DDR

Die ostdeutsche Furcht vor der Freiheit

Die ehemaligen DDR-Bürger haben nie gelernt, ein starkes Ich auszubilden. Das ist ein Grund, warum sie heute PDS wählen, glaubt der frühere Bürgerrechtler Joachim Gauck.

Mit Joachim Gauck sprach Kordula Doerfler

Nach den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus und dem sehr starken Abschneiden der PDS herrscht in Berlin Ratlosigkeit. Zwar ist die SPD stärkste Partei, doch Berlin ist noch immer eine politisch geteilte Stadt, denn im Osten hat die PDS nun fast die absolute Mehrheit. Hat Sie das gute Ergebnis der PDS überrascht?

Dass sie stark abschneiden würde, war mir vorher klar und hat mich auch nicht sonderlich verwundert. Es ist aber zu meinem grossen Missvergnügen, um das ganz deutlich zu sagen. Ich hätte lieber einen Prozess des Abschwungs der PDS gesehen.

Wie erklären Sie sich, dass jeder zweite Ostberliner die PDS gewählt hat und die Partei damit stärker ist als je zuvor?

Wichtig ist hier natürlich der Spitzenkandidat der Partei, Gregor Gysi, der so gar nicht aus dem Bauch der Partei kommt. Er ist unterhaltsam und schlagfertig, das lieben die Berliner, und er lehrt die anderen Parteien das Fürchten.

Der so genannte Gysi-Faktor allein reicht aber nicht aus als Erklärung für das Erdbeben in Berlin.

Ich beschäftige mich schon seit längerer Zeit mit der Bedeutung der Mentalität für politische Entscheidungen und auch der politischen Kultur ganzer Bevölkerungsgruppen. Angefangen habe ich damit, weil es mich schmerzte, die Nostalgie meiner ostdeutschen Landsleute zu erleben. Um mich nicht völlig von ihnen zu distanzieren, habe ich nach Erklärungsmustern gesucht. Denn es gibt kaum rationale politische Gründe für die Nostalgie.

Was wären denn die Erklärungsmuster?

Wenn eine repressive Gesellschaft über zwei Generationen hinweg existiert - die übrigens auf einer weiteren repressiven Gesellschaft aufgebaut wurde - dann entstehen natürlich neue Funktionseliten, es entsteht eine neue Klasse: Grossbürokratien wie Partei-, Staats- und Militärapparat mit den daran gehängten Familien und den entsprechenden Aufstiegschancen. Das heisst, es gibt Menschen, die zu dieser Elite gehörten und denen der Systemwechsel nicht passt, selbst wenn sie heute besser verdienen als früher.

Nun liegt dieser Systemwechsel aber mittlerweile elf Jahre zurück, und viele haben ihn damals ja auch gewollt.

Ja, das stimmt - aber damit kommen wir zur zentralen Frage der Mentalität. Lassen Sie mich historisch ein wenig ausholen. Bei der Betrachtung der Nachkriegszeit in Westdeutschland habe ich gelernt, dass die Bindung unserer Mentalität an eine Lebenswelt, die vergangen ist, weitaus haltbarer ist als intellektuelle Einsichten oder ideologische Überzeugungen. Das passiert auch jetzt wieder. Im Kopf herrscht da schon eine gewisse Ratio. Man kann einsehen, dass sich die DDR überlebt hatte. Aber nach Systembrüchen dauert es sehr lange, bis Haltungen, die ein Leben lang eingeübt wurden, sich ändern. Auch in der Bundesrepublik hat es sehr lange gedauert, bis sich eine rückwärts gewandte Mentalität gewandelt hat - und dort hat die nationalsozialistische Diktatur nur zwölf Jahre gedauert. Erst nach etwa weiteren sechs Jahren beginnt die emotionale Bindung an das Alte nachzulassen. Dann fängt auch das Wirtschaftswunder an zu greifen. Und dann schmeckt die Demokratie. Es gibt neue Autos und neue Glücksversprechen, eine innere Bindung an die Demokratie entsteht.

Und schmeckt den ehemaligen DDR-Bürgern jetzt die Demokratie?

