Probleme"

Der neue Berliner Wirtschaftssenator Gregor Gysi über die Tatsache, dass die deutsche Hauptstadt eine neue Philosophie braucht, und die Frage, wohin es mit der PDS gehen soll.

Mit Gregor Gysi sprachen Kordula Doerfler und Dominique Eigenmann

Herr Gysi, wie waren Ihre ersten Tage als neuer Berliner Wirtschaftssenator? Haben sie Ihnen Spass gemacht?

Das war vor allem eine riesige Umstellung und sehr anstrengend. Spass ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck, aber es ist eine neue, spannende Herausforderung. Und das reizt mich.

Haben Sie Vorbehalte gespürt gegenüber Ihrer Person?

Wenn man ganz stark damit rechnet, dann ist man plötzlich angenehm überrascht, wie relativ aufgeschlossen die Beamten und Angestellten sind. Ich glaube, dass die meisten doch willens sind, Veränderungen hinzunehmen und an der eigentlichen Aufgabe mitzuarbeiten: dem Abbau der Arbeitslosigkeit in der Stadt.

Das ist leichter gesagt als getan bei einer Arbeitslosigkeit von 16 Prozent. Sie haben selbst davon gesprochen, dass Berlin in Teilen noch immer staatssozialistisch organisiert und der Beamtenapparat stark aufgebläht ist. Wie ist denn dieser Widerspruch zu vereinbaren: einerseits im öffentlichen Dienst zu streichen und gleichzeitig nicht neue Arbeitslosigkeit zu schaffen?

Wir haben eben riesige historische Probleme. Der Westteil der Stadt hat sich anders entwickelt als die damalige Bundesrepublik, und Westberlin hatte auch eine gewisse Schaufensterfunktion. Das galt auch für den Ostteil, der war Aushängeschild für die DDR und ein Stück weit auch für den gesamten Ostblock. Westberlin war eingemauert, dahinter gabs keinen Westen, sondern nur DDR.

Die Folgen hinsichtlich der Zusammensetzung der Bevölkerung sind bis heute spürbar. Im Westberliner Bürgertum - so überhaupt vorhanden - entstand ein Insulanerbewusstsein. Das sind bis heute alles geschlossene Kreise, die zu der Metropole, zu der Berlin allmählich wird, nicht mehr recht passen wollen. Da braucht man offene Kreise, keine geschlossenen.

Das gilt für den Osten genauso.

Ja, wir haben die verschiedensten geschlossenen Kreise in der Stadt, die es zu öffnen gilt. Die PDS, die zunächst ausgegrenzt worden ist, hat ihrerseits einen geschlossenen Milieukreis gebildet.

Die Kreise sind bislang immer noch erstaunlich resistent gegen jede Öffnung.

Ja, das stimmt, und das muss sich ganz schnell ändern. Dazu kommen die strukturellen Probleme der Stadt. Das Kapital ist ja nicht besonders mutig und auch nicht besonders patriotisch, sondern es wanderte 1961 mit dem Mauerbau ab. Die Folge davon wäre eine riesige Arbeitslosigkeit gewesen, die man mittels enormer Subventionen zu verhindern versuchte. Ausserdem wurde der öffentliche Dienst ausgedehnt. Nach der deutschen Einheit hat Helmut Kohl die Subventionen viel zu schnell abgebaut, und dadurch ist das industrielle Gewerbe abgezogen. Die Kombinate im Ostteil der Stadt sind ebenfalls zusammengebrochen, sodass auch dort eine grosse Arbeitslosigkeit entstand.

Auch die Hauptstadt der DDR leistete sich einen recht üppigen Beamtenapparat.

Ja, der kam mit dem Mauerfall auch noch hinzu - und die Stadt hatte ein neues riesiges Problem. Gleichzeitig haben wir ein enormes Einnahmedefizit bei steigender Arbeitslosigkeit: Die Stadt ist nicht mehr finanzierbar.

Kurz nach dem Mauerfall war das Problem in vollem Umfang bekannt - trotzdem ist es bis heute nicht gelöst. Wie will gerade ein rot-roter Senat schmerzhafte Kürzungen in diesem Bereich vor seiner jeweiligen Klientel rechtfertigen?

