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Generation Kartoffelsack

Kinderspielplätze wollen konzipiert sein.


Generation Kartoffelsack - FACTS 44/2002, 31.10.02


Die körperliche Leistungsfähigkeit von Kindern ist in den letzten 30 Jahren um bis zu 20 Prozent gesunken. Spätere Herzinfarkte und Rückenleiden sind programmiert.

Von Sabine Olff

Montagnachmittag, 14 Uhr, ein Blick in die Turnhalle Nummer vier an der Kantonsschule Luzern lässt erahnen, wie es um die Beweglichkeit der Schweizer Schüler steht: 23 Siebtklässler versuchen jeweils mit zwei Mann starker Unterstützung in den Handstand zu schwingen. Viele der Jungs kommen erst gar nicht hoch. Jene 13-Jährigen, die es schaffen, können die Last des eigenen Körpers nur kurze Zeit stützen. Sie knicken in den Armen ein. Die Helfer sind gefordert, und Lehrer Joachim Laumann ist frustriert. «Vor 15 Jahren haben alle bis auf zwei, drei Schüler aus einer Klasse den Handstand beherrscht», sagt Laumann, Präsident des Schweizerischen Verbandes für Sport in der Schule. Heute sei es genau umgekehrt.

In Turnhallen, auf Sportplätzen und in Hallenbädern müht sich die Generation Kartoffelsack. Nachprüfbare Daten stützen den subjektiven Eindruck der Sportlehrer. Beispielsweise stellte der Karlsruher Sportwissenschaftler Klaus Bös in einer Studie fest, dass zehnjährige Jungen 1976 in sechs Minuten 1024 Meter zurücklegten, während es 1996 nur noch 876 Meter waren. Die Leistungsfähigkeit der Kinder sei teilweise um 10 bis 20 Prozent schlechter geworden. «Die Kinder haben schon Prob-leme mit den simpelsten Grundfertigkeiten, wie Laufen, Werfen, Springen und Klettern», sagt Bös. Die schwindende Beweglichkeit der jungen Generation zeigt auch eine Münchner Studie. Jungen und Mädchen im Alter von 11 bis 14 Jahren mussten 1986, 1995 und 2001 Bälle prellen, Rumpfbeugen machen, auf Ziele werfen, aus dem Stand hochspringen, sich im Hang halten und Stufensteigen. Das Ergebnis: Die Durchschnittsleistungen von 1986 erreichten 15 Jahre später nur noch ein Viertel aller Schüler. Und das Leistungsspektrum klaffte weit auseinander. So gab es 2001 immer mehr bessere Schüler und gleichzeitig eine grössere Anzahl von Kindern, die schlecht abschnitten. «Die Schere wird immer grösser», bestätigt Theo Rohrer, der seit mehr als 22 Jahren den Sportunterricht in Basel-Stadt inspiziert, den deutschen Trend für die Schweiz. Die motorischen Defizite bringen die Primarschüler oftmals bereits bei der Einschulung mit. So wurden an der Uni Osnabrück mit einem Motoriktest Vier- bis Sechsjährige auf Fähigkeiten wie Gleichgewicht, Koordination, Raumorientierung und Geschicklichkeit untersucht. Die Testergebnisse fallen heute um etwa zehn Prozent schlechter aus als vor 15 Jahren.

Nach den Gründen für den ungelenken Nachwuchs muss nicht lange gesucht werden. «Wir gewöhnen unseren Kindern die Bewegung ab», sagt Klaus Bös. Das fängt bereits im Säuglingsalter an. So verbringen etwa viele Babys einen grossen Teil ihrer wachen Zeit in Sitzschalen. Besorgte und ängstliche Eltern, sagt Bös, nehmen ihrem Nachwuchs viele Aktivitäten in dem Glauben ab, dass es gut für sie sei. Doch gerade Kleinkinder wollen sich allein anziehen, ohne fremde Hilfe gehen oder auf Mauern klettern. Die Eltern sind im Alltag oftmals schlechte Vorbilder. Anstatt zu laufen, setzen sie sich für kurze Strecken ins Auto und warten im Warenhaus lieber auf den Lift, als die Treppe zu nehmen. Nicht zuletzt ist nach Meinung von Bös «die Indoorwelt attraktiver geworden als die Outdoorwelt.» Fernsehen und Computer seien die Bewegungskiller Nummer eins. Schüler verbringen nach seinen Erfahrungen im Schnitt neun Stunden pro Tag im Sitzen.