Wir hatten zwölf Jahre Diktatur wie die Westdeutschen und dann noch einmal 44 Jahre mit einem deutlich vormodernen Stil der Politik: Knie nieder, und du wirst erhöht werden. So ist das Muster der Diktatur. Partizipation? Ja, aber nur für unsere Leute. Emanzipation? Ja, aber nur in einem Rahmen, den wir abstecken. Die Autonomie des Ich, oder was man im Westen als wirkliches Emanzipationsangebot versteht, das alles existiert nicht, ebenso wenig wie das Prinzip der Gewaltenteilung. Das fängt im Kindergarten an und geht in der Schule weiter: nie einen Klassensprecher wählen, aber einen FDJ-Sekretär. Dasselbe in der Gewerkschaft: nie die eigenen Interessen vertreten, sondern die des Staates. Diese perpetuierte Ohnmacht prägt den Charakter einer Nation.

Was Sie beschreiben, ist die massenhafte Ausbildung von durch und durch entmündigten Bürgern.

Ja, was dabei entsteht, sind im Grunde zwei Arten von Schwächung des Citoyens, den die politische Moderne hervorgebracht hat. Einmal wird die Autonomie des Ich massiv eingeschränkt. Zum anderen wird die Fähigkeit zur Selbstbestimmung in Gruppen und damit zur Partizipation nicht entwickelt. So gewöhnt sich der Bürger daran, ein Nicht-Bürger zu sein oder bestenfalls ein Staatsbürger. Er gehört dem Staatsverband an, aber mehr auch nicht. Er darf an den Akten teilnehmen, die diese Leute Wahlen nennen, er darf bei Bedarf auch in den Krieg ziehen, er darf und muss arbeiten. Ins Leben gerufen wird damit ein uraltes Modell, das Untertanenmodell.

Und Sie glauben, dass auch dieses Denken dazu beiträgt, dass die PDS in Ostdeutschland weiterhin so stark ist?

Ja, natürlich. Alles, was die Zivilgesellschaft ausmacht, wird zunächst einmal höchst skeptisch betrachtet nach dem Motto: "Ach, das soll funktionieren? Nein, das glaube ich nicht. Es ist viel zu mangelhaft, das entspricht doch nicht unseren Idealen."

Nur mit diesem Typus Staatsbürger aber hätte die Mauer im November 1989 nicht fallen können.

Natürlich gibt es auch die engagierten Minderheiten, die für 1989 verantwortlich waren, und die, die heute in der Gemeinde aktiv sind und etwas bewegen wollen. Oder nehmen Sie junge Leute, die zum Teil im Westen studiert haben oder ein Unternehmen anfangen wollen. Aber manchmal ist es schon so, als ob Ihnen zwei Völkerschaften begegnen im Osten. Ich kenne kaum eine Gesellschaft, die mentalitätsmässig so gespalten ist wie die frühere DDR.

Aber gilt diese Analyse nicht für alle Gesellschaften, die sich nach einer Diktatur transformieren? Beispiel Südafrika: Die dortige Gesellschaft ist auch zehn Jahre nach dem Sturz des weissen Regimes zutiefst gespalten, tiefer als die ostdeutsche und die deutsche. Und dort ist die Spaltung auch noch über die Hautfarbe zementiert.

Ja, das stimmt, und die Tradition ist dort noch ungebrochener. Wir hatten in Deutschland immerhin mal ein kurzes Zwischenspiel, die Weimarer Republik. Nur: Man muss im Osten schon sehr alt sein, um diese einzige deutsche Republik kennen gelernt zu haben. Natürlich haben wir eine gemeinsame Kultur. Wir sprechen alle deutsch, wir haben gemeinsame Vorzüge und Nachteile, ob das nun Skat oder Fussball ist oder eine Neigung zum Nörgeln. Aber im Westen wurde eben 40 Jahre lang gelernt, ein Ich zu sein. Und das ist ein grosser politischer und kultureller Unterschied.

Mit anderen Worten: Es dauert mindestens eine Generation, bis sich Haltungen ändern.

Wenn man optimistisch ist, dauert dieser Wandel etwa so lange, wie die Prägung gedauert hat. Es gibt in der Lerntheorie einen interessanten Ansatz, der besagt, man müsse nicht nur neue Inhalte erlernen, sondern auch untaugliche ver-lernen. Aber das sagt sich so einfach! Der Deutsche neigt sowieso dem Gehorsam zu, und das ist eine Tradition, die historisch sehr weit zurückreicht. Selbst nach 50 Jahren Demokratie gibt es ja im Westen immer noch Inseln, wo man einen autoritären oder paternalistischen Politiker ganz gerne hat. Im Osten aber wurden nie zivilrechtliche Normen und Fähigkeiten erlernt.