Dazu braucht man eine Philosophie. Wir sind eine Metropole; wir haben eine hoch qualifizierte Bevölkerung, und zwar in beiden Teilen der Stadt. Ausserdem haben wir die Nähe zu Osteuropa, das wirtschaftlich noch interessanter wird, wenn es der EU beitritt. Wir sind die einzige europäische Stadt, die Ost und West zugleich ist. In dieser Stadt werden gleich viele west- und osteuropäische Sprachen gesprochen, und sie ist ein beachtlicher Kultur-, Wissenschafts- und Forschungsstandort, und hier können sich auch neue Dinge entwickeln. Vom Senat verlangt das: keine Einsparpolitik nach dem Prinzip Rasenmäher, sondern eine kluge, zukunftsweisende Einsparpolitik. Das ist auch die künftige Aufgabe von Wirtschaftspolitik.

Ein wahrhaft philosophisches Unterfangen.

Die eigentliche Herausforderung liegt in der Neudefinition des Selbstverständnisses dieser Stadt, und das ist auch das grösste intellektuelle Versäumnis der Grossen Koalition über zwölf Jahre hinweg. Der Sinn und Zweck einer Hauptstadt wurde nie problematisiert. Berlin wurde einfach zur Hauptstadt deklariert, und das sollte ein Wert an sich sein. Eine Frage wurde dabei aber nie diskutiert: Was kann im 21. Jahrhundert der Sinn und Zweck einer Hauptstadt in einem föderalen Staat sein?

Und wie sähe Ihre Antwort aus?

Darüber müsste man erst einmal diskutieren. Da könnte theoretisch auch dabei herauskommen: Sie hat keinen Sinn. Dann hätte man bloss einen Regierungssitz. Oder es kann herauskommen: Eine Hauptstadt hat dann Sinn, wenn von ihr für die anderen Regionen Motorfunktionen ausgehen im gesellschaftlichen, kulturellen und wissenschaftlichen Bereich. Wenn man begriffe, dass eine Hauptstadt nicht nur die gleichen Probleme hat wie andere Städte, sondern sie auch schneller hat, dann wüsste man, dass dort Lösungsansätze entwickelt werden können, die später in anderen Städten übernommen werden könnten.

Historisch betrachtet, haben die Deutschen ihre Hauptstadt nie geliebt.

Ja, das stimmt. Wir haben keine demokratische Nationenbildung als Ergebnis einer Revolution gehabt wie andere europäische Staaten, etwa England, Frankreich und selbst die Schweiz. Wir hatten nur eine gescheiterte, und dann ist von Bismarck die Nation von oben gegründet worden mit der Folge reaktionärer und aggressiver Tendenzen. Die Kleinstaaterei blieb im Bewusstsein der Menschen erhalten und war stärker als das nationalstaatliche Denken - und die Hauptstadt Berlin wurde nie ausreichend akzeptiert.

Und das liesse sich nun, nach 130 Jahren, einfach ändern?

Von einfach redet ja niemand. Wir stehen vor einer enormen intellektuellen Aufgabe: Wir müssen die Menschen in München, Hamburg und Köln davon überzeugen, dass auch sie etwas von einer funktionierenden Hauptstadt haben. Alle reden immer von Hauptstadtkultur, ich spreche aber von einer Kulturhauptstadt, die ausstrahlt auf andere Städte. Erst dann wird auch die Bereitschaft entstehen, die Hauptstadt finanziell zu unterstützen - und ohne diese Unterstützung wird es nicht gehen.

Sie sind aber nun nicht Kultursenator geworden, sondern haben sich für die Wirtschaft entschieden. Sind Sie als Wirtschaftspolitiker eher ein Modernist oder ein Sozialist?

Wissen Sie, das ist für mich ganz schwer zu definieren. Wenn ich als Wirtschaftssenator will, dass Investoren nach Berlin kommen, dann muss ich auch akzeptieren, dass sie das nur tun, wenn es sich für sie rechnet. Das heisst, ich muss auch wollen, dass sie Profit machen. Aber ich werde immer Wert darauf legen, dass auch möglichst viele Arbeitsplätze entstehen und dass sie auch dementsprechend entlohnt werden. Da kommt dann der Sozialist in mir zum Vorschein. Ich bin mir schon im Klaren, dass ich Wirtschaftssenator in einer kapitalistischen Metropole bin.

Wird Ihnen nicht manchmal angst und bange vor dem, was Sie jetzt vor sich haben? Ein zweistelliges Milliardendefizit, das jeden Tag grösser wird, hohe Arbeitslosigkeit, eine zahlungsunwillige Bundesregierung?

Na, aber sicher. Mir ist ständig angst und bange.

Wovor genau?