Die gesundheitlichen Folgen der Passivität lassen nicht auf sich warten. So sind in der Schweiz bereits mehr als 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen zu dick ­ Tendenz steigend. Die speckigen Kinder haben oft Blutdruckprobleme und erhöhte Blutfettwerte ­ und damit später ein gesteigertes Infarktrisiko. Selbst Jugendliche, die an Diabetes Typ 2 (Altersdiabetes) erkranken, sind heute keine Exoten mehr. Die schlechte Körperbeherrschung erhöht ausserdem das Unfallrisiko und fördert Gelenk- und Skelettveränderungen. So klagen immer mehr Jugendliche über Rückenschmerzen, und beim schulärztlichen Dienst in Zürich fällt bereits jedes achte Kind wegen Haltungsproblemen auf. Die Zivilisationskrankheiten haben Einzug ins Kinderzimmer gehalten.

Gerade für dicke Kinder beginnt meist ein Teufelskreis: Mit der Angst vor dem Misserfolg bewegen sich die Kinder oft noch weniger ­ die körperlichen Probleme werden immer grösser. Für Lukas Zahner vom Institut für Sport und Sportwissenschaften an der Uni Basel ist deshalb das Ende der Fahnenstange nicht abzusehen: Die passive Kindheit hätte eine «erschreckende Liste von Zukunftsproblemen zur Folge». Deswegen erarbeitet er zusammen mit der Stiftung für Schadensbekämpfung der Winterthur Versicherung und anderen Einrichtungen zurzeit eine Kampagne, die auf das Problem der jungen Stubenhocker aufmerksam machen soll.

Das Projekt «Bewegen ­ Koordinieren ­ Kraft trainieren» soll unter anderem konkrete Möglichkeiten zur Intervention für Eltern, Lehrer, Kindergärtnerinnen und Kinderärzte bieten. Dass Intervention not tut und etwas bringt, belegen immer mehr Untersuchungen. So konnten deutsche Kindergartenkinder ihr Unfallrisiko durch zusätzliche Bewegung halbieren. Täglich verbrachten sie zwei Monate lang zusätzlich 15 Minuten mit Hüpfspielen, die den Gleichgewichtssinn schulen. Auch die Konsequenzen von einer täglichen Schulstunde Sport sind verblüffend: An einer deutschen Primarschule beobachtete Sportwissenschaftler Klaus Bös bereits in den Neunzigerjahren, dass die Kinder dadurch nicht nur fitter wurden. Auch die Leistungen in den übrigen Fächern verbesserten sich, und die Kinder waren nicht mehr so aggressiv.

Auch deswegen machen sich Lehrer Laumann und Turninspektor Rohrer schon seit Jahren für die tägliche Bewegungszeit an Schweizer Schulen stark. Doch momentan hapert es selbst noch bei der Umsetzung des so genannten Drei-Stunden-Obligatoriums pro Woche, das eigentlich in allen Kantonen gelten sollte. «Vor allem die Westschweizer halten sich nicht daran», sagt Laumann. Anscheinend hat das Konsequenzen: Wie eine Untersuchung zeigt, bewegen sich gerade die jungen Westschweizer nach der Schulzeit am wenigsten.

 

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Kinderspielplätze wollen konzipiert sein. Pro Juventute berät Betreiber bei der Planung.


Pflegeleicht, sicher und elternfreundlich sind die meisten öffentlichen Kinderspielplätze in der Schweiz. Für die Kinder sind die Anlagen jedoch oftmals langweilig. Sie bieten nicht genügend Raum zum Toben und nur wenig Herausforderung zum Balancieren, Klettern und Hangeln. Doch gerade gut gestaltete Spielbereiche könnten bereits die Motorik der Jüngsten schulen. Die schweizerische Stiftung Pro Juventute berät Schulgemeinden, Architekten, Elternvereine und Kindergärten, die spannende, naturnahe und kindgerechte Spielbereiche schaffen wollen. Die Kinder werden einbezogen bei der Planung. Kein Platz gleicht deshalb dem anderen. Einige Grundsätze gibt es aber schon: Um den Gleichgewichtssinn zu schulen, finden sich auf «idealen Spielplätzen» verschiedene Bodenbeläge ­ wie Steine, Sand, Erde oder Rasen. Baumstämme animieren zum Balancieren. Klettersteine we-cken den Entdeckersinn. Hügel, Felswände, Höhlen, Nischen und Mauern wollen erobert sein.


Schaukel, Wippe und Karussell gehören ebenfalls auf jeden Spielplatz, der die Motorik der Kinder fördert. Die Geräte werden so aufgestellt, dass genügend Raum für die Bewegungen bleibt. Ausserdem sollen möglichst viele Altersstufen angesprochen werden. Denn ein tolles Kunststück eines Älteren animiert die Jüngeren zum Nachahmen. Wenn Kinder toben, wird es meist richtig laut. Deshalb gehören die Spielräume nur in eine lärmtolerante Umgebung.


 
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