Was Sie beschreiben, trifft doch hauptsächlich auf ältere Leute im Osten zu, diejenigen, die in der DDR gross geworden sind und sie mitgeprägt haben. Nun versteht es die PDS aber auch ganz offensichtlich, junge Leute anzusprechen. Immerhin ist die Partei in Berlin bei Jungwählern die beliebteste Option.

Der oben skizzierte Erklärungsansatz beschreibt eine Gruppe von Wählern jeder Altersstufe, die nicht ideologisch wählen. Sie wählen einfach ein Milieu, das ihnen vertraut ist und entscheiden sich gegen Parteien, die ihnen eher fremd sind. Mit Rot oder Schwarz hat das nichts zu tun, auch nicht mit Sozialismus. Dieses Element der Furcht vor dem Fremden können wir politisch und psychologisch auch so übersetzen: Es ist die Furcht vor der Freiheit. Dazu kommt der Frust über eine fremde, die westliche Kultur, die einem übergestülpt worden ist, mit völlig neuen Werten. Das gilt übrigens auch für viele Intellektuelle. Das wird als Überfremdung erlebt und geht oft einher auch mit Angst. Und Angst wiederum ist eine Fähigkeit, die in der Diktatur gut eingeübt worden ist. Jetzt ist sie umgeschlagen in Angst vor der offenen Gesellschaft, wo man auch verlieren kann. Dazu kommt Angst vor Arbeitslosigkeit, vor der Macht des Kapitals etc. Die PDS bietet sich an, dieses Protestpotenzial an sich zu binden. Aber natürlich gibt es unter den PDS-Wählern auch eine kleine Gruppe von Jungen, die aus politischen Gründen wählten. Sie wollen eine linke Alternative.

Kommen wir auf Berlin zurück: Dieses Protestpotenzial ist im Osten in nicht zu übersehendem Ausmass vorhanden, und das macht die Situation recht kompliziert.

Die SPD stand in der Tat vor einem Dilemma, und ich bin ein entschiedener Gegner der PDS. Ich halte sie für eine Partei, die verzichtbar ist, und sie wird irgendwann verschwinden. Eigentlich wäre ich gegen eine Regierungsbeteiligung, denn ich finde das geschmacklos. Andererseits, wenn man nach diesem starken Abschneiden aus bundespolitischen Gründen entscheidet, dann schafft man sich ein Problem.

Bei der nächsten Wahl käme die PDS dann vielleicht auf 65 Prozent im Ostteil Berlins.

Das glaube ich nicht, denn bis dahin werden hoffentlich ein paar Leute mehr begriffen haben, dass die PDS noch zu stark geprägt ist von einem überholten Politikmodell. Aber natürlich würde das ohnehin bereits starke Gefühl der Minderwertigkeit unter den Ostdeutschen gefördert werden. Vielleicht ist es also politisch klüger, die PDS doch zu integrieren. Auf bundespolitischer Ebene sieht das ganz anders aus. Der jetzige Kanzler Gerhard Schröder hat sich da bereits festgelegt und will die politische Mitte ansprechen. Wenn er es ernst meint mit seinem Vorhaben, der Union die Mitte abspenstig zu machen, dann stünde eine rot-rote Koalition in Berlin diesem Vorhaben entgegen. Aber es ist in der Tat eine sehr, sehr schwierige Entscheidung.

Das ist aber sehr vom Westen aus gedacht, von der alten Bundesrepublik aus. Denn im Osten gibt es diese bürgerliche Mitte nicht.

Das ist in der Tat das Problem. Sehen Sie, ich bin zum ersten Mal nicht mehr sicher, was der richtige Weg ist, Integration oder Konfrontation. Und ich war bisher immer sicher!


ZUR PERSON

Joachim Gauck

Zehn Jahre lang stand er einer Behörde vor, die man heute nur unter seinem Namen kennt: Joachim Gauck, Pfarrer aus Mecklenburg, war bis Oktober vergangenen Jahres Herr über die Akten der ehemaligen Staatssicherheit (Stasi) der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Der 1940 als Sohn eines Kapitäns in Rostock geborene Ostdeutsche studierte Theologie und gehörte 1989 zu den Mitbegründern der Bürgerbewegung Neues Forum. Nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten wurde er zum "Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik". Die so genannte Gauck-Behörde trug entscheidend zur Aufarbeitung der jüngsten deutschen Vergangenheit bei. Gauck moderiert derzeit eine Talkshow in einem Regionalsender des Ersten Deutschen Fernsehens. (kd)