Die Herausforderungen sind so gross. Und die Mittel sind so begrenzt. Trotzdem bin ich kein ängstlicher Mensch, und ein gewisser Spielraum ist doch da.

Ist Ihnen nicht auch angst und bange, weil Sie an zwei Orten mit Widerstand zu rechnen haben: einmal von denen, die keinen PDS-Senator haben wollen, zum Zweiten aber auch von der Basis in Ihrer Partei, wenn Sie anfangen zu sparen und das die eigene Klientel trifft?

Das kann passieren. Aber diese Auseinandersetzung fürchte ich nicht. Wovor ich eher Angst habe, ist das Folgende: Es könnte sein, dass ein Problem unlösbar scheint - in Wirklichkeit gibt es aber eine Lösung, und ich komme nur nicht darauf. Was die Basis in der PDS angeht: Mit der sehe ich weniger Probleme, denn sie kennt die Lage.

Bedeutet die rot-rote Koalition in Berlin einen Quantensprung für die PDS, was ihr bundesweites Profil angeht?

Ein Teil derjenigen, die die PDS nicht mögen, geht davon aus, dass es ein Quantensprung ist. Deren Theorie ist: Die Sozialdemokratie macht die PDS salonfähig. Die andere Fraktion denkt genau das Gegenteil: Jetzt entzaubern wir die endlich mal, indem sie Regierungsverantwortung übernehmen müssen.

Und was glauben Sie selbst?

Ich bin da eher skeptisch. Natürlich ist es eine neue Qualität: Berlin ist die deutsche Hauptstadt, das ist etwas anderes als eine rot-rote Koalition in Mecklenburg-Vorpommern. Und sicher kann die Regierungsbeteiligung hier dazu führen, dass Berührungsängste mit der PDS abgebaut werden. Allerdings ist das kein Automatismus - auch dazu muss man wieder in die deutsche Geschichte schauen. Berlin war eben immer ein Sonderfall, und das könnte im Bewusstsein vieler so bleiben.

Ihr Ziel war es, die PDS als Partei links der SPD bundesweit zu positionieren und auch koalitionsfähig zu machen.

Das ist es immer noch! Eine Partei des demokratischen Sozialismus kann sich gesellschaftspolitisch nur einbringen, wenn sie sich nicht selbst als Regionalpartei versteht.

Derzeit ist sie aber doch eine Regionalpartei oder vielmehr eine regionale Milieuvertretung!

Diese Funktion ist derzeit noch ganz wichtig, für die Zukunft reicht das aber nicht aus. Deswegen muss weiter unser Ziel sein, die PDS im Westen zu verankern, aber da gibt es natürlich grosse Probleme. Die Landesverbände in den alten Bundesländern sind nicht von unten gewachsen wie andere linke Bewegungen. Wir stehen vor dem Problem, im Osten eine Volkspartei, im Westen aber eine Einprozentpartei zu sein.

Wo wäre denn dann Platz für die PDS?

Es braucht eine Kraft links der Sozialdemokratie. Dächte die SPD nicht nur wahlarithmetisch, würde sie begreifen, dass das auch ein Vorzug für sie wäre. Sie könnte nämlich dann ihr Profil neu bestimmen. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern war es bei der deutschen Sozialdemokratie nach dem Krieg so, dass sie Stimmen immer nur von rechts holen konnte. Gäbe es aber eine Partei links von ihr, könnte sie ihr sozialdemokratisches Profil wieder stärken.

Wo läge das programmatische Profil der PDS?

Die Themen liegen doch auf der Hand: Globalisierung, weltweite Konflikte, Neoliberalismus . . .

Alles Themen, die auch von den Grünen bedient werden . . .

(lacht) . . . aber ich bitte Sie. Ich glaube an den Mythos der Grünen schon lange nicht mehr. Das ist eine ökologisch orientierte Partei, die sich Schritt für Schritt dem Neoliberalismus annähert und das Ziel hat, die FDP zu ersetzen.

Ein weiteres Feld wäre eine sozialistische Aussenpolitik. Dort können Sie Positionen vertreten, die keine andere Partei aufgreift - etwa im Krieg gegen den Terror.

Lassen Sie mich eines noch einmal klarstellen: Es gibt keine sozialistische Regierungspolitik in einer Gesellschaft, in der die Kapitalverwertungsinteressen dominieren.

Was ist also Ihre Option unter den bestehenden Verhältnissen?