Ärger mit den Genossen

Seit dem Zusammenbruch der DDR Ende 1989 ringen die deutschen Sozialdemokraten und die Nachfolgepartei der DDR-Staatspartei SED um das richtige Verhältnis zueinander. Die Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus vor zehn Tagen bescherten der SPD erneut schlaflose Nächte. Zwar wurde die SPD stärkste Partei, doch Gregor Gysi lehrte die biederen Spree-Sozis erneut das Fürchten. In der ehemaligen "Hauptstadt der DDR" konnte die Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) mit 47,6 Prozent der Stimmen fast eine absolute Mehrheit erringen. Jeder zweite Ostberliner Wahlberechtigte stimmte für die PDS und ihren populären Spitzenkandidaten. Berlinweit kam die PDS auf 22,6 Prozent und liegt damit hinter der SPD (29,7) und der CDU (23,7) nur knapp auf Platz 3. Die Wahl zeigt zudem, wie stark sich die PDS als Interessenvertretung der Ostdeutschen profilieren konnte - gerade in Berlin, wo die alte DDR-Nomenklatura lebt.

Erfolg auch in Westberlin

Doch auch im Westteil der Stadt konnte die PDS erstmals mit 6,9 Prozent einen nennenswerten Erfolg erzielen. Von solchen Werten konnten die Liberalen jahrelang nur träumen. Insgesamt profitierte die PDS nur von enttäuschten früheren CDU-Wählern, sondern stieg bei Erstwählern sogar zur beliebtesten Partei auf.

Auch ein Blick auf die politische Landkarte des wieder vereinten Deutschlands ergibt eine gespaltene Gesellschaft. In den neuen Bundesländern, auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, konnte die PDS bei Landtagswahlen fast überall 20 Prozent einfahren. In Sachsen-Anhalt lässt sich seit 1994 eine Minderheitsregierung von SPD und Grünen von der PDS tolerieren, in Mecklenburg-Vorpommern regiert seit 1998 die erste rot-rote Koalition in Deutschland. Bei der letzten Bundestagswahl vor zwei Jahren kam die Partei allerdings wegen ihres schlechten Abschneidens im Westen nur auf 5,1 Prozent. Damit das so bleibt, hat Bundeskanzler Gerhard Schröder massiven Druck auf die Berliner SPD ausgeübt (siehe Seite 3) und verhindert, dass sie mit den verhassten Sozialisten koaliert. (kd)

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31.10.2001  13 : 30 Uhr
CDU überdenkt Position zu PDS neu

Frankfurt/Main - Die Diskussion um die künftige politische Rolle der PDS hält an, auch nach der definitiven Entscheidung der Berliner SPD für eine Ampelkoalition ( kurier.at berichtete ). Die PDS-Vorsitzende Gabi Zimmer sprach in der "Mitteldeutschen Zeitung" von einer Ausgrenzung, für die Bundeskanzler Gerhard Schröder bei der nächsten Bundestagswahl in Ostdeutschland die Quittung erhalten werde.
Unzureichende Gegner
Führende CDU-Politiker sprechen sich für einen sachlicheren Umgang ihrer Partei mit der PDS aus. Der stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion, Günter Nooke: "Draufhauen reicht nicht." "Statt theoretischer Oberseminare in Antikommunismus" sollten sich die Politiker der spezifischen Sorgen der Menschen im Ostteil der Stadt annehmen. Die PDS-Wahlerfolge kommentierte Nooke mit den Worten: "Die anderen Parteien sind nicht gut genug."
Null Chance für Ampel
Der CDU-Politiker Heiner Geißler nannte im Deutschlandfunk eine Koalition von SPD und PDS auf Dauer unausweichlich. In Berlin erwarte er ein rot-rotes Bündnis nach der nächsten Bundestagswahl, denn die angekündigte Ampelkoalition der Sozialdemokraten mit FDP und Grünen habe auf Grund ihrer inneren Widersprüche "null Chance". Der CDU riet Geißler, bald auf Landesebene eine Koalition mit den Grünen einzugehen. Auf Dauer könne aber auch ein Zusammengehen mit der PDS kein Tabu sein.
Taktische Manöver
PDS-Vorsitzende Zimmer zeigte sich misstrauisch zu dem aus der CDU angekündigten Kurswechsel beim Umgang mit ihrer Partei. In dem Zeitungsinterview sprach sie von "taktischen Manövern". Wenn die Forderungen ernst gemeint wären, müsste die CDU in den von ihr geführten Bundesländern erst einmal die Beobachtung der PDS durch den Verfassungsschutz einstellen, sagte sie.

apa/ap/aho

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