Es gibt lediglich die Möglichkeit, eine etwas friedenspolitischere oder ökologischere Politik zu betreiben. Schluss. Deshalb stellt sich für uns auch nur die Frage, wie könnte eine linke Aussenpolitik aussehen? Schiebt sich der Staat so in den Vordergrund, dass er auch militärisch wieder ein akzeptierter Partner für die Grossmächte wird? Oder nutzt er seine politische und militärische Stärke, um vor allem friedenssichernd aufzutreten? Die jetzige Bundesregierung und auch Aussenminister Fischer vertreten bedauerlicherweise die Position: Wenn wir jetzt nicht in der ersten Reihe stehen, werden wir weltpolitisch nicht ernst genommen.

Das wollen Sie nicht?

Ich muss nicht in der ersten Reihe stehen, denn ich kann die Welt sowieso nicht verändern. Das heisst natürlich nicht, sich aus allem herauszuhalten. Aber ich weigere mich, der Logik zu folgen, mit Krieg Konflikte zu lösen.

Hiesse das nicht für ein so grosses Land wie Deutschland, sich als neutraler Staat zu definieren?

Das weiss ich nicht. Nehmen Sie zum Beispiel Frankreich, das eine sehr eigenständige Aussenpolitik betreibt: Mal steht es in der ersten, mal in der zweiten Reihe. Die Frage ist doch: Muss ich eigentlich in der ersten Reihe stehen? Diese Frage beantworten in Deutschland derzeit alle Parteien gleich - bis auf die PDS.

Was kann die PDS dazu beitragen - gerade vor dem Hintergrund der rot-roten Koalition in Berlin -, die innere Einheit Deutschlands herzustellen?

Sie kann und sie muss und sie wird dazu etwas beitragen. Das Modell, ohne oder gegen die PDS die innere Einheit herzustellen, ist gescheitert. Wir können nun die Ostberliner Interessen in einer Regierung vertreten und zugleich bei den Westberlinern Befürchtungen abbauen. Das hätte dann auch langfristig bundespolitische Folgen, zumindest als Signal.

Wird die PDS nicht in dem Masse überflüssig, in dem die innere Einheit vollzogen ist?

Tja, das haben ja immer alle prognostiziert und ist eine Lieblingsthese unserer politischen Gegner. Bewahrheitet hat sich das nicht.

Aber doch gerade, weil die Einheit nicht hergestellt worden ist.

Die PDS wird aber ständig stärker und die Einheit doch nicht weniger. Wir werden über Jahrzehnte hinweg strukturelle Probleme zwischen Ost und West haben. Aber das wird eben auch davon abhängen, ob sich die PDS auf Dauer links von der Sozialdemokratie etablieren kann.

Wie sieht Deutschland in zehn Jahren aus?

Das ist sehr schwer zu sagen und hängt stark von internationalen Entwicklungen ab. Sicher wird die PDS bis dahin bundesweit die Fünfprozenthürde genommen haben. 2012 stellt sich die spannende Frage: Ziehen wir in den bayerischen Landtag ein (lacht)?

ZUR PERSON

Gregor Gysi

Gregor Gysi ist seit Januar Senator für Wirtschaft, Frauen und Arbeit in der ersten rot-roten Koalition in Berlin. Der 54-jährige Jurist kommt aus einer kommunistischen Familie und wuchs in Berlin auf. Sein Vater Klaus Gysi war Kulturminister und Staatssekretär für Kirchenfragen in der DDR. Gregor Gysi, seit den Sechzigerjahren SED-Mitglied und gelernter Rinderzüchter, verteidigte als Anwalt Regimegegner wie Rudolf Bahro, Bärbel Bohley und Robert Havemann. Nach der Wende in der DDR verhinderte Gysi die Selbstauflösung der SED und wurde Vorsitzender ihrer Nachfolgeorganisation Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS). 1992 geriet er in den Verdacht, für die Stasi gearbeitet zu haben, wehrte sich jedoch bislang gerichtlich erfolgreich gegen alle Vorwürfe. Bis Oktober 2000 war Gysi PDS-Fraktionsvorsitzender im Bundestag und bemühte sich darum, sie als neue Linkspartei koalitionsfähig zu machen. Bei den letzten Berliner Wahlen im Oktober kandidierte er - chancenlos - für das Amt des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, konnte aber die PDS mit 22,6 Prozent zur drittstärksten Kraft profilieren. In Ostberlin erhielt sie sogar 47,6 Prozent. Gysi ist in zweiter Ehe verheiratet und Vater von drei Kindern. (kd)

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